Der Hoffnungsträger Abiy in Wahrheit ein skrupelloser Kriegstreiber? Der Kollege, ein erfahrener Journalist, macht hier denselben Fehler ein zweites Mal: So wie er Abiy zunächst als Heilsbringer überhöht hat, verteufelt er ihn nun, indem er einen komplizierten Konflikt im Vielvölkerstaat Äthiopien auf seine Person reduziert. Aber so einfach ist es nicht.
Ahmed wollte mit der autoritären Politik brechen
Ein junger Äthiopier hat mir mal gesagt, Demokratie sei unmöglich in Äthiopien: Das würde das Land zerreißen. Bestätigt sich das jetzt? Abiy Ahmed hat nach seiner Wahl im April 2018 im Eiltempo umfassende demokratische Reformen eingeleitet. Er hat politische Gefangene freigelassen, Parteien zugelassen und der Opposition die Hand gereicht. Zugleich flammten schon bald nach seiner Wahl überall im Land gewaltsame Auseinandersetzungen entlang ethnischer Grenzen neu auf und wurden Rufe einzelner Volksgruppen nach Autonomie oder gar Abspaltung laut.
Die alte Regierungspartei EPRDF, in der wie in einer Blockpartei Vertreter der wichtigsten Volksgruppen saßen, hatte es fast 30 Jahre lang mit einer Strategie des „teile und herrsche“ geschafft, die Balance zu halten zwischen zentralisierter Macht und zumindest scheinbarer regionaler Selbstständigkeit. Abiy Ahmed wollte mit der autoritären Politik der EPRDF brechen, doch er macht bis heute nicht den Eindruck, als habe er eine Idee, wie der äthiopische Staat organisiert sein und wie er mit den Fliehkräften im Land umgehen soll.
Keine Dämonisierung des Friedensnobelpreisträgers
Als das kleine Volk der Sidama im Südwesten Äthiopiens sich per Referendum Ende 2019 zu einem eigenen Regionalstaat erklärte, lobte Abiy das noch als „Ausdruck des demokratischen Weges“, auf den sich das Land begeben habe. Etwas ganz anderes war es, als sich die Regierungspartei TPLF der Provinz Tigray im September 2020 in einer Wahl bestätigen ließ, um so ihre schwindende Macht zu sichern. Die TPLF hatte bis zum Amtsantritt von Abiy das Sagen in der EPRDF und somit die Macht im Staat und über die Wirtschaft Äthiopiens. Abiy wollte diese Vorherrschaft brechen, die Elite in Tigray wiederum wollte sich ihre Pfründen nicht nehmen lassen – die Folge ist der Krieg seit mehr als einem halben Jahr.
Die Dämonisierung des Friedensnobelpreisträgers führt also nicht weiter; es ist komplizierter. Richtig ist: Abiy ist als Regierungschef verantwortlich für den Krieg in Tigray, in dem bereits Tausende Menschen getötet und Hunderttausende vertrieben wurden. In Äthiopien sind Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie immer ethnisch aufgeladen und entsprechend gewaltträchtig. Deshalb war es unverantwortlich, dass Abiy das Militär nach Tigray marschieren ließ, selbst wenn zuvor die TPLF einen Armeeposten angegriffen haben sollte, wie die Regierung in Addis Abeba behauptet.
Zugang für internationale Beobachter und Helfer
Und erst recht unverantwortlich war der Ruf Abiys nach der Armee des Nachbarn Eritrea, ihn bei der Unterwerfung der TPLF zu unterstützen. Die äthiopische Regierung hat lange geleugnet, das eritreische Soldaten im Land sind – vielleicht auch deshalb, weil ihr selbst irgendwann klar geworden ist, welch gefährlichen Geist sie damit aus der Flasche gelassen hat. Menschenrechtsorganisationen berichten, vor allem eritreische Soldaten hätten unzählige Frauen vergewaltigt und Zivilisten grausam massakriert.
Abiy Ahmed trägt Verantwortung dafür, wie es in Äthiopien weitergeht. Der Premierminister hat seit Ausbruch des Krieges viele Fehler gemacht: Er hat zu lange vertuscht, was in Tigray geschieht, er hat zu lange gezögert, humanitäre Hilfe in die Region zu lassen. Abiy muss die Gewalt umgehend beenden, er muss internationale Beobachter und Helfer ungehindert ins Kriegsgebiet lassen und er muss dazu beitragen, dass mögliche Kriegsverbrechen unabhängig untersucht werden.
Vor allem muss Abiy auf die Menschen in Tigray und den anderen Regionen Äthiopiens zugehen und gemeinsam mit ihnen daran arbeiten, wie sie künftig in einem Staat zusammenleben können. Der Friedensnobelpreisträger hat einen Ruf zu verlieren. Und im schlimmsten Fall sein Land.
Neuen Kommentar hinzufügen