Zentralasien behauptet sich gegen die Großen

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Soldaten aus China und Kirgistan beim gemeinsamen Militärtraining. Die Kooperation seit August 2019 soll Terrorismus bekämpfen helfen.
Geopolitik
Zwischen China und Russland gelegen, ist Zentralasien auch für die USA wichtig. Die Staaten der Region wissen das Ringen der Weltmächte um Einfluss geschickt für sich zu nutzen.

Dem Abzug des US-Militärs aus Afghanistan ist eine Flut westlicher Medienberichte voller Warnungen gefolgt. Befürchtet wird ein Erstarken des chinesischen und russischen Einflusses in Afghanistan und in der Region ringsum oder auch, dass diese Mächte im Versuch, neue Sicherheitsrisiken zu bekämpfen, in das Chaos hineingezogen würden. Die zentralasiatischen Staaten, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten die USA bei ihren militärischen Bestrebungen in der Region entscheidend unterstützt haben, werden wieder einmal hofiert – von Russland, China, den USA und anderen. Weil sich die Geopolitik in der Region verändert, versuchen sie erneut, zwischen rivalisierenden Großmächten zu lavieren und ihre Strategien so anzupassen, dass ihre wichtigsten Interessen gewahrt und mögliche Vorteile maximiert werden.

Die USA haben als einen entscheidenden Grund für ihren Abzug aus Afghanistan genannt, dass sie sich stärker auf die Region Asien-Pazifik konzentrieren und ihre Mittel vermehrt zur Abschreckung Chinas einsetzen wollen. Gleichzeitig bleiben sie aber besorgt, dass von Afghanistan unter Kontrolle der Taliban Terrorismus und Extremismus ausgehen könnten. Russland hat jüngeren Berichten zufolge zentralasiatische Staaten unter Druck gesetzt, sie sollten Washingtons Bitten ablehnen, von ihrem Boden aus Drohnenangriffe auf Afghanistan fliegen zu dürfen. China hat inzwischen in Tadschikistan entlang des Wakhan-Korridors Militärpolizei stationiert, die vor Terrorismus schützen sollen. Der Wakhan-Korridor ist der schmale Streifen Afghanistans, der Tadschikistan von Pakistan trennt. In der Nähe baut China zudem einen Stützpunkt für tadschikische Grenzschützer. China, Russland, Indien, Pakistan und die zentralasiatischen Staaten außer Turkmenistan haben vor kurzem gemeinsame Trainings zur Terrorismusbekämpfung in Russland abgehalten – auch aus Sorge vor einer anhaltenden terroristischen Bedrohung aus Afghanistan.

Ein Machtkampf der Großmächte ist nichts Neues für Zentralasien. Der Wettstreit zwischen Russland und Großbritannien im 19. Jahrhundert in Zentralasien, an der Nahtstelle der beiden Weltreiche, wurde als das „Große Spiel“ bekannt. Meist wird angenommen, dass heute China die größten Gewinne in diesem Spiel einfährt, weil es sich dringend benötigte Rohstoffe sowie Zugang zu Handelsrouten für das Wachstum seiner Wirtschaft sichert und dabei antidemokratische Bestrebungen in Zentralasien ignoriert oder gar unterstützt. In seinem Buch „Die neuen Seidenstraßen“ sagt Peter Frankopan voraus, die Handelsrouten China-Europa über Land würden künftig erneut eine Schlüsselrolle für den weltweiten Handel spielen; gegenwärtig entstehe ein neues chinesisches Netzwerk, das den Globus umspanne.

Bei der Chinese International Import Expo 2019 in Schanghai gibt es am Messestand von Kasachstan ­Cocktails. Die wirtschaftlichen Beziehungen sind beiden Ländern wichtig.

Moskau seinerseits betrachtet Zentralasien weiterhin als seinen Einflussbereich und steht dem Engagement anderer Nationen – vor allem dem der USA, aber auch Chinas – höchst skeptisch gegenüber. Russland hat in den vergangenen Jahren zwar keine bedeutenden Investitionen im Bereich der Infrastruktur getätigt, aber in den größeren Städten Russlands leben viele zentralasiatische Arbeitsmigranten. Im Zentrum stehen für Moskau Sicherheitsprobleme; an den Grenzen mehrerer zentralasiatischer Staaten patrouillieren Grenzpolizisten. 

Manövrieren im Wettkampf der Großmächte

Autorin

Susan A. Thornton

ist US-Diplomatin im Ruhestand. Für das US-Außenministerium beschäftigte sie sich fast 30 Jahre mit Eurasien und Ostasien. Sie ist jetzt Senior Fellow am Paul Tsai China Center der Universität Yale und an der Brookings Institution.
Die US-Politik in Zentralasien konzentriert sich seit langem darauf, die Souveränität und Unabhängigkeit dieser jungen und fragilen Staaten zu stärken. Sie sucht Konflikten vorzubeugen, Wohlstand zu fördern und die Institutionen für Handel und Regierungsführung zu festigen. Vor diesem Hintergrund trifft das russische und chinesische Vorgehen in der Region auf Vorbehalte. Washington fürchtet etwa, dass es die Souveränität zentralasiatischer Staaten schwächt, dass sie hohe Schulden anhäufen und die wirtschaftliche Nachhaltigkeit von Projekten fragwürdig ist, was die Staatshaushalte in Schieflage bringen kann.

Auch ist fragwürdig, ob Projekte den Standards der internationalen Entwicklungszusammenarbeit genügen wie etwa, örtliche Arbeitskräfte zu beschäftigen und Umweltschäden zu vermeiden. Schließlich befürchten die USA auch Begünstigung von Korruption und schlechter Regierungsführung in Zentralasien sowie Menschenrechtsverstöße bei der Terrorismusbekämpfung.

Blickt man bei all dem hauptsächlich auf die Rivalität der Großmächte in der Region, ist das ein Problem. Denn man neigt dann dazu, jede Entwicklung durch eine Art Zerrbrille zu sehen und bloß auf den Einfluss großer Mächte zurückzuführen. Damit gesteht man zentralasiatischen Staaten und ihrer Bevölkerung kaum Handlungsfähigkeit zu und nimmt an, dass ihre Fähigkeiten, die eigenen Interessen gegen ausbeuterische Nachbarstaaten zu schützen, stark eingeschränkt sind. Betrachtet man jedoch neutral, so wird klar: Zentralasiatische Regierungen sind darin geübt, im Wettkampf der Großmächte zu manövrieren und für sich selbst Verhandlungsmacht und Vorteile daraus zu ziehen.

Diplomatie an der Peripherie

China verfolgt seit langem Interessen in Zentralasien. Es war das zweite Land nach den USA, das 1992 die Unabhängigkeit zentralasiatischer Staaten anerkannte. Seither hat sich China in diesen Staaten engagiert und seine Präsenz dort immer weiter ausgebaut. 

Obwohl die zentralasiatischen Staaten klein sind und nur begrenzte Mittel haben, verleihen einige Besonderheiten ihnen Verhandlungsmacht gegenüber China. China betrachtet Zentralasien als bedeutend für Stabilität und Entwicklung in seinen instabilen westlichen Landesteilen. Drei zentralasiatische Staaten – Kasachstan, Tadschikistan und Kirgistan – grenzen an China und erhalten deshalb in Pekings „Diplomatie an der Peripherie“ besondere Aufmerksamkeit. In allen drei leben Bevölkerungsgruppen, die auch bedeutende ethnische Minderheiten in China stellen.

Das führt zu komplexen Beziehungen und mancher Besorgnis. Zum Beispiel wurden auch diese Minderheiten Ziel von Chinas Verhaftungs- und Umerziehungskampagnen gegen die uigurischen Muslime in der Provinz Xinjiang, die an Zentralasien grenzt. Manche haben Zuflucht in zentralasiatischen Staaten gefunden. Deren Regierungen versuchen, eine Balance zu finden zwischen dem Einsatz für den Schutz ihrer Bürger und deren Verwandte innerhalb Chinas einerseits, der eigenen Furcht vor religiös motiviertem Extremismus sowie dem Wunsch nach konstruktiven Beziehungen zu Peking andererseits. Die zentralasiatischen Regierungen sind freilich wenig geneigt, den Umgang mit Menschenrechten in anderen Ländern zu kritisieren. Sie identifizieren sich auch nicht sonderlich mit anderen muslimischen Glaubensgenossen, sondern sind recht säkular ausgerichtet.

Geschickt verhandelt, die eigenen Interessen gewahrt

China betrachtet Zentralasien aufgrund von dessen geografischer Lage auch als entscheidend für das Vorhaben einer „Neuen Seidenstraße“, das mit über Land verlaufenden Handelsrouten neue Märkte erschließen und Eurasien integrieren soll (es ist Teil der Belt and Road-Pläne). Zentralasiatische Staaten sind weiterhin wichtige Lieferanten von Rohstoffen für die boomenden Industrien Chinas – hier sind insbesondere Erdgas, Erdöl und Bodenschätze wie Metalle wichtig. Zudem verfügen sie über Pipelines für die Durchleitung von Öl und Gas.

Die zentralasiatischen Staaten haben sich trotz Ängsten vor zu starker Abhängigkeit von China und vor „Schuldenfallen“ in Verhandlungen mit Peking gut behauptet. Erdöl- und Gasgeschäfte mit Turkmenistan und Kasachstan sowie Vereinbarungen über die Durchleitung mit anderen der fünf Staaten haben einen beständigen Zustrom an Investitionen gewährleistet und für Diversifizierung der Wirtschaft gesorgt. Zwar sind zwei der ärmsten zentralasiatischen Staaten, Tadschikistan und Kirgistan, beträchtlich bei China verschuldet, doch selbst sie haben sich in manchen Fällen chinesischen Projekten und Druck aus China widersetzt und konnten ihre Kredite umschulden. Um ihr Spiel in Gang zu halten, die Großmächte gegeneinander auszuspielen, achten die Länder natürlich darauf, Peking, Moskau, die USA und andere große Mächte nicht öffentlich zu brüskieren.

Als „warme Politik, kalte Öffentlichkeit“ wurden die Beziehungen zwischen China und den zentralasiatischen Staaten schon beschrieben: Dem trauten Verhältnis Pekings zur politischen Führung zentralasiatischer Länder steht eine eher patriotisch eingestellte Bevölkerung dort gegenüber. So haben Proteste schon chinesische Projekte in Kirgistan und Kasachstan gestört, wo Nationalisten eifrig über die Souveränität und das Erbe des Landes wachen. Es gibt zwar Anzeichen, dass junge Zentralasiaten zunehmend an der chinesischen Kultur und am Erlernen der Sprache interessiert sind, aber sie nehmen Chinas Bemühungen um wirtschaftliche und sicherheitspolitische Kooperation als eigennützig wahr und sind entsprechend skeptisch. Auch Russland, das weiterhin überragendes Interesse an der Region hat und mit Argusaugen über sie wacht, bremst Chinas Ambitionen. Das wiederum ruft den Argwohn Chinas hervor.

Chinesische Experten tauschen mit einem Farmer aus Usbekistan Erfahrungen über den Anbau von Baumwolle aus.

Das alles hat Auswirkungen auf die US-Strategie in der Region. Der US-amerikanische Einfluss in den Bereichen Sicherheit und Militär schwindet. Diplomatisches Engagement im Wettbewerb der Großmächte kann die Verhandlungsposition zentralasiatischer Länder und ihre Handlungsfähigkeit gegenüber China und Russland stärken – mit relativ niedrigem Aufwand. Sowohl die USA als auch Europa haben hochrangige diplomatische Treffen mit zentralasiatischen Staaten zur festen Institution gemacht, was ein Gegengewicht zu chinesischen und russischen Foren wie der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit schafft. Angebote der USA wie Entwicklungsunterstützung, die Einbeziehung der Öffentlichkeit in die Diplomatie oder kommerzielle Projekte geben Zentralasiaten Werkzeuge an die Hand, mit denen sie den Einfluss anderer Mächte ausbalancieren können. Den chinesischen Einfluss zu verteufeln, aber keine Alternativen zu schaffen, wäre kontraproduktiv und würde China nur stärken.

Westliche Mächte sollten vorsichtig damit sein, zentralasiatische Regierungen öffentlich als Autokratien abzustempeln. Stattdessen sollten sie Probleme der schlechten Regierungsführung und Menschenrechtsverletzungen langfristig und konstruktiv angehen. Die meisten zentralasiatischen Regierungen schätzen Partner, die sie als ebenbürtig ansehen und nicht beschämen. In der Vergangenheit bevorzugten sie gewöhnlich westliche Partner, aber seitdem diese sie zunehmend in der Öffentlichkeit kritisieren, wenden sie sich vermehrt Staaten wie der Türkei, China oder auch den Vereinigten Arabischen Emiraten zu. Das Engagement der USA und anderer Mächte, auch Europas und der Türkei, kann zentralasiatischen Staaten helfen, ihre Interessen im „neuen Großen Spiel“ zu schützen, statt zu dessen Opfer zu werden.

Aus dem Englischen von Christine Lauer.

LITERATUR
Peter Frankopan:
Die neuen Seidenstraßen: Gegenwart und Zukunft unserer Welt
Rowohlt Verlag, Berlin 2019

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erschienen in Ausgabe 12 / 2021: Das Spiel der großen Mächte
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