Wo steht die deutsche Entwicklungspolitik, nachdem Gerd Müller acht Jahre das Ministerium geleitet hat? Wie soll sie künftig weitergeführt oder verändert werden? Darüber streiten die Sprecher für Entwicklungspolitik der im Bundestag vertretenen Parteien im Gespräch mit „welt-sichten“.
Welches sind die drei wichtigsten Aufgaben der Entwicklungspolitik?
Sommer: Die Entwicklungspolitik Deutschlands wäre wirksamer, wenn sie sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren und konsequent an den UN-Nachhaltigkeitszielen orientieren würde: vor allem Hunger und Armut endlich nachhaltig bekämpfen. Gleichzeitig müsste die Basisgesundheitsversorgung gestärkt werden, auch über die Pandemie hinaus. Hinzu kommt die Bewältigung der Klimakrise, die ärmere Staaten, die ohnehin bereits größere Probleme haben, viel stärker trifft. Deutschland sollte hierfür kontinuierlich die Finanzmittel gemäß den internationalen Verpflichtungen bereitstellen: 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) für die Entwicklungszusammenarbeit insgesamt, 0,2 Prozent des BNE für ärmere Staaten und 0,1 Prozent für globale Gesundheitszusammenarbeit.
Raabe: Wir müssen uns an den nachhaltigen Entwicklungszielen der UN, den SDGs, orientieren und für mich sind die ersten beiden vordringlich: Hunger und extreme Armut weltweit bis 2030 zu überwinden. Die zweite Priorität sind faire Handelsbedingungen und gerechte Löhne vor Ort. Wir müssen in EU-Handelsverträgen gute Regierungsführung und die verbindliche Einhaltung von Umweltschutz, Menschen- und Arbeitnehmerrechten sanktionsbewehrt einfordern. Gleichzeitig müssen wir auch die Unternehmen verpflichten, weltweit verbindlich faire Standards einzuhalten. Das Lieferkettengesetz ist deshalb ein historischer Meilenstein gegen Ausbeutung, Kinderarbeit und Hungerlöhne. Und wir müssen auch über 2022 hinaus das 0,7-Prozent-Ziel einhalten.
Hoffmann: Auch für uns sind die SDGs maßgebend und darin ist ja die ganze Palette vorrangiger Aufgaben genannt wie Armut, Gesundheit, Nahrung, Klimaschutz. Die zweite Priorität ist gute Regierungsführung. Um die in Partnerländern durchzusetzen, müssen wir mehr multilateral und auf europäischer Ebene ansetzen. Einen großen Hebel erreichen wir am besten, wenn wir gemeinsam vorgehen, statt dass jedes europäische Land in jedem Sektor eigenen Ansätzen folgt. Drittens ist für uns Afrika der Fokus, weil in Subsahara-Afrika die ärmsten Länder liegen.
Frohnmaier: Für uns sind Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit (EZ) zunächst ein Instrument der Außenpolitik. Wir unterscheiden uns von den anderen Parteien deutlich in dem Punkt, dass wir nicht die Agenda 2030 zum Leitbild erklären. Wir wollen einen Schwerpunkt auf verlässliche Partner setzen, auf Rohstoffe, Produktions- und Absatzmärkte. Bis zu einem gewissen Grad kann mit Entwicklungszusammenarbeit zudem der Migrationsdruck verringert und die Migration gesteuert werden.
Kekeritz: Ein wesentliches Ziel für grüne Politik ist das SDG 10, denn nur die Reduzierung von Ungleichheit sorgt für globale Gerechtigkeit. Wenn wir die nicht schaffen, erreichen wir auch die anderen SDGs nicht. Das zweite Ziel ist Klimaschutz; wir müssen als Nation und als europäische Gemeinschaft unseren internationalen Einfluss dafür einsetzen. Das geht am besten, wenn Deutschland mit gutem Beispiel vorangeht. Drittens müssen wir Entwicklungspolitik vorwiegend als Strukturpolitik begreifen. Erfolgreiche Agrarprojekte in Afrika sind ja wunderbar – aber was nützt es den Landwirten dort, wenn sie ihre Produkte nicht verkaufen können, weil Handelsverträge erzwingen, billigere europäische Produkte reinzulassen?
Klein: Für uns ist das entscheidende Ziel der Entwicklungspolitik, dass wir auch jenseits des eigenen Landes helfen, Perspektiven für Menschen zu schaffen. Das ist auf der einen Seite ein ethisches Gebot und für mich persönlich ein Stück christlicher Auftrag. Daneben ist es aber auch in unserem eigenen Interesse, dass Menschen dort, wo sie leben, Perspektiven haben. Bei den Ärmsten geht es da um die Bekämpfung von Hunger, beispielsweise mit sehr viel deutschem Geld für das Welternährungsprogramm, das Menschen etwa im Jemen mit dem Notwendigsten versorgt. In anderen Ländern geht es darum, dass Jobs geschaffen werden. Es muss eine sich selbst tragende Entwicklung angestoßen werden.
Herr Frohnmaier, habe ich Sie richtig verstanden – Entwicklungspolitik soll zuvorderst deutschen Interessen dienen und es ist nicht ihre Aufgabe, die Lage von Menschen im Süden zu verbessern?
Frohnmaier: Teilweise. Entwicklungszusammenarbeit muss auch im deutschen Interesse stattfinden und es ist nicht unsere Aufgabe, eine globale Umverteilung zu organisieren. Aber natürlich wollen wir auch, dass unsere Partnerländer sich entwickeln können – allerdings durch Handel und echte Zusammenarbeit, nicht dadurch, dass wir Almosen verteilen. Die deutsche EZ hat in den letzten Jahrzehnten nicht zu Entwicklung in diesen Ländern geführt. Im Gegenteil hat man, zugespitzt gesagt, dafür gesorgt, dass dort korrupte Eliten sich festsetzen konnten. Die stetige Erhöhung der Mittel hat nicht dazu geführt, dass die EZ effektiver geworden ist. Entwicklung entsteht nicht durch gut gemeinte Projekte wie Gender-Mainstreaming.
Kekeritz: Von einer globalen Umverteilung zu sprechen, ist Unsinn. Die Umverteilung findet seit der Kolonialzeit statt. Auch heute noch beziehen wir Rohstoffe billigst aus dem Süden und es ist unser Finanzsystem, das afrikanische Länder Jahr für Jahr um Hunderte von Milliarden Euro betrügt.
Raabe: Herr Frohnmaier, die Polemik gegen die Stärkung von Frauen zeigt, dass Sie sich nicht vor Ort informiert haben, wo die großen Probleme sind. Natürlich sind dort Frauen benachteiligt und Empowerment von Frauen ist ein wesentlicher Schlüssel für Entwicklung.
Ist das Ziel legitim, dass die Entwicklungszusammenarbeit auch der deutschen Wirtschaft und deutschen Exporten nützt?
Kekeritz: Wenn Entwicklungsprojekte nebenbei auch dazu führen, dass deutsche Firmen profitieren, hat noch nie jemand etwas dagegen gehabt. Aber es kann nicht Ziel der Entwicklungspolitik sein, Wirtschaftsförderung zu betreiben.
Hoffmann: Wir sind schon für Exportförderung und sollten sie ausbauen. Wir müssen zum Beispiel für Mittelständler Rahmenbedingungen schaffen, die es für sie interessant machen, in EZ-Ländern zu investieren, so dass Arbeitsplätze entstehen. Das kann nur funktionieren, wenn diese Unternehmen auch Gewinne machen. Nur mit staatlichem Geld werden wir das Wohlstandsgefälle nie und nimmer lösen.
Ist es realistisch, mit Entwicklungspolitik Migration zu verringern? Wenn ein Land sich entwickelt, werden Menschen ja mobiler und Migration nimmt zunächst zu, bis sie ab einem gewissen Wohlstand wieder sinkt.
Raabe: Wir denken in der Entwicklungspolitik langfristig: Es muss unser Ziel sein, Zukunftsperspektiven in der Heimat zu schaffen. Wenn Menschen für sich und ihre Familie den Lebensunterhalt verdienen können, muss und möchte niemand nach Europa flüchten. Oder soll man etwa Menschen in Hunger und Armut lassen, damit sie nicht die Kraft und das Geld haben, zu uns zu fliehen?
Frohnmaier: Migration zu steuern ist Kernaufgabe nicht der Entwicklungspolitik, sondern der Innenpolitik; sie muss für Grenzsicherung sorgen und dafür, dass Menschenschlepperei geahndet und Gesetze etwa für Abschiebungen umgesetzt werden. Aber im Bereich der EZ sehen wir kritisch, dass Migranten Geld von hier in ihre Heimatländer schicken. Das ist ein zentraler Anreiz für Migration nach Europa und wir sollten diese Rücküberweisungen nach Möglichkeit verringern.
Hoffmann: Nicht die Rücküberweisungen zu vermindern, sondern das Gegenteil macht Sinn: Dass Zugewanderte hier Geld erwirtschaften – auch in Tätigkeiten, die sonst wenige Leute noch machen würden – und davon ihrer Familie etwas zurücküberweisen. Wir sind als FDP für zirkuläre Migration, also dass Menschen zu uns kommen, arbeiten oder eine Ausbildung machen und dann nach einer gewissen Zeit zurückgehen. Das ist ein Gewinn auch für ihr Land.
Sommer: Herr Frohnmaier, Menschen verlassen ihr Land nicht ohne Grund. Ich bin ein Beispiel dafür. Meine Eltern haben sich geweigert, nach Deutschland zu flüchten, bis uns das Wasser bis zum Hals stand. In einer Nacht- und Nebelaktion mussten wir die Türkei verlassen und hier Asyl beantragen. Es geht nicht darum, ob Migration gewollt ist oder nicht. Man kann sie nicht wie mit einem Wasserhahn auf- und zudrehen.
Frohnmaier: Ich habe kein Problem mit Flüchtlingen. Wer politisch oder religiös verfolgt wird, kann in Deutschland natürlich Asyl erhalten.
Was genau kann und soll die EZ für Klimaschutz tun?
Hoffmann: Die Entscheidung über das Weltklima fällt in den Entwicklungs- und Schwellenländern. In Afrika sind um die tausend Kohlekraftwerke in Planung. Wir müssen diese Staaten überzeugen, auf eine zunächst etwas teurere Energie umzusteigen. Sonst haben wir selbst verloren. Aber wir müssen auch CO2 wieder aus der Luft binden. Ein wichtiges Mittel ist, in den feuchten Tropen auf verwüsteten Flächen Wälder zu begründen, wo Wald viel schneller wächst als in Deutschland.
Kekeritz: Aufforsten ist wichtig, aber wichtiger noch wäre, das Roden von Wald zu stoppen. Zudem ist Deutschland Anteilseignerin bei diversen regionalen und multilateralen Entwicklungsbanken. Diese haben in den letzten fünf Jahren noch immer Kredite und Zusagen für fossile Energiegewinnung und Erschließung in Höhe von knapp 29 Mrd. US-Dollar genehmigt. Die Bundesregierung muss ihren Einfluss nutzen, über die Entwicklungsbanken voranzugehen mit erneuerbaren Energien.
Hoffmann: Der bestehende Wald muss natürlich auch bleiben. Wir fordern als FDP eine völkerrechtliche Ächtung negativer Waldbilanzen von Staaten.
Raabe: Wir sollten bei Klimafinanzierung unterscheiden, was auf die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA) angerechnet werden soll und was wir zusätzlich dazu leisten müssen. Wenn wir Menschen Zugang zu Erneuerbaren Energien ermöglichen, damit sie nicht mehr stundenlang Feuerholz suchen müssen, ist das klassische EZ. Aber wenn wir Ländern im Rahmen unserer internationalen Zusagen nach dem Pariser Klimaschutzabkommen pauschal Geld dafür geben, dass sie ihren Regenwald nicht abholzen, sollte das zusätzlich zum 0,7- ODA-Ziel erfolgen.
Sommer: Richtig. Aber der größte Teil der deutschen Klimafinanzierung fließt in Treibhausgasminderung, während Klimaanpassung chronisch unterfinanziert ist. Dabei ist dieser Bereich entscheidend, um klimabedingte Fluchtursachen zu bekämpfen. Wenn Menschen ihre Lebensgrundlagen verlieren, weil Deiche gegen Überflutung fehlen, Wüsten sich ausbreiten und Stürme die Unterkünfte zerstören, haben sie keine Wahl, als zu flüchten.
Gerd Müller war jetzt acht Jahre Entwicklungsminister. Was hinterlässt er – wo sehen Sie die größten Stärken und Schwächen der deutschen Entwicklungspolitik?
Klein: Die größte Stärke ist, dass der Bereich sehr viel mehr Aufmerksamkeit bekommen hat und nicht zuletzt sehr viel Geld. Aber am Ende kommt es darauf an, was die Länder selber tun. Es war daher richtig, dass das BMZ Reformpartnerländer eingeführt hat, um Staaten, die die richtigen Reformen anstoßen, besonders zu unterstützen. Das müssen wir weiter ausbauen. Und sehr viel mehr muss dafür getan werden, dass afrikanische Staaten sich stärker aus Steuern selbst finanzieren. Ein Land wie Nigeria mit einem relativ hohen BNE pro Kopf hat die niedrigste Steuerquote weltweit, unter 5 Prozent, während ein viel ärmeres wie Burkina Faso immerhin 15 Prozent erreicht.
Raabe: Lobenswert ist erstens, dass in dieser Legislaturperiode Gerd Müller, Finanzminister Olaf Scholz und wir Parlamentarier gemeinsam die Mittel für EZ so stark erhöht haben wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Nach 50 Jahren haben wir endlich das 0,7-ODA-Ziel erreicht. Zweitens hat Gerd Müller gemeinsam mit Arbeitsminister Hubertus Heil und uns das Lieferkettengesetz durchgesetzt und das Thema fairer Handel fast wie ein Sozialdemokrat in jeder Rede prominent angesprochen. Drittens finde ich gut, dass er das Thema Hunger und Armutsbekämpfung weit oben auf die Agenda gesetzt hat. Gleichzeitig zeigen sich da aber auch drei Schwächen. Bei Hunger und Armut hätte mehr für die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) gemacht werden müssen. Zweitens ist die Auswahl der Partnerländer nicht überzeugend. Lateinamerika ist weitgehend rausgeflogen und es sollten insgesamt mehr LDCs dabei sein. Dritter Kritikpunkt: Bei jeder Rede von Gerd Müller zu fairem Handel blüht mein Herz zwar auf, aber er hat es leider nicht geschafft, dass der zuständige Wirtschaftsminister Altmaier sich in Brüssel für faire EU-Handelsverträge einsetzt.
Sommer: Wir haben weder 0,2 Prozent für die ärmsten Länder erreicht noch 0,1 Prozent für Gesundheitsausgaben. Ich sehe auch die Sonderinitiativen des BMZ kritisch. Für die Bundesregierung sind sie sehr attraktiv, weil man damit in der Öffentlichkeit den Eindruck von Tatendrang erweckt. Aber sie gehen zulasten der Finanzierung von Kernaufgaben. Das jüngste Reformkonzept „BMZ 2030“ halte ich ebenfalls für unzureichend. Ich bin der Meinung, dass alle Entwicklungsländer, in denen sich mehrere Krisen überlappen – eine Ernährungskrise, eine Armutskrise, die Klimakrise, ein bewaffneter Konflikt, eine Staatskrise –, auf die Länderliste für die bilaterale Zusammenarbeit gehören und ebenso von Krieg betroffene Länder.
Hoffmann: Es ist sicher ein Verdienst von Herrn Müller, dass der Haushalt vergrößert und die ODA-Quote erfüllt worden ist. Er hat auch die Akzeptanz und Reputation in der Bevölkerung verbessert. Mängel sehe ich bei der Effizienz. Bei den zahlreichen Sonderinitiativen wie Compact with Africa hat man am Ende ein Schaubild gebraucht, um noch durchzusteigen. Das zweite ist der Mangel an Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt und den 14 anderen Ministerien, die sich in der Entwicklungshilfe tummeln. Wir fordern eine stärkere Zusammenlegung dieser Initiativen. Drittens hat Minister Müller Illusionen geweckt – etwa, wir würden mit Entwicklungszusammenarbeit die Migration stoppen oder die Terrorgruppe Boko Haram in Nigeria entwaffnen.
Kekeritz: Gerd Müller hat die 0,7 Prozent geschafft. Zu loben ist auch die humanitäre Hilfe. Schlimm finde ich hingegen Müllers Ignoranz gegenüber multilateralen Ansätzen. Ein großer Fehler von ihm ist, dass er in den ersten vier Jahren im Kabinett nicht kommuniziert hat. Erst in der zweiten Legislaturperiode hat er gemerkt, dass er auch dort Freunde braucht. Er hat dann Hubertus Heil gefunden, ohne den das Lieferkettengesetz nichts geworden wäre. Das Reformprojekt „BMZ 2030“ war nicht mit anderen Ministerien abgesprochen und Partnerländer, mit denen die Zusammenarbeit beendet wird, wurden nicht informiert. Inhaltlich setzt „BMZ 2030“ auf weniger Länder, die ärmsten Länder außerhalb Afrikas fallen raus. Negativ bewerte ich auch, dass unter Gerd Müller die Entwicklungspolitik mehr und mehr zur Migrationskontrolle eingesetzt wird. Das BMZ wird mit dem Programm „Perspektive Heimat“ zum Rückführungsministerium, verhilft dabei aber viel weniger Menschen zur Rückkehr, als es behauptet.
Frohnmaier: „Perspektive Heimat“ ist gar kein Rückführungsprogramm: Auf einen Rückkehrer kommen sieben vor Ort, die Migrationsberatung in Anspruch nehmen. Es verringert sicher nicht die Migration, wenn man Beratung anbietet, wie man sich auf den Weg zu uns machen kann. Äußerst kritisch sehen auch wir die Fragmentierung. Man hat den Eindruck, dass jedes Ministerium in Berlin eigene Entwicklungsprojekte hat und auch die Bundesländer bis zu den Landkreisen. Ich sehe auch bei vielen Projekten die Kohärenz nicht. In Indonesien zum Beispiel bauen die Chinesen Stahlhütten und Kohlekraftwerke, während wir Windräder und Solarzellen finanzieren.
Gemischtes Zeugnis aus Paris
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Was haben der Compact mit Afrika, die Reformpartnerschaften und die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft den Ländern im Süden gebracht?
Klein: Zunächst einmal muss man sich fragen, ob wir die richtigen Länder für Reformpartnerschaften ausgesucht haben; Äthiopien, die Côte d’Ivoire und Marokko gehören dazu. Die Maßstäbe für die Auswahl kann man kontrovers diskutieren. Was die Wirtschaft angeht: In unseren mittelständischen Firmen ist mehr Bewusstsein nötig, dass man in Afrika investieren kann, nicht nur in Schwellenländern. Zum Beispiel schafft die Firma Greentec in der Sahelzone sich selbst tragende dezentrale Energielösungen, die vor Ort die Energiepreise senken. Für so etwas wollen wir die Rahmenbedingungen verbessern.
Kekeritz: Bei Reformpartnerschaften spielen oft geostrategische und wirtschaftspolitische Interessen mit. Ein Grund, warum wir Äthiopien seit Jahrzehnten gestützt haben, ist, dass wir das Land für einen christlichen Stabilitätsanker in der Region hielten. Negativ ist auch, dass Gerd Müller öffentlich-private Partnerschaften (PPPs) als Selbstzweck vorangetrieben hat. Wir wissen, dass PPPs in Deutschland nicht funktionieren; wie sollen diese ausgerechnet in Afrika funktionieren, wo die institutionellen Voraussetzungen noch viel schlechter sind?
Sommer: Mit den sogenannten Reformpartnerschaften wird in erster Linie aus migrationspolitischen Gründen eine privilegierte Kooperation eingegangen: Die Partnerländer sollen dafür belohnt werden, dass sie Migrantinnen und Migranten aufhalten und zurücknehmen. Die Kehrseite ist eine entwicklungspolitische Mogelpackung, weil die Fluchtursachen damit gar nicht bearbeitet, geschweige denn beseitigt werden.
Hoffmann: Zu den Reformpartnerschaften haben wir mal die Bundesregierung gefragt, welche Kriterien gelten, um den Status wieder zu verlieren: Wie schlecht muss sich ein Land dafür benehmen? Darauf haben wir bis heute keine Antwort bekommen.
Frohnmaier: Wir finden es richtig, die Zahl der Partnerländer zu verringern. Man sollte mit den Willigen zusammenarbeiten, die bereit sind, die Regierungsführung zu verbessern und unsere Bedingungen zu erfüllen. Wir wollen zurück zu klaren Bedingungen im Geber-Nehmer-Verhältnis. Augenhöhe funktioniert da nicht.
Sommer: Das ist total anachronistisch. Ich bin gerne bereit, über die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit zu streiten, aber nicht mit der Attitüde, dass wir die Helfer sind und das Geld kappen, wenn etwas nicht unseren Interessen entspricht.
Nach welchen Kriterien wollen Sie die Partnerländer auswählen?
Frohnmaier: Das muss eine Win-Win-Situation sowohl für die Partner als auch für uns sein. Und wenn es heißt, wir wollen den ärmsten Ländern helfen: Die Entwicklungsmittel fließen vorwiegend in sogenannte aufstrebende Wirtschaftsmächte. Wir haben im Bundestag beantragt, die Zusammenarbeit mit diesen, besonders mit G-20-Staaten, zu beenden oder zu reduzieren. Es ist ja absurd, dass China bis heute zinsvergünstigte Kredite über die KfW erhält. Mit deutscher EZ gibt es Fortbildungen für chinesische Manager.
Hoffmann: Die KfW gibt Kredite an China, die offiziell als zinsverbilligt gelten, aber die Zinsraten sind im Grunde Weltmarktniveau. Damit macht die KfW Gewinn – sie verdient Geld, was den deutschen Steuerzahler entlastet. Das einzige, was wir als EZ in China wirklich bezahlen, ist Rechtsstaatsdialog. Natürlich sprechen wir dabei mit Managern und Gesetzgebern in einem Land, in dem es bisher überhaupt keine Steuergesetze gab und auch keine Zivilhaftung.
Zeigt Corona nun, dass der Ausbau der Gesundheitsversorgung im Süden stärker und längere Zeit aus dem Norden bezuschusst werden muss?
Hoffmann: Wir brauchen im Süden viel mehr Produktion von pharmazeutischen Produkten, das sollte die Entwicklungszusammenarbeit unterstützen. Dass wir Gesundheits- und Sozialsysteme anderer Länder dauerhaft unterstützen, halte ich nicht für sinnvoll, das ist finanziell gar nicht zu schaffen. Man kann aber zum Beispiel Mittel gegen Malaria finanzieren, an der jährlich Hunderttausende sterben. Eine Malariatablette kostet fünf Euro, das ist nicht viel.
Raabe: Zur Stärkung sozialer Sicherungssysteme haben wir seit 2008 regelmäßig mehrere Anträge im Bundestag eingebracht, das zum Schwerpunkt der deutschen EZ zu machen, da gehören natürlich Gesundheitssysteme dazu. Solange ein Land nicht selbst in der Lage ist, das zu finanzieren, braucht es Anschubfinanzierung.
Klein: Jetzt bei der Pandemie gibt Deutschland international weitaus am meisten für die internationale Finanzierung von Impfstoff. Das ist alles richtig. Daraus würde ich aber nicht ableiten, dass in Ländern des Südens das Gesundheitssystem aus dem Norden finanziert werden muss. Sondern die Finanzierungsmöglichkeiten vor Ort müssen gestärkt werden.
Sommer: „BMZ 2030“ sah vor, Gesundheit nur noch multilateral zu unterstützen; wir haben als Opposition erreicht, dass das zurückgenommen wurde und weiter bilaterale Zusammenarbeit bei der Gesundheit vorgesehen ist. Darüber sind wir sehr froh. Der Ausbau von öffentlichen Basisgesundheitssystemen muss ein Kernbereich der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sein.
Kekeritz: Es ist an der Zeit, dass im Süden Produktionskapazitäten für Medikamente und Impfstoff aufgebaut werden, denn die sind auch in Afrika profitabel zu betreiben und das bei angemessenen Preisen. Unser gegenwärtiger Ansatz in Europa – keine Freigabe von Patenten und keine Zwangslizenzen, wir produzieren hier und exportieren in den Rest der Welt – ist falsch und völlig unverantwortlich.
Das Gespräch führten Bernd Ludermann und Marina Zapf.
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