Die Covid-19-Pandemie hat die Schwächen des nigerianischen Gesundheitssystems ans Licht gebracht. Angehörige der Eliten, die sich bis dahin für viel Geld im Ausland medizinisch behandeln ließen, konnten das mit einem Mal nicht mehr, wenn sie sich mit dem Virus angesteckt hatten. Sie mussten sich im Land behandeln lassen und viele erlebten zum ersten Mal die harte Realität der mangelhaften und überforderten nigerianischen Gesundheitsdienste, die sie bisher tunlichst gemieden hatten.
Kein Krankenhaus wollte den Millionär aufnehmen
Als zum Beispiel der nigerianische Millionär Bolu Akin-Olugbade an Covid-19 erkrankte, konnte man ihn nicht ins Ausland fliegen. Der Anwalt und Geschäftsmann musste sich inländischen Ärzten anvertrauen. Als er in kritischem Zustand um Atem rang, fuhr ihn ein Krankenwagen zu einer Klinik in Lagos, die ihn trotz seines Zustands und seines gesellschaftlichen Ranges abwies. „Wir konnten kein freies Bett finden, alle Kliniken waren überfüllt“, erinnert sich sein älterer Bruder Sunmade Akin-Olugbade. Die Familie versuchte verzweifelt, ihn in einer privaten Klinik unterzubringen, aber auch das erwies sich als schwierig. Bevor die Klinik ihn aufnahm, verlangten die Verantwortlichen eine Kaution von rund 20.000 Euro. Erst als das Geld gezahlt und lebenswichtige Zeit verflossen war, nahm man ihn auf. Er starb im Januar. „Wenn selbst eine reiche und hochgestellte Person wie er kein Bett bekommen konnte, was meinen Sie, mit welcher Behandlung normale Bürger rechnen können?“, fragt Sunmade Akin-Olugbade bitter.
Die Pandemie führte nicht nur zu einem Mangel an Plätzen in den Krankenhäusern. Ein weiteres gravierendes Problem war, dass es an wichtigen Behandlungsmitteln fehlte wie Sauerstoff. Es gab kritische Phasen, in denen viele Covid-19-Patienten – unter ihnen auch reiche und privilegierte – nicht den Sauerstoff erhalten konnten, der für sie lebenswichtig war. So konnte der renommierte Wissenschaftler und enge Vertraute von Präsident Muhammadu Buhari, Professor Femi Odekunle, im Isolationszentrum der Universitätsklinik von Abuja zwölf Tage lang nicht mit Sauerstoff versorgt werden. Verschiedene Freunde in höheren Positionen mussten erst eingreifen, darunter zwei Bundesstaatsgouverneure, ein Minister und verschiedene Beamte des Gesundheitsministeriums, bis er endlich Sauerstoff bekam. Er starb jedoch zwei Tage später Ende Dezember. Das Krankenhaus machte nicht den Mangel an Sauerstoff für seinen Tod verantwortlich, sondern die Schwere der Infektion.
Sauerstoff wird unter der Hand verkauft – zu horrenden Preisen
Wenn medizinischer Sauerstoff knapp wird, versuchen Familien und Freunde von Patienten verzweifelt, über private Arrangements welchen zu organisieren – über Dritte, die an dem Notstand verdienen und die Preise hochtreiben. In Notsituationen geht der Sauerstoff üblicherweise an diejenigen, die am meisten dafür bieten. Ein Zylinder, der früher 10.000 bis 15.000 Naira (etwa 20 bis 30 Euro) gekostet hatte, kostete, wenn man ihn über Dritte bezog, auf einmal bis zu 100.000 Naira (rund 205 Euro). „Die Preise sind so gestiegen, weil der Markt allein von Angebot und Nachfrage bestimmt ist – und Sauerstoff ist extrem knapp“, erklärt ein Arzt, der in einem Isolierungszentrum arbeitet. Einige Menschen seien so verzweifelt, dass sie jeden Preis dafür zahlen würden.
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Doch es fehlt nicht nur an Sauerstoff. Ärztinnen und Ärzte, die in Covid-19-Behandlungszentren arbeiten, sind frustriert darüber, dass es an grundlegender Ausstattung fehlt, vor allem an Schutzkleidung. Deshalb haben sie schon mehrmals für bessere Arbeitsbedingungen und finanzielle Risikozulagen gestreikt.
Die Ursachen für die dritte Welle
Zu Beginn dieses Jahres, als Nigeria die zweite Covid-19-Welle erlebte, verzeichnete das Land die bislang höchsten Krankheits- und Todeszahlen – offiziell verzeichnet wurden Ende Januar, Anfang Februar fast 25.000 Infizierte und um 2000 neue Fälle täglich. Dann gelang es für eine Weile, die Kurve abzuflachen. Doch schon bald schnellten die Infektionszahlen wieder hoch und die Kliniken füllten sich erneut. Nun sehen die Behörden das Land in eine dritte Welle hineinschlittern. Erstmals spielt dabei die ansteckendere Delta-Variante eine wichtige Rolle.
Babajide Sanwo-Olu, der Gouverneur des Bundesstaates Lagos, sieht die Ursache für die dritte Welle darin, dass viele die Schutzvorschriften der Regierung nicht ernst nehmen und Flugpassagiere aus Hochrisikostaaten wie Indien, Brasilien, Südafrika und der Türkei nachlässig sind. Die Regierung erklärt, sie könne nicht 9000 Flugpassagiere verfolgen, die Nigeria täglich über den internationalen Flughafen von Lagos erreichen, zumal viele von ihnen falsche Kontaktdaten hinterließen. Hunderte andere Passagiere hätten die Isolationszentren einfach verlassen.
Mit 200 Millionen Einwohnern ist Nigeria das bevölkerungsreichste Land Afrikas. Es steht am Beginn der dritten Covid-19-Welle, ohne über verlässliche Statistiken zu verfügen. Laut offiziellen Zahlen haben sich bis Mitte Juli 2021 rund 170.000 Menschen mit Covid-19 infiziert und 2150 sind daran gestorben. Doch viele Fachleute sind der Meinung, dass diese Zahlen nur einen Bruchteil der tatsächlichen Fälle erfassen.
Mangels Tests ist die wahre Zahl der Infektionen unbekannt
Wie in vielen anderen afrikanischen Staaten wird in Nigeria nicht genug getestet. Erst rund ein Prozent der Bevölkerung hat schon einmal einen Test durchlaufen, vor allem weil es an Testmaterial und Labors fehlt. Wenn es sie überhaupt gibt, befinden sich die Testzentren in den Großstädten – Millionen Dorfbewohner bleiben außen vor.
Fachleute warnen, dass unvollständige und falsche Daten das wahre Ausmaß der Pandemie verschleiern können. „Wir haben nicht genug Material, um daraus ein Muster herauszulesen, wie sich die Pandemie ausbreitet“, sagt Funmi Adewara, Geschäftsführerin der Firma Mobihealth International. Das nigerianische Unternehmen bietet online Gesundheitsdienstleistungen an.
In Nigeria verlassen sich viele Menschen in Sachen Gesundheit auf Selbstmedikation und spirituelle Behandlung; es ist zu befürchten, dass sie sich gar nicht erst auf Covid-19 testen oder gar in einer Klinik behandeln lassen wollen. Dazu kommt, dass in dem sehr religiösen Land einige Religionsführer offen und offensiv behaupten, es gebe Corona gar nicht. „Viele Nigerianer, auch Religionsführer, glauben immer noch, dass die Pandemie von hinterhältigen Regierungen und ihren Agenten erfunden wurde“, sagt Dan Onwujekwe, Wissenschaftler am Nigerianischen Institut für Medizinische Forschung in Lagos.
Religionsführer bezeichnen die Pandemie als Lüge
Zu den wichtigen Religionsführern, die die Pandemie als große Lüge bezeichnen, gehören der muslimische Kleriker Sheikh Sani Yahaya, der die islamische Reformbewegung Izala anführt, und Pastor Chris Oyakhilome, der einer der größten Kirchen Nigerias vorsteht: der „Love World Incorporated“, auch bekannt als „Christ Embassy“, also Botschaft Christi. Yahaya predigt seiner Gemeinde, dass das Coronavirus von westlichen Staaten geschaffen wurde, um zu verhindern, dass Muslime ihren religiösen Pflichten nachkämen, also der Reise nach Mekka, dem Gebet in der Gemeinde, dem Predigen und dem Händeschütteln.
Bei Impfungen kommt Nigeria nur langsam voran, bislang ist erst ein Prozent der Bevölkerung gegen Covid-19 geimpft. Dennoch agitieren Geistliche wie Pastor Oyakhilome gegen Covid-Impfungen. Die sozialen Medien sind voll von Fehlinformationen und Verschwörungstheorien, die die Bevölkerung davon abhalten sollen, sich impfen zu lassen. Das macht den Behörden zu schaffen. (Siehe dazu auch den Beitrag auf Seite 36.)
„Unzensierte und nicht überwachte Inhalte in sozialen Medien tragen dazu bei, Verschwörungstheorien und Fake News zu verbreiten“, sagt der Gouverneur von Lagos-Staat, Sanwo-Olu. „Derlei Mythen und Gerüchte müssen offensiv bekämpft werden, damit sie nicht alle Bestrebungen zunichtemachen, Gesundheit und Wohlbefinden unserer Einwohner zu schützen.“ Doch viele Nigerianer sind bereits überzeugt, dass es das Coronavirus nicht gibt. Vor allem in armen Gemeinden geht das Leben weiter, als gäbe es die Pandemie nicht. Für die Menschen in den Slums ist Corona kaum eine ihrer vordringlichen Sorgen. An erster Stelle steht, Geld zu verdienen und Wege aus der Armut zu finden.
Aus dem Englischen von Barbara Erbe.
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