Raubzüge im Dienst des Staates

Pierre Gleizes, Laif
Was hat der Trawler vor der Küste des Senegal gefangen? Beamte des westafrikanischen Landes ­kontrollieren 2017 auf See das Grundschleppnetz eines chinesisch-­senegalesischen Fischers.
Fischerei
Chinas gigantische Fischereiflotte fischt die Weltmeere leer. Die ­Regierung bezahlt das und verfolgt damit an einigen Orten auch ­militärische Ziele.

Am 5. August 2017 verhängte China formell Sanktionen gegen Nordkorea, darunter einen Boykott von Fischimporten von dem östlichen Nachbarn. China folgte damit einem Beschluss der Vereinten Nationen. Fischfang, insbesondere der von Tintenfisch, gehört zu den wenigen bedeutenden Devisenbringern Nordkoreas. Die Sanktionen sollten den Druck auf das Regime erhöhen.

Allerdings verließen nur wenige Wochen nach Inkrafttreten des Verbots Hunderte auf Tintenfischfang spezialisierte Schiffe die chinesischen Gewässer und umrundeten die Südspitze Südkoreas. Sie drangen in die 200 Seemeilen tiefe Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) Nordkoreas ein und verdoppelten damit laut einem Bericht der Organisation Global Fishing Watch fast die Zahl der dort operierenden chinesischen Trawler von 557 auf 907. Der kürzlich veröffentlichte Bericht beruht auf Daten von vier verschiedenen Satellitensystemen. Während China öffentlich behauptet, die Sanktionen einzuhalten, pendelten weiterhin viele chinesische Schiffe zwischen Nordkorea und ihrem Heimatland, sagt Jaeyoon Park, einer der Hauptautoren des Berichts.

Die chinesische Flotte habe eine gewaltige Menge an Tintenfisch aus dem Meer geholt, fast so viel wie im selben Zeitraum der gesamte Tintenfischfang aus japanischen und südkoreanischen Gewässern zusammen, schätzt der Bericht. Die Chinesen dezimierten die Tintenfischpopulation vor Nordkorea demnach so stark, dass der Fang der japanischen und südkoreanischen Fischer stark einbrach, obwohl diese wandernden Arten ansonsten reichlich vorhanden sind.

Damit chinesische Schiffe die Bestände ungestört ausbeuten konnten, verjagte die nordkoreanische Marine sogar die eigenen nordkoreanischen Boote aus ihren angestammten Fischgründen, sagt Peter Oh, ein Überläufer aus Nordkorea und Spezialist für die Ernährungssituation in seiner Heimat, der für Radio Free Asia arbeitet. Die chinesischen Eindringlinge fischten auf Einladung der nordkoreanischen Regierung. Unter Berufung auf südkoreanische Geheimdienstquellen erklärte Oh, Nordkorea habe China seit Anfang 2017 etwa 3000 Lizenzen für Fischereifahrten verkauft, im Jahr davor seien es nur 900 gewesen. Jede dieser Lizenzen kostet ungefähr eine halbe Million Yuan (73.000 Dollar), womit sich Pjöngjang 220 Millionen Dollar des auf eine Milliarde Dollar geschätzten Verlustes durch die Sanktionen zurückholen konnte. 

Raubzug in nordkoreanischen Gewässern

Durch den Tintenfisch-Raubzug in nordkoreanischen Gewässern hat China einem ohnehin an Unterernährung leidendem Volk eine seiner wichtigsten Proteinquellen genommen. Drei Jahre lang konnten sich einfache Nordkoreaner praktisch keinerlei tierisches Eiweiß leisten. Ihnen blieb nur noch ein nährstoffarmes Sojaprodukt, von den Nordkoreanern „menschengemachtes Fleisch“ genannt, sagt Oh. Er bezieht diese Informationen von Quellen in der chinesischen Grenzstadt Dandong, über die 80 Prozent des Handels zwischen den beiden Staaten laufen. Von dem wenigen Tintenfisch, den die Nordkoreaner noch fangen konnten, ging ein Großteil an die nordkoreanische Elite und das Militär. „Auf den Märkten findet man, wenn überhaupt, nur stinkenden und faulen Tintenfisch“, sagt Oh. Aus anderen Quellen wiederum weiß man, dass die Chinesen nicht nur Tintenfisch fangen, weshalb auch andere Fischsorten von den nordkoreanischen Märkten verschwunden sind. Der ungezügelte Fischraub endete erst im vergangenen Sommer, als Nordkorea die chinesischen Schiffe aus Furcht vor Corona zu vertreiben begann, erklärt Oh.

Autor

Christopher Pala

berichtet als Journalist aus der Pazifikregion und aus Zentralasien. Er lebt in Washington DC.
Mit derlei rücksichtslosen Praktiken steht China keineswegs allein da. Allerdings sticht Chinas hochsubventionierte Fischfangflotte allein durch ihre schiere Größe deutlich heraus. Nach einem Bericht des britischen Overseas Development Institute besitzt das Land die größte Hochsee-Fischereiflotte der Welt. In den Jahren 2017 und 2018 wurden rund 12.500 Schiffe gezählt, die außerhalb Chinas Wirtschaftszone auf Fang gingen. Die Zahl ist vielfach größer als frühere Schätzungen und weicht stark von Chinas eigenen Angaben ab, nur mit 3000 Schiffen in internationalen Gewässern und den Hoheitsgebieten anderer Länder unterwegs zu sein. Zum Teil ist die Differenz darauf zurückzuführen, dass China die im Seerechtsvertrag der Vereinten Nationen festgelegten Seegrenzen nicht anerkennt.

China ist zudem das einzige Land, dessen Fischereiflotte eine geopolitische Aufgabe erfüllt, indem sie die Gewässer schwächerer Länder besetzt und chinesische Ansprüche auf die Hoheit über größere Zonen demonstriert. Zu den üblen Folgen dieser Politik gehört, dass die Volksrepublik mit ihrer riesigen Flotte ärmeren Ländern bis nach Westafrika dringend benötigte Eiweißquellen raubt. Die 1,4 Milliarden Chinesen konsumieren nicht nur 38 Prozent der weltweiten Fischproduktion, sondern liegen auch im Pro-Kopf-Verbrauch an Fisch und Meeresfrüchten vorn. Den Fisch aus Zuchtbetrieben miteingerechnet, beträgt er heute 37,8 Kilo pro Kopf und Jahr gegenüber nur sieben Kilogramm im Jahr 1985. Diese Zahlen hat Peking der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen gemeldet.

Zwar wurde schon oft über die chinesische Praxis der Überfischung berichtet. Aber erst seit kurzem ist es möglich, das ungeheure Ausmaß zu dokumentieren – mit Hilfe der Daten, die Global Fishing Watch dank neuer Satellitentechnik erhält. Eigentlich zum Aufspüren von Schiffen gedacht, die Sanktionen verletzen, lässt sich mit ihr auch verfolgen, wie Chinas Fischereiflotte an so vielen Orten so schnell und so viel Meeresfrüchte wie möglich einholt, oft illegal und ohne Rücksicht darauf, wie sich das auf unterernährte Menschen und die Fischbestände auswirkt.

Empört protestieren Philippiner vor Chinas Konsulat in Manila Mitte 2018: China hat den Fang ­philippinischer Fischer im umstrit­tenen Seegebiet konfisziert.

Nicht die einzelnen Kapitäne sind dafür verantwortlich. Es ist vielmehr das politische Kalkül der chinesischen Regierung, denn die meisten Schiffe werden von ihr bezahlt. Die Regierung kommt für die größte Betriebsausgabe der Flotte auf, den Treibstoff. Laut Rashid Sumaila, Fischereiökonom an der University of British Columbia, belaufen sich Chinas jährliche Beihilfen auf 5,9 Milliarden Dollar. Das sind ungefähr 347.000 Dollar pro Schiff und Jahr – viel mehr, als jedes andere große Land seinen Fischern zahlt. Die Schiffe der Europäischen Union, die ebenfalls stark subventioniert werden, erhalten lediglich 23.000 Dollar pro Jahr, sagt Sumaila.
Die Gewässer vor Argentinien zählen zu den wenigen Gebieten, in denen es noch reichlich Meeresfrüchte gibt. Etwa 250 chinesische Schiffe fangen Tintenfisch unmittelbar vor Argentiniens 200-Meilen-Wirtschaftszone, die sie gelegentlich auch verletzen. Im Jahr 2018 wurde ein argentinisches Kriegsschiff, das einen solchen Eindringling verfolgte, von drei chinesischen Fischereibooten bedrängt und beinahe gerammt. „Hier herrscht buchstäblich Krieg“, sagt Milko Schvartzman, früher Kampagnenleiter von Greenpeace und Fischereiexperte: „Das wird früher oder später in einer Tragödie enden, da bin ich mir sicher.“

Chinas südatlantische Fischereiflotte ist in Montevideo stationiert, der Hauptstadt und dem größten Hafen von Uruguay, Argentiniens nördlichem Nachbarn. Uruguay scheint China und seiner  Fischereiflotte freie Hand zu geben. „Ausländische Schiffe werden nicht wirklich kontrolliert“, sagt Schvartzman.

Normalerweise fahren Fischtrawler unter der Flagge ihres Heimatlandes, das die Regeln für die Bezahlung der Arbeiter und deren Arbeitsbedingungen vorgibt, Sicherheits- und Umweltauflagen überwacht und bestimmt, wo und wann gefischt werden kann. Um diese kostentreibenden Regeln zu umgehen, registrieren viele Reedereien ihre Schiffe in sogenannten Billigflaggenländern wie Liberia, Panama und einigen pazifischen und karibischen Inselstaaten. Chinas Behörden bieten jedoch selbst sehr großzügige Regelungen, sodass nur wenige chinesische Schiffe unter Billigflaggen fahren. „Ihre eigene Flagge ist schon eine Billigflagge“, sagt Schvartzman. „Und einen Billighafen haben sie auch gefunden, einen Piratenstützpunkt: den Hafen von Montevideo.“ Im Jahr 2018 präsentierten die Chinesen Pläne zum Bau eines eigenen Hafens westlich von Montevideo, zu dem auch gigantische Anlagen zur Verarbeitung des Fangs von 500 Schiffen gehörten. Das Projekt hatte die Unterstützung des Präsidenten von Uruguay, platzte jedoch aufgrund heftigen Widerstands aus der betroffenen Region.

Fischmehlfabriken  in Nordwestafrika gebaut

In Mosambik waren die Chinesen erfolgreicher. Im Jahr 2017 übernahmen sie praktisch den Hafen von Beira und verdoppelten dessen Kapazität, so dass sie dort nun 100 Trawler versorgen können, wie Pierre Failler, Fischereiökonom und Leiter des Zentrums für Blaue Regierungsführung (Centre for Blue Governance) an der Universität Portsmouth berichtet. Die Straße von Mosambik zwischen Madagaskar und dem ostafrikanischen Land war bis dahin noch relativ unberührt von Fischerei, so dass die chinesische Flotte dort pro Jahr über 60.000 Tonnen großer, hochwertiger Grundfische wie Meerbrassen und Zackenbarsche aus dem Wasser holen konnte. Alle gingen nach China. „Für diese Fischeirechte zahlen sie der Regierung ein Almosen“, erklärt Failler. „Nun klagen die einheimischen Fischer, dass sie nichts mehr fangen.“

Auf der anderen Seite des Kontinents, in Nordwestafrika, haben die Chinesen rund 20 Fischmehlfabriken gebaut, die Sardinellen verwerten, einen einst im Überfluss vorhandenen, sehr nahrhaften Fisch von der Größe einer Makrele. Nun wird er zu Futter für Aquakulturen und Geflügel verarbeitet. Ähnlich wie im Fall der nordkoreanischen Tintenfische waren in der winterlichen Trockenzeit in der verarmten Region geräucherte Sardinellen früher die wichtigste preiswerte Eiweißquelle. Die von chinesischen Unternehmen gebauten Fischmehlfabriken kaufen nun aber so viele Sardinellen auf, dass für den lokalen Markt kaum noch etwas übrigbleibt. „Es ist eine Katastrophe“, sagt Mustapha Manneh, ein gambischer Journalist. „Die Gambier brauchen diesen Fisch für ihre tägliche Ernährung.“ In seiner Heimatstadt Kartong ist der Preis für Sardinellen um das Fünffache gestiegen. Weiter landeinwärts in Koina, wo die trockene Sahelzone beginnt, hat sich ihr Preis gar verzehnfacht.

Fischer im ostchinesischen Qingdao entladen im Herbst 2020 ihren Fang und verkaufen ihn gleich am Hafen. Mit dem Wohlstand ist in China der Fischverzehr stark gestiegen.

Daniel Pauly, ein Fischereiwissenschaftler an der University of British Columbia, ist Mitverfasser einer Studie, der zufolge 90 Prozent des Fischmehls aus Fischen wie Sardinellen hergestellt wird, die für den menschlichen Verzehr perfekt geeignet sind. Die Ausbeutung dieser Ressource hat einen Kreislauf der Zerstörung geschaffen, der von Regierungen angeheizt wird: Sie subventionieren unrentable Fischereiflotten, die Jagd auf immer stärker abnehmende Fischpopulationen machen. Die Hälfte des weltweiten Fangs, der zum großen Teil direkt aus den Gewässern armer Länder oder deren unmittelbarer Nähe stammt, wird zu Fischmehl verarbeitet, das an Zuchtfische wie Lachse verfüttert wird, welche dann in reichen Ländern konsumiert werden.

Fischereiflotte als Expansions­instrument

„Würden die Subventionen eingestellt, würde sich der Fischfang halbieren, die Fischbestände würden sich erholen und verdoppeln“, erklärte Pauly. „Man könnte dann den ursprünglichen Fang auf nachhaltige Weise wieder verdoppeln, wozu es keine Subventionen bräuchte, und man müsste auch nicht mehr so viel Fisch züchten“, fügt er hinzu. „Wir stecken in einem Teufelskreis, obwohl es doch eine so einfache Lösung gäbe.“

Außer ihrer gigantischen Größe und der extremen Höhe der Subventionen zeichnet sich die chinesische Fischereiflotte noch durch eine dritte Besonderheit aus: Peking nutzt sie als Expansions­instrument. Es war der Präsident der Republik China, Chiang Kai-shek, der 1947 zuerst Anspruch auf große Teile der Südchinesischen See erhob – eine Forderung, die dann vom Gründer der Volksrepublik China, Mao Zedong, übernommen wurde. Greg Poling, Chinaexperte am Zentrum für Strategische und Internationale Studien in Washington, sagt, dass China seit den 1970er Jahren Fischer dafür bezahlt, ihre Netze um die Paracel-Inseln und seit den 1980ern auch um die Spratly-Inseln auszuwerfen, um so chinesische Ansprüche zu untermauern. Beide Inselgruppen werden zumindest in Teilen auch von Brunei, Malaysia, den Philippinen, Taiwan und Vietnam beansprucht.

China ist das einzige Land der Welt, das eine strategische Fischereiflotte unterhält. Von der Besatzung der Schiffe, die im Südchinesischen Meer operieren, sagt Poling: „Teilweise gehören sie offiziell zur Miliz, das heißt, sie fischen überhaupt nicht – sie benutzen die Fischerboote nur, um die Flotte zu überwachen, deren Versorgung sicherzustellen oder fremde Boote zu rammen.“ Der Fischereiwissenschaftler Pauly fügt hinzu: „So verhält man sich nur im Krieg.“ Philip Chou, ein Berater der in Washington ansässigen Meeresschutzorganisation Oceana, sagt, dass die Chinesen in den Wirtschaftszonen Indonesiens, der Philippinen und Vietnams nicht nur fische: „Sie verhindern auch, manchmal mit Gewalt, dass die Fischer dieser Länder dort auf Fang gehen können.“

Bei all dem enormen Schaden, den sie anrichtet, operiert die chinesische Fischereiflotte – mit Ausnahme ihres strategischen militärischen Flügels im Südchinesischen Meer – immer noch innerhalb der Grenzen dessen, was Pauly als „korruptes, chaotisches internationales System“ bezeichnet. Solange andere Länder ihre Flotten subventionieren, wird China das auch tun. Würde China seine Subventionen einstellen, sagt Pauly, würde es damit allein dastehen auf der Welt und die Hälfte seines Fangs verlieren. Insbesondere die Europäer seien ebenfalls in großem Maßstab in illegalen Fischfang verwickelt, meint Vanya Vulperhorst, Leiterin der Kampagne von Oceana gegen diese Praktiken. Sie benutzten häufig Boote unter anderen Flaggen, um die Regeln zu umgehen. So ist zum Beispiel der illegale Markt für Blauflossenthunfisch im Mittelmeer laut Europol doppelt so groß wie der legale. 

Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer. In der Welthandelsorganisation (WTO) wird über ein Abkommen verhandelt, die Fischereisubventionen zu senken (die Gespräche mussten Ende 2020 vertagt werden). Isabel Jarrett, die das Projekt des Pew Charitable Trusts zur Reduzierung schädlicher Fischereisubventionen leitet, ist zuversichtlich, dass China seine Subventionen kürzt, wenn alle anderen mitziehen. Bis dahin wird Pekings Monsterflotte jedoch die Meere leerfischen, und Millionen verarmte Nordkoreaner, Afrikaner und andere werden hungern.

Dieser Artikel ist zuerst englisch in „Foreign Policy“ erschienen. Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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