Hat die geopolitische Rivalität – vor allem zwischen China und den USA – Einfluss auf die Weltwirtschaft?
Was sind die Gründe dafür?
Der eine ist in den USA das Gefühl, dass man einheimische Arbeitsplätze schützen muss. Zu den größten Veränderungen der letzten zwanzig Jahre gehört das rasante Wirtschaftswachstum Chinas. Nachdem es 2001 der Welthandelsorganisation (WTO) beigetreten war, stiegen die Exporte steil an, und die USA wurden ein wichtiger Absatzmarkt für chinesische Waren. Diese Globalisierung hat einen starken Rückgang der Armut in China bewirkt, und das ist der Hauptgrund für den Rückgang der weltweiten Armut. Andererseits wirkte dieser Globalisierungsschub als Schock auf den amerikanischen Arbeitsmarkt: Viele Arbeitnehmer verloren ihren Arbeitsplatz oder ihr Einkommen stieg allenfalls minimal. Dies hat die Regierung und Politiker in den USA unter Zugzwang gesetzt. Das naheliegende Mittel sind Handelsbeschränkungen, statt Arbeitnehmer zum Beispiel mit Qualifizierungsmaßnahmen oder besserer Bildung zu unterstützen. Arbeitsplätze zu schützen ist allerdings seit jeher eine Sorge der Handelspolitiker. Die zweite Ursache für wachsenden Protektionismus ist neu: Die Sorge des Westens, dass China wichtige Schlüsseltechnologien meistern lernt und es schafft, eine Hightechindustrie von Weltrang aufzubauen. Die große Befürchtung ist, dass China eines Tages das Silicon Valley im Wettbewerb hinter sich lässt und dass es Spitzentechnologie für Sicherheitszwecke nutzt.
Für welche Sicherheitszwecke – Militärtechnik oder auch etwa Spähsoftware?
Beides ist sehr wichtig. China hat sich bereits in großem Umfang Zugang zu Industriegeheimnissen verschafft, zum Beispiel in den USA.
Ist der technologische Wettbewerb ein zentraler Grund des Konflikts zwischen den USA und China?
Ja. Die USA können bei Industriegütern nicht mehr mit China oder auch mit anderen asiatischen Ländern konkurrieren. Sie wissen, dass Technologie der Schlüssel ist und wenn sie dort ihren Vorsprung verlieren, wird das sehr schädlich für ihre Wirtschaft sein.
China investiert im Rahmen der Belt and Road-Initiative (BRI), zu der die neue Seidenstraße gehört, enorme Summen in die Infrastruktur anderer Länder. Die G7 hat kürzlich eine Gegeninitiative gestartet. Versuchen beide Seiten, andere Länder an die eigene Wirtschaft zu binden und eine Art eigenen Wirtschaftsraum zu schaffen?
Das ist durchaus Teil der chinesischen BRI. Sie hat wirtschaftliche Ziele – den Aufbau von grenzüberschreitenden Verbindungen –, aber auch ein politisches Ziel. Und das bereitet im Westen solches Kopfzerbrechen. Allerdings ist nach meiner Meinung die politische Komponente der BRI nicht derart bedeutend. Sie schafft Infrastruktur. Dass die fehlt, ist in asiatischen und afrikanischen Ländern ein riesiges Problem und viele von ihnen finden, dass sie vom Westen keine Unterstützung für Infrastrukturinvestitionen erhalten. Sie haben zwar auch Bedenken, Schulden bei China zu machen, aber andererseits: Wie sollten Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen sonst an die nötigen Mittel kommen? Meiner Meinung nach wirkt sich die BRI für Entwicklungsländer in der Summe günstig aus.
Vom politisch begründeten Protektionismus einmal abgesehen: Versuchen große Unternehmen auch aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen, ihre Lieferketten zu verkürzen?
Ja. Ein Grund war die Finanzkrise seit 2007 und die Lehre daraus, dass lange Lieferketten in einer Krise problematisch sein können. In den USA hat die Regierung zudem großen Druck auf die US-Multis ausgeübt, Arbeitsplätze zurückzubringen. Statt Arbeitsplätze weiter ins Ausland zu verlagern, wie es in den 1990er und frühen 2000er Jahren üblich war, werden jetzt wieder welche in die USA zurückgeholt. Die Möglichkeiten der Unternehmen sind hier allerdings begrenzt, weil die Lohnkosten in asiatischen Ländern viel niedriger sind und diese Länder gleichwohl qualifizierte Arbeitskräfte haben; Indien beispielsweise ist ein wichtiger Exporteur von Technologiedienstleistungen. Aber ja, der Trend bei multinationalen Unternehmen ist, nicht so stark wie früher auf globale Versorgungsketten und Produktionsnetze zu setzen. Darüber hinaus führt die chinesische Regierung mehr Regulierungen für große Unternehmen ein, ausländische wie inländische. Früher war China sehr offen für ausländische Investitionen. Mittlerweile empfinden Unternehmen Investitionen in China als riskanter.
Hat die Corona-Krise die Trends zu Handelsschranken und kürzeren Lieferketten beschleunigt?
Ja, kein Zweifel. Aber ich denke, das kann statt eines dauerhaften Effekts auch ein einmaliger, vorübergehender sein. Möglich ist, dass mehr Länder eine eigene Pharmaindustrie aufbauen, aber abgesehen von diesem Sektor könnte es bei kurzfristigen Auswirkungen bleiben.
Einige Fachleute warnen, die Weltwirtschaft könnte in eine chinesische und eine westliche Sphäre mit unterschiedlichen Standards und Kommunikationsnetzwerken zerfallen. Sehen Sie das auch so?
Die Möglichkeit besteht durchaus. Bestärkt wird diese Sorge durch die Pandemie, in der sich beim Handel mit medizinischen Gütern eine solche Kluft entwickelt hat. Aber neben der Rivalität zwischen den USA und China wirken sich auch ganz andere aus – zuletzt etwa zwischen den USA und Australien auf der einen Seite und Frankreich auf der anderen wegen des Verkaufs von U-Booten an Canberra. Auch die Rivalität zwischen Indien und China ist bedeutend. Die Welt ist heute multipolar und stärker fragmentiert als früher. Für ärmere Länder wird die Entscheidung, auf welche Seite sie sich schlagen sollen, schwieriger. Zum Beispiel Nepal: Soll es sich an Indien oder China orientieren?
Kann man insgesamt von einem Trend zu weniger Globalisierung sprechen?
Ja, und das ist besorgniserregend. Als Ökonom glaube ich fest an offene Grenzen und freien Handel. Für viele Länder in Afrika und Südasien ist die Frage, welche Zukunft sie ohne Globalisierung haben. Länder mit niedrigem Einkommen können sich nicht mittels Nutzung der Binnenmärkte industrialisieren, dazu reicht die Nachfrage dort nicht aus – selbst wenn die afrikanische Freihandelszone AfCFTA Realität wird, sind die Märkte dort immer noch sehr begrenzt. Die Industrie ist aber der einzige Sektor, der gut bezahlte Arbeitsplätze in ausreichender Zahl ermöglicht. Bedenklich ist auch die Gründung ständig neuer Freihandelszonen, das kann zu einem Durcheinander verschiedener Handelsregeln führen. Regionale Handelsabkommen sind immer nur die zweitbeste Lösung; die beste ist ein globales, regelbasiertes, multilaterales System in Zuständigkeit der WTO. Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen sollten die WTO drängen, den Protektionismus einzudämmen.
Verteidigen nun Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen das multilaterale Handelssystem, viele reiche Länder aber nicht mehr?
Genau, denn die Länder mit mittlerem und auch die mit niedrigem Einkommen wollen weiter Handel als Weg aus der Armut nutzen.
Dahinter steht das Entwicklungsmodell, wonach Länder zuerst technisch einfache Güter exportieren und sich dann auf der technologischen Leiter hocharbeiten. Verschlechtern sich die Bedingungen dafür durch zunehmenden Protektionismus und die Spaltung in mehrere Wirtschaftsblöcke?
Ja, aber ich bin optimistisch, dass eine nachholende Industrialisierung noch möglich ist. Die Nachfrage nach Industrieprodukten ist weiter hoch, denn je reicher Menschen werden, desto mehr Industriegüter kaufen sie, während der Anteil der Ausgaben für Lebensmittel sinkt. Selbst in Afrika zeigen jüngst von uns analysierte Daten ein Wachstum der verarbeitenden Industrie. Inwieweit es anhält, ist natürlich schwer zu sagen. Und ja, eine Reihe von afrikanischen Ländern ist in Gefahr, abgehängt zu werden. Nach Prognosen der Abteilung Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten im UN-Sekretariat werden die meisten der 33 am wenigsten entwickelten Länder Afrikas in zehn Jahren immer noch zu dieser Gruppe gehören; in Asien dagegen wird wohl nur noch Afghanistan dazu gehören – wenn auch für Myanmar jetzt Zweifel aufgekommen sind.
Welche Optionen bleiben diesen Ländern?
Ein Land kann kein Wirtschaftswachstum erzielen, ohne Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft in andere Beschäftigung mit einer höheren Produktivität, also mit mehr Wertschöpfung pro Arbeitskraft zu bringen. In den meisten Ländern Afrikas außer in Südafrika und im Norden des Kontinents sind noch 50 bis 70 Prozent der Arbeitskräfte im Agrarsektor beschäftigt. Welche Optionen haben Politiker, einen Teil woanders unterzubringen? Die Industrie dafür zu schaffen, ist schwierig, und natürlich könnten Arbeitskräfte nicht sofort in Hightechproduktion gehen, es müssten zuerst einfache Industrien sein. Vielleicht sollte man auch über Dienstleistungen nachdenken. Hier ist ein Teil informell wie etwa Straßenverkauf, dort ist die Produktivität sehr niedrig. Daneben gibt es hoch-produktive Dienstleistungen, etwa im Bankwesen oder in der IT-Branche. Für die braucht man mindestens zwei Dinge: gebildete und einigermaßen qualifizierte Arbeitskräfte und eine gute Kommunikationsinfrastruktur. Das sind die beiden wichtigsten Voraussetzungen, die Afrika schaffen sollte. So kann man zumindest etwas dafür tun, dass ein Teil der Arbeitskräfte, die aus der Landwirtschaft gehen, in produktivere Dienstleistungen wechselt.
Ist die Einbindung in globale Wertschöpfungsketten angesichts von De-Globalisierungstendenzen noch ein gangbarer Weg?
Wertschöpfungsketten sind nicht die einzige Möglichkeit, aber immer noch wichtig. Sie betreffen ja nicht nur die Herstellung von Bekleidung oder Elektronik, sondern auch zum Beispiel den Gartenbau, wo die Produktivität hoch ist. Gemüse etwa ist für viele afrikanische Länder ein wichtiges Exportgut; einige Länder wie Kenia und Südafrika haben sich hier sehr gut entwickelt. Dafür muss man in globale Wertschöpfungsketten eingebunden sein. Südafrikanische Winzer sind ein Erfolgsbeispiel. Hier braucht man Leitfirmen in Lieferketten, also multinationale Konzerne, die mit einheimischen Lieferanten zusammenarbeiten und in Technologie, Standards und Ähnliches investieren. Das ist unerlässlich, um auf einem globalen Markt mitzuhalten.
Wenn der Wettbewerb um die technologische Führung so wichtig ist, erschwert das den Technologietransfer in Entwicklungsländer weiter?
Vielleicht. Diese Frage ist vor allem in der Diskussion über Impfstoffe aufgekommen. Corona-Impfstoffe über die Covax-Initiative armen Ländern zugänglich zu machen, hat nicht gut funktioniert. Es ist eindeutig nötig, Impfstoffe im globalen Süden zu produzieren. Viel wurde deshalb über eine Aussetzung der Patentpflicht diskutiert, aber selbst wenn man sich dazu entschließt: Multinationale Unternehmen wie Pfizer, Moderna oder Astra Zeneca haben auch umfangreiches, nicht in Patenten niedergelegtes Erfahrungswissen, das sie ebenfalls weitergeben müssten.
Das betrifft nicht nur Impfstoffe?
Nein. Aber die sind ein gutes Beispiel dafür, dass viele Länder des Südens Probleme haben, an Know-how zu kommen, das für ihre Bürger von entscheidender Bedeutung ist – selbst ohne Patentpflicht wäre das so. Im Unterschied dazu haben China und Indien selbst eine pharmazeutische Industrie aufgebaut, Indien hat inzwischen mehr als eine Milliarde Impfdosen aus eigener Produktion an seine Bürger verabreicht. Technologietransfer einschließlich des Transfers von Erfahrungswissen ist sehr wichtig, vor allem wenn die Produkte technologisch komplexer werden. Wir müssen kreativer darüber nachdenken, wie er passieren kann. Innovation und die Übernahme neuer Technologien finden heute vor allem im Westen und in Ostasien statt. Afrika, Teile Südasiens und andere sehr arme Weltteile werden abgehängt.
Ist ein Transfer auch bei grünen Technologien dringend nötig?
Auf jeden Fall. Vielleicht gibt es in Zukunft mehr Süd-Süd-Zusammenarbeit beim Technologietransfer. China plant zum Beispiel den Aufbau einer Impfstoffproduktion in Südafrika. So etwas sollte stärker unterstützt werden. Und Afrika muss sehr schnell auf erneuerbare Energien umsteigen – gerade weil die Klimaschutzpolitik fossile Brennstoffe praktisch zum Auslaufmodell macht, während die Entwicklung afrikanischer Länder wie Nigeria, Angola und Mosambik jetzt komplett von fossilen Brennstoffen abhängt. Welche anderen Möglichkeiten haben sie? Ich sehe hier keine klare Antwort. Ein gerechter Übergang für diese Länder muss Teil der globalen Diskussion über den Klimawandel werden. Und die Entwicklungsländer müssen darüber nachdenken, wo sie investieren sollten: Welche Industrien sind damit vereinbar, in 20 oder auch 40 Jahren eine klimaneutrale Wirtschaft zu erreichen? In Indien boomt gerade die Solarenergiebranche. Afrikanische Länder sollten überlegen, eine Solarzellenindustrie zu subventionieren.
Fehlt es vielen nicht am Geld dafür?
Das ist richtig. Wie man eine saubere Industrialisierung hinbekommt, ist die große Aufgabe der Zukunft. Ob Afrika das schaffen kann, ist eine offene Frage. Aber ich bin optimistisch, es besitzt großes Potenzial.
Das Gespräch führte Bernd Ludermann.
Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
Neuen Kommentar hinzufügen