Das Gemeinwohl muss Vorrang haben

Zum Thema
Traditionelle Medizin gegen Covid-19
Wolfgang Ammer
Pandemiebekämpfung
Covid-19 hat in den USA und in Europa Hunderttausende Todesopfer gefordert – und in Afrika ist die erwartete Katastrophe ausgeblieben. Beim Umgang mit Seuchen könnten westliche Länder einiges von Entwicklungs­ländern lernen.

Anders als einige westliche Länder haben afrikanische rechtzeitig, entschlossen und gemeinsam auf die Pandemie reagiert. Es gab starke Führung auf nationaler wie auf kontinentaler Ebene. Afrikanische Länder haben gezeigt, dass das Gemeinwohl in einer tödlichen Pandemie Vorrang vor persönlicher Freiheit haben sollte. Ihren Erfolg bei der Wahrung des Gemeinwohls könnte man auf „Ubuntu“ zurückführen, jene Geisteshaltung, welche die Gemeinschaft betont. Dieser Geist hat es auf dem afrikanischen Kontinent erleichtert, die Menschen zu überzeugen, Ratschläge aus dem Gesundheitswesen zu befolgen. Das gelang, indem einflussreiche Führungspersönlichkeiten in den Gemeinschaften dafür warben.

Im März 2020 zum Beispiel brachte Pastor Enoch Adeboye, einer der einflussreichsten Religionsführer in Nigeria, seine Gemeinde dazu, Gottesdienste ins Internet zu verlegen, und legte seinen Anhängern eindringlich nahe, die Hände zu waschen und Abstand zu halten. Das war wichtig, weil seine Kirche, die Redeemed Christian Church of God, die größte Nigerias ist mit Ablegern in zahlreichen Ländern. Pastor Adeboyes Einfluss reicht über die Mitglieder seiner Kirche hinaus auch in andere christliche Gruppen hinein. In den USA bestätigte etwa zur selben Zeit der Oberste Gerichtshof den Anspruch einiger Religionsgruppen, ihre physischen Versammlungen fortzusetzen. Im Nachhinein betrachtet hätte der Gouverneur von New York in diesen Religionsgruppen Überzeugungsarbeit leisten müssen, damit sie auf Zusammenkünfte verzichteten. Dann wären ein Verbot und der Rechtsweg vielleicht nicht nötig gewesen.

Afrikas Reaktion auf Covid-19 beruht auch auf Erfahrungen damit, sich ständig gleichzeitig auf mehrere Infektionskrankheiten vorbereiten und auf sie reagieren zu müssen. Zum Beispiel hatte Nigeria Ende 2020 mit Gelbfieber, Lassafieber und weiteren Infektionskrankheiten zu kämpfen. Kenia und Äthiopien waren mit Ausbrüchen von Masern und Cholera beschäftigt. Um auf all diese Epidemien vorbereitet zu sein, haben afrikanische Länder viel investiert; das hat bei der Reaktion auf Covid-19 geholfen. 

Nigeria hat die Kontaktverfolgung im Griff

Für die Vorbereitung auf Epidemien sind die Überwachung und Meldung von Krankheitsfällen wichtig. Beides erfordert eine aktive Beteiligung der Bevölkerung. Seuchen beginnen ja in lokalen Gemeinschaften. Entscheidend ist daher ein Meldewesen für Krankheitsfälle, das in den Kommunen beginnt und über die Ebenen dazwischen bis zu den Instituten des nationalen Gesundheitswesens reicht. Dafür ist das System für integrierte Krankheitsüberwachung und Reaktion (Integrated Disease Surveillance and Response, IDSR) hilfreich, welches das Regionalbüro der Weltgesundheitsorganisation WHO geschaffen hat und das Staaten des subsaharischen Afrika nutzen. Dabei melden Beobachter an der Basis, sogenannte community monitors, verdächtige Fälle an die Zuständigen für Krankheitsüberwachung und -meldung. Die tragen diese Daten für die lokalen Verwaltungseinheiten zusammen, dann gehen sie an die Bundesländer und dann an Büros auf nationaler Ebene. In Nigeria ist dieser Prozess digitalisiert, so dass alle 774 lokalen Verwaltungseinheiten einbezogen sind. Dies hat stark dazu beigetragen, bei Covid-19 in Nigeria die Kontaktverfolgung und die Ermittlung aktiver Fälle zu verbessern. Im Gegensatz dazu wird in den USA noch immer gestritten, wie Kontakte nachverfolgt werden.

Die afrikanischen Länder haben auch keine Zeit verloren, bevor sie ihre Grenzen für alle ausländischen Besucher schlossen. Nigeria, Südafrika und Ruanda verzeichneten ihre ersten Covid-19-Fälle am 27. Februar, 5. März beziehungsweise 14. März 2020. Die drei Länder schlossen ihre Grenzen innerhalb von einer bis vier Wochen. Ruanda ging als erstes afrikanisches Land so vor. Die USA und die meisten europäischen Länder waren viel weniger konsequent. Bemerkenswert ist eine Ausnahmeregelung in Großbritannien, wonach einige Geschäftsreisende, die Geschäfte mit hohem Wert machen, von der Pflicht zur vorgeschriebenen Selbstisolation ausgenommen waren. Das ist widersinnig. Das Virus hat keinen Respekt vor bestimmten Personen; also sollte niemandem irgendein Privileg eingeräumt werden, welches die Verbreitung der Pandemie begünstigen kann – besonders nicht sehr vermögenden Geschäftsleuten, die häufig reisen und potenzielle Überträger der Krankheit sind.

Autor

Ifeanyi McWilliams Nsofor

ist Absolvent der Liverpool School of Tropical Medicine und Senior Fellow für Gesundheitsgerechtigkeit an der George-Washington-University (USA). Er führt die Firma EpiAfric, die Beratung im Gesundheitswesen in Afrika anbietet, und die politische Arbeit von Nigeria Health Watch.
In Afrika ist die Reaktion auf Covid-19 von wissenschaftlichen Erkenntnissen geleitet. Schon das Prinzip des Engagements lokaler Gemeinden ist wichtig für den Schutz der öffentlichen Gesundheit und beruht auf wissenschaftlichen Befunden. Einige afrikanische Länder schätzen die tatsächliche Verbreitung von Covid-19 wissenschaftlich ab. Im November berichtete das Rwanda Biomedical Centre, die nationale Gesundheitsbehörde, dass in einer Drive-Through-Teststelle mehr als 2000 Abstriche für Corona-Tests genommen worden waren, kein einziger war positiv.

Eine wichtige Lehre aus Nigerias Reaktion auf Covid-19 ist die beispiellose Unterstützung aus der Privatwirtschaft über die „Koalition des Privatsektors gegen Covid-19 ”. Sie wird von Afrikas reichstem Mann Aliko Dangote angeführt und hat Spenden im Wert von mehr als 72 Millionen US-Dollar eingeworben, um die Strategie zur Covid-19-Bekämpfung zu unterstützen – etwa durch die Verbesserung von Laboren, den Bau und die Ausstattung von Isolationszentren und die Versorgung mit Schmerzmitteln.

In Uruguay wird Covid-19 als Berufskrankheit eingestuft

Außerhalb von Afrika sind Uruguay und Vietnam Beispiele für Länder mit mustergültigen Strategien gegen die Pandemie. Uruguays Präsident Luis Lacalle Pou appellierte an das Volk, dem Sinn für das Gemeinwohl zu folgen, zu Hause zu bleiben und die Anweisungen der Regierung zu befolgen. Nach dem ersten im Land dokumentierten Fall schloss der Präsident alle öffentlichen Veranstaltungen und Einrichtungen, die Menschenmengen anziehen wie Bars, Kirchen und Einkaufszentren. Die Regierung stufte Covid-19 zudem als Berufskrankheit ein; das bedeutet, dass Angehörige der Gesundheitsberufe, die sich während der Arbeit infizieren, eine kostenlose Behandlung erhalten und der Staat teilweise für ihre Bezüge aufkommt.

Wie die afrikanischen Länder hat Vietnam Erfahrung mit Ausbrüchen verschiedener Infektionskrankheiten. Eine war das Schwere Akute Respiratorische Syndrom, bekannt als Sars. Entscheidend für die erfolgreiche Reaktion auf Covid-19 waren außerdem, dass die Regierung der Gesundheit Vorrang vor der Wirtschaft gibt, schnell das Militär eingesetzt und gemeindenahe Organisationen mobilisiert hat und dass sie transparent über die Risiken informiert hat.

Die verbreiteten Ausgangssperren in den Städten afrikanischer Länder allerdings hatten schädliche wirtschaftliche Folgen. In Afrika sind über vier Fünftel der Beschäftigten nicht angestellt, sondern informell tätig. Sie verdienen ihr Geld von Tag zu Tag die Lockdowns haben das unterbunden. Dazu haben die meisten afrikanischen Staaten keine gut organisierten sozialen Sicherungssysteme und weniger als zwei Fünftel der Erwachsenen verfügen über ein Bankkonto. Das machte es schwierig, den Armen während des Lockdowns finanzielle Hilfe zu schicken; die Regierungen haben aber Nahrungsmittel an Haushalte mit niedrigen Einkommen verteilt.

In  westlichen Ländern ist es an der Zeit, dass politische Führer ihren Bürgern verständlich machen, wie wichtig es ist, dem Gemeinwohl Vorrang zu geben. Dies ist nötig, um die Pandemie zu stoppen – auch dann, wenn Impfstoffe gegen Covid-19 verfügbar sein werden.

Aus dem Englischen von Christine Lauer.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2021: Gesundheit weltweit schützen
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