Tödliche Infektionskrankheiten haben in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder die Aufmerksamkeit auf länderübergreifende, internationale und zunehmend auch globale Gesundheitsprobleme gelenkt. Die Schweinepest, die Vogelgrippe, das SARS- und das MERS-Virus, die beide ebenfalls eine akute schwere Lungenschwäche verursachen, oder auch die Ebola-Ausbrüche in Afrika und das Zika-Virus in Südamerika haben die Weltgemeinschaft schon vor Covid-19 beschäftigt. Globale Gesundheit, englisch Global Health, stand deshalb schon vor der heutigen Pandemie weit oben auf der internationalen politischen Agenda. Dazu hat auch die Bundesregierung unter Angela Merkel beigetragen, indem sie Global-Health-Themen auf die Tagesordnung internationaler Foren und Gipfeltreffen platzierte. Im Oktober 2020 hat sie ihre Strategie dazu veröffentlicht unter dem Titel „Verantwortung – Innovation – Partnerschaft: Globale Gesundheit gemeinsam gestalten“.
Die wachsende politische Bedeutung von Global Health ist so überfällig wie begrüßenswert. Allerdings ist das übliche Verständnis von Global Health nicht erst seit dem Ausbruch von Covid-19 stark auf globale Seuchengefahren und die Übertragung ansteckender Krankheiten aus dem globalen Süden in die reichen Länder des Nordens ausgerichtet. Aber auch wenn es derzeit so erscheinen mag: Infektionskrankheiten sind keineswegs die einzige Anforderung für die globale Gesundheit. Diese ist untrennbar mit der Globalisierung verknüpft und spiegelt immer engere Verflechtungen in wichtigen Lebensbereichen wie Politik, Wirtschaft, Kultur und Umwelt wider. Das zeigt zum Beispiel das weltweit zunehmende Problem von Antibiotikaresistenzen. Grund dafür ist längst nicht nur die Verwendung dieser Medikamente in der Humanmedizin, sondern auch ihr massenhafter Einsatz in der industrialisierten Fleisch-, Milch-, Fisch-, Obst- und Gemüseproduktion.
Zunehmende Digitalisierung, neue Kommunikationsmittel und vor allem die Liberalisierung des Welthandels und die Internationalisierung der Produktion mit Verlagerung von Standorten nach Effizienzkriterien haben überall auf der Welt tiefgreifende Veränderungen im täglichen Leben mit sich gebracht. Billige Produktionsstandorte zeichnen sich in aller Regel nicht nur durch niedrige Lohnkosten, sprich schlechte Bezahlung der Arbeitskräfte aus. Sondern auch durch schlechte Arbeitsbedingungen und fehlenden Arbeitsschutz, unzureichende Umweltauflagen, fehlende soziale Absicherung und andere Faktoren, die sich allesamt schädigend auf die Gesundheit nicht nur der Beschäftigten, sondern aller Menschen im Einzugsgebiet auswirken.
Die mit der Globalisierung einhergehenden Umbrüche sind nicht ohne Folgen für die Gesundheit der Menschen geblieben. Hoher Arbeitsdruck und dauerhaft beschleunigte Alltagsabläufe erzeugen Stress und setzen viele Erwerbstätige überall auf der Welt großen direkten und indirekten Gesundheitsrisiken aus. Die infolge der Globalisierung veränderten Arbeits- und Lebensweisen wirken sich auf die körperliche, seelische und soziale Gesundheit aus. So nehmen aufgrund veränderter Ernährung mit teilweise importierten kohlenhydrat- und fettreichen Nahrungsmitteln in Entwicklungs- und vor allem in Schwellenländern Fettleibigkeit und Diabetes dramatisch zu.
Zwei Arten von Krankheiten
Am stärksten ist das in Mexiko so. Dort hat der nördliche Nachbar vor allem nach der Gründung der Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA das Land mit Fast Food und gezuckerten Softdrinks überschwemmt, die für die wachsende und besserverdienende Mittelschichten erschwinglich waren und die traditionelle Ernährung verdrängten. Heute ist Mexiko das Land mit dem weltweit größten Anteil massiv Übergewichtiger, Diabetiker und aktuell auch mit den höchsten Sterberaten an Covid-19. Denn Fettleibigkeit stellt nicht nur für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sondern auch für Corona einen der größten Risikofaktoren dar. Insgesamt gleichen sich Krankheitsbilder weltweit an: Tendenziell sinkt mit steigendem Pro-Kopf-Einkommen der Anteil der Infektionen an der Krankheitslast, und der Anteil nichtübertragbarer Krankheiten wie Diabetes, Herzkranz- oder anderer Gefäßerkrankungen steigt. Die meisten Entwicklungs- und Schwellenländer kämpfen heute mit beiden Arten von Krankheiten und stehen durch diese doppelte Last vor besonderen Problemen.
Zwar bestätigt und unterstreicht die Covid-19-Pandemie die große globale Bedeutung hochansteckender, dramatischer Infektionskrankheiten, ihrer möglichen Verbreitung über den Globus und die damit verbundene Bedrohung auch des reichen Teils der Welt. Aus epidemiologischer Sicht weitaus bedeutsamer sind weltweit allerdings die sogenannten nichtübertragbaren, chronischen Erkrankungen, die Betroffene dauerhaft belasten und oft dazu führen, dass sie lebenslang versorgt werden müssen. So fordern Herz-Kreislauf-Erkrankungen, in erster Linie Herzinfarkte und Schlaganfälle, inzwischen die meisten Todesopfer, und zwar nicht nur in den einkommensstarken Ländern des globalen Nordens, sondern auch in vielen Entwicklungs- und in allen Schwellenländern. Nur in den ärmsten Staaten der Welt, vor allem im südlichen Afrika, sind Infektionskrankheiten eine führende Todesursache, allen voran im Übrigen nicht Ebola oder Corona, sondern Tuberkulose und Malaria.
Während die Verteilung der Krankheitslast weltweit immer einheitlicher wird, wachsen die gesundheitlichen Ungleichheiten innerhalb der Länder. Nie gab es so viel Wohlstand auf der Erde, gleichzeitig nimmt die Ungleichverteilung von Gesundheitschancen eher zu als ab. Die Verringerung, wenn nicht Überwindung, dieser Ungleichheit bei Gesundheit und Krankheit gehört zu den wesentlichen Aufgaben des Ansatzes von Global Health.
Nationale, regionale und globale Gesundheitsfragen
Als konsequente Weiterentwicklung von „Public Health“, also „Öffentlicher Gesundheit“ als praktischer öffentlicher Gesundheitsdienst, aber auch als akademische Disziplin der Gesundheitswissenschaften, bearbeitet Global Health nationale, regionale und globale Gesundheitsfragen. Dabei betrachtet der Ansatz in erster Linie die krank machenden und gesund erhaltenden Bedingungen, die sogenannten nicht medizinischen Determinanten von Gesundheit, sowie Möglichkeiten der Vorbeugung und Gesundheitsförderung.
Nicht nur das Gesundheitswesen, sondern etliche weitere gesellschaftliche Bereiche nehmen Einfluss auf die Gesundheit. Daher braucht es eine Zusammenarbeit zwischen Politik, Wissenschaft und Gesellschaft ebenso wie ein umfassendes Verständnis der komplexen Zusammenhänge und ressortübergreifendes Handeln. Das Konzept der globalen Gesundheit verfolgt einen umfassenden, ganzheitlichen, multidisziplinären und auf den Menschenrechten beruhenden Ansatz. Als Synthese von Public Health mit einer nationalen Ausrichtung und International Health (internationale Gesundheit) mit ihrem Blick auf Tropenmedizin und Entwicklungshilfe befasst sich Global Health jenseits des Einflusses einzelner Staaten mit gesundheitlichen Fragen und verfolgt dabei einen ausdrücklich politischen Ansatz.
Der Begriff „Global Health“ oder „Globale Gesundheit“ entstand in den 1990er-Jahren und setzte sich um die Jahrtausendwende durch. Das Konzept ist allerdings nicht vom Himmel gefallen, sondern hat sich aus der Kolonialmedizin des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts über die internationale Gesundheit und Tropenmedizin entwickelt. Das Verständnis von globaler Gesundheit verbindet lokales und weltweites Vorgehen, geht dabei aber über die geografische Bedeutung von „global“ hinaus. Der Anspruch ist universell: Global Health ist ein explizit politisches Konzept, das gesellschaftliche Ungleichheit, die asymmetrische Verteilung von Macht und Ressourcen sowie Fragen der politischen Steuerung berücksichtigt und Gesundheit als auf Rechten gegründetes, universelles Gut betrachtet.
Autor
Jens Holst
ist Professor für Medizin mit Schwerpunkt Global Health am Fachbereich Pflege und Gesundheit der Hochschule Fulda.
Global Health schließt auch das Ziel „Gesundheit für alle“ ein – und zwar weltweit –, auf das sich die damals 134 Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mehr als vierzig Jahren im kasachischen Almaty verständigt hatten. Dieses Ziel ist bis heute eine Utopie geblieben, nicht zuletzt, weil selbst ernannte Pragmatiker das damals verabschiedete Konzept der Basisgesundheitsversorgung (Primary Health Care), in dessen Mittelpunkt soziale Gerechtigkeit und demokratische Teilhabe standen, gerade in den ärmeren Entwicklungsländern auf rentable medizinische Interventionen beschränken konnten. „Selektive Basisgesundheitsversorgung“ schien die Lösung für armutsbedingte Krankheiten zu versprechen, ohne dass man sich mit Armut als struktureller Bedingung für Krankheit auseinandersetzen müsste.
Dieses Denken bestimmt auch heute das Handeln einflussreicher Akteure der globalen Gesundheitspolitik. Bill Gates, der ehemalige Microsoft-Mogul und heute mit der gemeinsam mit seiner Ehefrau geführten Bill & Melinda Gates Stiftung der weltweit größter Finanzierer von Gesundheitsprojekten in den armen Ländern, denkt genauso. Als prominenter Gastredner auf der Weltgesundheitsversammlung, dem höchsten Entscheidungsgremium der Weltgesundheitsorganisation, erklärte Gates im Jahr 2005 den anwesenden Ministern und Regierungschefs: „Aber die Welt musste nicht die Armut beseitigen, um die Pocken zu beseitigen – und wir müssen die Armut nicht beseitigen, bevor wir die Malaria abbauen. Wir müssen einen Impfstoff herstellen und liefern – und der Impfstoff wird Leben retten, die Gesundheit verbessern und die Armut verringern.“
Diese Aussage verdeutlicht den uneingeschränkten Glauben an die unbegrenzte Heilkraft der Biomedizin, der gerade wieder beim Umgang mit der Coronavirus-Pandemie zu beobachten ist. Sie überrascht auch nicht, wenn sie von einem der reichsten Menschen auf dem Globus kommt. Denn die Überwindung der Armut ist letztlich nur über die Beseitigung des extremen Reichtums und durch die Umverteilung von Einkommen und Vermögen möglich, woran ein Mann wie Bill Gates kein Interesse haben kann. Dabei verstärkt gerade die Ungleichheit zwischen und innerhalb der Länder die weltweite Armut, die wiederum die Gesundheit der Bevölkerung verschlechtert.
Kernziele globaler Gesundheitspolitik
In der politischen Debatte tritt aber Gesundheit als Menschenrecht, als öffentliches Gut, zunehmend in den Hintergrund, während wirtschaftliche Kriterien und die Vermarktungsfähigkeit von Gesundheitsprodukten an Einfluss gewinnen. Vielfach engagieren sich soziale Bewegungen stärker für die gesundheitlichen Rechte als Regierungen und Staaten, obwohl diese eigentlich für die Durchsetzung des Rechts auf Gesundheit verantwortlich sind.
Kernziele globaler Gesundheitspolitik sollten die Verringerung der weltweit bestehenden Ungleichheiten sowie globale Gerechtigkeit sein. Dies steht in engem Zusammenhang mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs), auf die sich die Staatengemeinschaft der Vereinten Nationen im Jahr 2015 geeinigt hat, und den Maßnahmen zur Umsetzung der Agenda 2030, zu der die SDGs gehören. Erklärtes Ziel der Agenda 2030 ist eine globale Wirtschaft, die im Einklang mit sozialer Gerechtigkeit steht und die ökologischen Grenzen der Erde respektiert. Bemerkenswert ist, dass die Agenda und die SDGs für alle Staaten der Welt gleichermaßen gelten – zumindest abgesehen von so grundlegenden Problemen wie Hunger, Armut oder Mutter-Kind-Sterblichkeit. Anders als bei den vorangegangenen Millenniumsentwicklungszielen (MDG) sind nicht mehr nur die Entwicklungs- und Schwellenländer gefordert, sondern auch die Industriestaaten.
Häufig erfuhr das Konzept der globalen Gesundheit aber schon vor der pandemischen Ausbreitung von Covid-19 eine Verkürzung auf eine bloße Neuauflage früherer Konzepte. Bis heute betrachten vor allem Akteure aus Medizin, Biotechnologie und Politik globale Gesundheit im Grunde als bloße Weiterentwicklung von internationaler Gesundheit. Dieses Verständnis ist erkennbar geprägt vom Erbe des Kolonialismus und westlich dominiertem Fachwissen über die „tropische“ Welt. Die offizielle globale Gesundheitspolitik konzentriert sich auf grenzüberschreitende Gesundheitsprobleme und die Zusammenarbeit im Sinne der Gefahrenabwehr; ihr fehlt nicht selten ein politisches Verständnis.
Aber so wichtig der Zugang zu guter medizinischer Versorgung auch ist, sie hat weniger Einfluss auf die Gesundheit von Menschen als deren Lebensumstände. Die Gesundheit der Weltbevölkerung lässt sich nicht nachhaltig verbessern, ohne gesellschaftliche Einflüsse zu berücksichtigen wie die Einkommensverteilung, die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Bildung und die Umwelt. Die Bedeutung dieser Einflussfaktoren für Gesundheit und Krankheit kommt in der deutschen wie in der internationalen gesundheitspolitischen Debatte regelmäßig zu kurz. In der globalisierten Welt sind zwar die Bedingungen für Wohlbefinden und Gesundheit immer weniger allein auf nationaler Ebene steuerbar. Es gilt aber auch: Globale Gesundheit fängt zu Hause an. So wie die deutsche Energie- und Umweltpolitik unmittelbaren Einfluss auf das Weltklima hat, entziehen Fischereiflotten und Monokulturen den Menschen in armen Ländern die Existenzgrundlage, um den Bedarf im globalen Norden zu decken.
Für eine wirksame globale Gesundheitspolitik braucht es erheblich mehr als biomedizinische und klinische Technik oder auch Gentechnologie. Spezifische Krankheitsprogramme wie der Globale Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Malaria und Tuberkulose oder die Globale Impfallianz (GAVI) und die Entwicklung neuer Medikamente und Impfstoffe mögen hilfreich sein, sie ändern aber nichts an grundlegenden Gesundheitsproblemen der Welt.
Globale Gesundheitspolitik verfolgt ein umfassendes Verständnis von Gesundheit für alle Menschen und beschränkt sich nicht auf die Abwehr bestimmter Gefahren. Sie stark auf Sicherheitsfragen auszurichten und globale Gesundheitspolitik als Mittel zur Wahrung von Besitzständen und Privilegien zu betrachten, wird den aktuellen Herausforderungen nicht ansatzweise gerecht. Das Gebot der Stunde ist auch in Pandemie-Zeiten, Gesundheit als Querschnittsthema bei allen politischen Entscheidungen mitzudenken. Globale Gesundheit erfordert auch gute Arbeit- und Einkommensverhältnisse für alle, Chancengleichheit, Ernährungssouveränität, verantwortliche Umweltpolitik, soziale Sicherheit, Frieden, Demokratie und Partizipation.
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