Afghanistan braucht starke Frauen!

Herausgeberkolumne
Nach dem Sturz der Taliban-Regierung vor 20 Jahren haben sich die Lebensbedingungen in Afghanistan merklich verbessert. Jetzt geht es darum, möglichst viele Errungenschaften zu bewahren.

Als die Taliban 1996 die Herrschaft über weite Teile Afghanistans übernahmen, war Zarifa Ghafari vier Jahre alt. Ohne das Eingreifen der Nationalen Islamischen Vereinigten Front, bekannt als Nordallianz, aber auch US-amerikanischer und britischer Spezialeinheiten, wäre die heute 29-Jährige wahrscheinlich ohne Ausbildung und Beruf. Als Mädchen hätte sie nie eine Schule, geschweige denn eine Universität von innen gesehen. Und hätte ihr jemand gesagt, dass auch in Afghanistan Frauen Rechte haben – sie hätte wohl laut gelacht.

Der Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 entfachte eine Aufbruchsstimmung, in deren Folge sich Bildungschancen und allgemeine Lebensbedingungen spürbar verbesserten. Schulen und Universitäten öffneten sich für beide Geschlechter. Unter den Taliban gingen weniger als eine Million Kinder zur Grundschule, 2020 waren es 9,5 Millionen, davon 61 Prozent Jungen und 39 Prozent Mädchen. Die Lebenserwartung stieg von 56 Jahren im Jahr 2000 auf 65 Jahre 2019, das Pro-Kopf-Einkommen laut UNDP-Bericht von 904 auf 2229 Dollar. Vor allem in großen Städten fingen Frauen an zu arbeiten, setzten sich öffentlich für ihre Rechte ein und übernahmen zuweilen sogar politische Funktionen. 

Hoffnungsträgerin einer ganzen Generation

So wie Zarifa Ghafari, die 2018 zur Bürgermeisterin von Maidan Shahr gewählt wurde – als einzige Frau unter 138 Anwärtern. Antreten konnte sie ihre Stelle erst nach neun Monaten. Männer mit Stöcken und Gewehren verwehrten ihr den Zugang zum Büro, erzählte sie uns im August bei einem Gespräch in Düsseldorf. Es folgten harte Monate, in denen man sie drängte, ihr Amt abzugeben. Sie führte unzählige Gespräche, bis sie es antreten konnte, wurde dann aber zur Hoffnungsträgerin für Generationen von Frauen. 

Mit der Öffnung des Landes starteten auch wir als Kindernothilfe im Jahr 2002 über Partnerorganisationen unser Engagement in Afghanistan. Ziel war die Stärkung der Zivilgesellschaft. Kinder und Frauen lernten ihre Rechte kennen, erhielten Bildung und übten ein friedliches Zusammenleben. Frauen schlossen sich zu Selbsthilfegruppen zusammen, entwickelten ihre Fähigkeiten, gründeten kleine Unternehmen und trieben die Entwicklung in ihren Dörfern voran. Mit ihren Müttern lernten auch Kinder, ihre Stimme zu erheben. Eine Entwicklung, die wir mit Freude sahen.

Was wird jetzt aus den starken Mädchen und Frauen?

Zarifa Ghafari ist überzeugt: „Was in den vergangenen 20 Jahren in Afghanistan an Freiheiten gewachsen ist, ist vor allem den Frauen zu verdanken und denen, die sie dabei unterstützt haben.“ Doch was wird jetzt aus den starken Mädchen und Frauen, die in den vergangenen Jahren so viel gelernt und erreicht haben? Nach dem überraschend schnellen Fall Kabuls am 15. August an die Taliban ist die Situation besonders für Frauen ungewisser denn je. Zarifa Ghafari selbst wurde nach einer dramatischen Flucht zusammen mit Familienangehörigen nach Deutschland ausgeflogen. 

Wie auch andere Organisationen kämpfen wir verzweifelt um die Ausreise von Mitarbeitenden unserer Partnervereinigungen. Wir nehmen auch die deutsche Bundesregierung in die Pflicht. Sie muss sich stärker für die Ausreise gefährdeter Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten und ihren Neuanfang mit einer Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung einsetzen. 
Nach und nach wird die Marschrichtung der neuen und alten Herrscher deutlich – die Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Michelle Bachelet, berichtet von schweren Menschenrechtsverletzungen bei der Machtübernahme. Dazu kommt die neue Politik: Keine Frau in führenden Regierungspositionen, Bildungsverbote für Mädchen ab der weiterführenden Schule und ein Sportverbot für Mädchen und Frauen.

Mutmachende Demonstrationen starker Frauen

Was kommt als Nächstes? Es wird sich zeigen, inwieweit sich die Frauen durchsetzen und zumindest einige Freiräume für sich erkämpfen können. Die Demonstrationen afghanischer Frauen in Kabul und Kandahar für ihre Rechte machen uns Mut. Und sie geben uns Hoffnung, dass die von uns unterstützten Selbsthilfegruppen sich weiterhin für Kinder und ihre Rechte einsetzen können. Ich will einfach daran glauben, dass die Taliban auch diesmal nur für eine begrenzte Zeit die Macht ausüben können. Die starken Frauen Afghanistans werden immer wieder aufstehen – weil sie mutig sind und alles für ein gerechtes Leben tun werden.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2021: Leben im Dorf
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