Seit November 2020 herrscht im Norden Äthiopiens Krieg. Äthiopische und eritreische Truppen kämpfen gegen Milizen der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF). Bei Regionalwahlen im September 2020, die die Zentralregierung in Adis Abeba verboten hatte, stimmten 98,2 Prozent der Bevölkerung für die TPLF. Wenige Wochen später marschierten Truppen der Zentralregierung in Tigray ein. Berichte von Massakern, ethnischen Säuberungen, blockierter humanitärer Hilfe und einer von den Kriegstreibern gewollten Hungersnot machen die Runde. Hunderttausende sind bereits geflohen. Doch neben der humanitären Katastrophe bahnt sich offenbar auch eine kulturelle Katastrophe an.
Kulturhistorisch ist Tigray eine der reichsten Regionen in Afrika mit einer Jahrtausende langen Geschichte. Viele Stätten werden von der UNESCO als Weltkulturerbe gelistet. Auch gilt die Region als Wiege des Christentums in Afrika südlich der Sahara. Zahlreiche Kirchen und Klöster aus dem fünften und sechsten Jahrhundert zeugen davon. Dieses Erbe ist nun in Gefahr. Augenzeugen berichten, religiöse Stätten stünden unter Beschuss, religiöse Kultgegenstände würden geplündert und Priester und Ordensleute vor den Augen der Gläubigen getötet.
Bereits Ende November hatten eritreische Truppen in Aksum bei einem zwei Tage dauernden Massaker mehrere Hundert Zivilisten getötet. Die Stadt war einst Zentrum des aksumitischen Kaiserreiches (100-940 n.Chr.) und gilt in der äthiopisch-orthodoxen Tewahedo-Kirche, zu der sich die überwiegende Mehrheit der Tigrayer zählen, bis heute als heilige Stadt. Dort soll nach äthiopisch-orthodoxem Glauben die Bundeslade stehen, in der nach biblischer Darstellung die zwei Steintafeln mit den Zehn Geboten aufbewahrt wurden.
Priester berichtet von Exekutionen mehrerer Kirchenleute
Im Januar 2021 wurde das Debre Dammo-Kloster im Norden von Tigray von eritreischen Truppen unter Beschuss genommen, weil sie dort Milizionäre der TPLF vermuteten. Debre Dammo wurde im sechsten Jahrhundert gegründet und ist für seine große Sammlung historischer Manuskripte bekannt. Die zum Kloster gehörige Kirche gilt als die älteste in Äthiopien.
In einem Webinar, zu dem der Brüsseler Thinktank EEPA Anfang Juni zahlreiche Augenzeugen aus Äthiopien zugeschaltet hatte, berichtete ein Priester von Razzien in seiner Kirche, weil dort ein Unterschlupf von TPLF-Milizen vermutet wurde. Die Soldaten hätten nach erfolgloser Durchsuchung mehrere Kirchenleute exekutiert, die er selbst dann habe begraben müssen. Auch aus seiner Kirche hätten die Soldaten wertvolle Gegenstände entwendet.
Älteste Moschee Afrikas wurde zerstört
Nicht nur die Christen in Tigray, die mit 95 Prozent die große Mehrheit bilden, trifft die Brutalität der Kriegstreiber. Auch die muslimische Bevölkerung bleibt nicht verschont. Ihre Geschichte geht ebenfalls weit in die Anfänge des Islam in Afrika zurück, also bis ins siebte Jahrhundert. In Al Negash im Norden Tigrays steht die älteste Moschee auf afrikanischem Boden. Ende November 2020 wurde sie von eritreischen und äthiopischen Truppen zerstört. Bei dieser Aktion wurden rund 80 Menschen getötet, wie ein Augenzeuge berichtete. Der Interreligiöse Rat von Tigray geht davon aus, dass bis Anfang Mai 326 Priester, Imame sowie Kirchen- und Moscheevertreter in anderen Funktionen getötet wurden. „Die Tötung von religiösen Führern und die Zerstörung von Gottesdiensträumen werden offensichtlich als Kriegswaffe eingesetzt“, heißt es in dem Bericht, aus dem ein Priester bei dem Webinar zitierte.
Autorin
Menschen fühlen sich schutzlos
Hagos Abrha Abay, Philologe und Kulturwissenschaftler an der Uni Hamburg, warnte vor den langfristigen psychologischen Auswirkungen auf die Bevölkerung. Religiöse Institutionen, spirituelle Orte und Volksglaube seien schon immer die letzte Hoffnung in Kriegen und bei Naturkatastrophen gewesen. Mit der Zerstörung von Kulturgütern werde bewusst die Gemeinschaft als solche in Frage gestellt.
Der Ethnohistoriker Wolbert Smidt, der sowohl an der Uni Jena als auch an der Mekelle-Universität in Tigray lehrt, sagte, um den Konflikt zu verstehen, müsse auf die Stimmen der Menschen vor Ort gehört werden. Sie fühlten sich in ihrem Glauben und in ihrer Identität als Gemeinschaft angegriffen. In Tigray gebe es eine sehr starke Tradition des Rechts auf ultimativen Schutz in heiligen Stätten. Genau das werde den Menschen in Tigray jetzt genommen. Ein Priester habe ihm gesagt, dass sie die Botschaft verstanden hätten, dass es für sie keine Zuflucht mehr und für die Gemeinschaft keinen Raum mehr gebe.
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