Francis Nchimbi (Name geändert), ein Katechet in der katholischen Pfarrei Shangani in der Stadt Mtwara im Süden Tansanias, hatte sich an einem Tag im März vergangenen Jahres morgens nicht zum Dienst gemeldet, weil er sich nicht wohlfühlte. Vier Tage später kam er etwas erschöpft zur Arbeit und erzählte seinen Kollegen, dass er sich das Coronavirus eingefangen habe. Er müsse sich zu Hause in Quarantäne begeben, um Medikamente zu nehmen. „Ich hatte alle Symptome und war besorgt, dass es schlimmer werden könnte. Deswegen habe ich mir ein Gebräu aus Zitrone, Ingwer, Zwiebeln, Chilis und Knoblauch gekocht und es viermal täglich heiß eingenommen. Das hat funktioniert und mir geht es gut“, erzählte er.
Ähnlich ging es dem Journalisten Hassan Mpeta (Name geändert) aus Daressalam. Auch er steckte sich mit dem Coronavirus an und wusste nicht, was er tun sollte. Er rief einen befreundeten Arzt an und schilderte ihm die Situation. Dieser riet ihm, nicht ins Krankenhaus zu gehen, sondern eine Woche lang alle drei Stunden einen heißen Saft aus denselben Zutaten einzunehmen, aus denen auch Francis Nchimbi seinen Trank gebraut hatte. „Mir ging es am vierten Tag schon wieder besser, ich nahm die Lösung aber wie besprochen weiter ein. Jetzt geht es mir gut“, sagt er.
Als im Februar 2020 die ersten Corona-Fälle in Afrika registriert wurden, riet das Nationale Institut für medizinische Forschung (NIMR) in Tansania zur Einnahme eines Saftes aus traditionellen Pflanzen. Man glaubte, dass dieser eine Ansteckung mit dem Virus verhindern beziehungsweise die Krankheit heilen könnte. Eine Flasche mit einem halben Liter wurde in Apotheken und Geschäften für 10.000 Tansanische Schilling (umgerechnet 3,50 Euro) verkauft.
Das NIMR machte außerdem die Zusammensetzung des Gemischs öffentlich, damit diejenigen, dies sich die fertige Mischung nicht leisten können oder keinen Zugang dazu bekommen, sie sich selbst herstellen können. „Die Zutaten dafür sind überall im Land erhältlich, manche können sogar im eigenen Garten gepflückt werden“, sagte Professor Yunus Mgaya, der Direktor des NIMR.
Dampfbad mit Zitronengras und verschiedenen Blättern
Für den Saft müsse man jeweils 10 bis 15 Zehen Knoblauch, zwei ungeschälte Zitronen, vier daumengroße Stücke Ingwer und fünf Chilis in kleine Stücke schneiden. Diese Zutaten müssen dann in einen Liter heißes Wasser gegeben und fünf Minuten verrührt werden. Nachdem die Lösung abgekühlt sei, könne man alle sechs bis acht Stunden zwei Teelöffel davon nehmen, je nachdem, wie man sich fühlt. In den städtischen Regionen standen die Menschen Schlange, um die Medizin zu kaufen, in den ländlichen Gebieten stellten viele Leute sie selbst her.
Als dann noch der Minister für Regionalverwaltung und lokale Regierungen, Suleiman Jaffo, im Mai 2020 eine „Woche des Dampfbadens“ ausrief und die Bevölkerung dazu ermunterte, Dampfbäder mit verschiedenen Pflanzen zu machen, war das ein Signal dafür, dass die Tansanier die traditionelle Medizin als Mittel gegen Covid-19 angenommen hatten. Beim Dampfbaden werden Neemblätter, Zitronengras, Eukalyptusblätter, Guavenblätter und Mangoblätter zusammen gekocht. Dann wird der Dampf eingeatmet, während man mit einer schweren Decke oder einem Bettlaken zugedeckt ist. Zwar variieren die Zutaten beim Dampfbaden von einem Teil des Landes zum anderen, dennoch wird es seit vielen Jahren praktiziert. Mit dem Aufkommen der modernen Medizin schien diese Praxis aber aufgegeben worden zu sein.
„Der Ausbruch des Coronavirus hat die Bedeutung der traditionellen Medizin unterstrichen und die Tansanier daran erinnert, dass nicht alle Beschwerden mit moderner Medizin behandelt oder geheilt werden können“, sagt Francis Simon Kahemele, ein traditioneller Heiler in Ubungo nordwestlich von Daressalam. Simon behandelt Menschen mit HIV, Aids, Diabetes, Krebs, Zahnschmerzen und anderen Beschwerden.
Trotz der Erfolge der traditionellen Medizin bei der Corona-Behandlung habe er dadurch nicht mehr Kunden bekommen, räumt er ein. Er erklärt sich das so: Das NIMR als wissenschaftliche Forschungseinrichtung habe den Menschen gesagt, wie man Covid-19 behandeln könne, deswegen müssten sie jetzt nicht zu Heilern gehen. „Wir haben schon immer Viruserkrankungen wie die Grippe behandelt; es gibt Pflanzen, die jeder selbst sammeln und für die Behandlung benutzen kann. Die meisten meiner Klienten kommen zu mir mit Krankheiten, die sie selbst nicht kennen und für die sie selbst keine Medizin finden können.“ Dennoch zeige sich der Erfolg der traditionellen Medizin bei der Behandlung von Corona auch darin, dass wieder mehr Menschen traditionellen Heilern vertrauten als vorher. Laut Kahemele habe die Entwicklung vor allem in städtischen Gebieten die Arbeit der traditionellen Heiler nachteilig beeinflusst. „Viele Menschen in den Städten behaupten, Heiler zu sein. Aber sie wissen nichts über traditionelle Medizin. Sie betrügen ihre Klienten, um Geld zu machen. Die Bevölkerung hat das erkannt und das Vertrauen zu uns verloren.“
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Viele Tansanier vertrauen in die traditionelle Medizin
Dr. Zacharia Berege, der früher im Gesundheitsministerium für Krankenhäuser zuständig war, sagt, dass die traditionelle Medizin in Tansania und Afrika allgemein seit jeher angewendet wird. „Als die Chinesen zwischen 1970 und 1975 die Eisenbahn von Tansania nach Sambia bauten, nahmen sie eine Menge Heilpflanzen mit, die sie in ihrem Land anbauten. Einige davon haben ihnen geholfen, Malariamedikamente herzustellen, die sie jetzt an uns verkaufen“, erklärt er.
Etwa 70 Prozent der Tansanier vertrauen laut einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation traditioneller Medizin. Blätter, Rinde, Wurzeln, Blumen, Früchte und sogar Samen werden seit jeher für die Behandlung leichter bis ernster Beschwerden benutzt – und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich das auch in Zukunft nicht groß ändern wird. Die WHO hat die Tansanier sogar ermutigt, traditionelle Medizin gegen Covid-19 zu versuchen.
Früher seien die einheimischen traditionellen Heiler, besonders jene, die ihr Wissen durch Tradition und über Generationen gelernt haben, sehr vorsichtig und streng gewesen beim Verteilen ihrer Medizin, sagt Dr. Berege. „Heute ist es anders: Die Heiler kümmern sich nicht mehr um die Dosierung und die Hygiene bei der Herstellung ihrer Medizin. Sie sind nicht daran interessiert, die Gesundheit ihrer Kunden wiederherzustellen, sondern wollen nur Geld machen. Das ist gefährlich.“ Gute Heiler erkenne man vor allem daran, unter welchen hygienischen Bedingungen sie arbeiten und welche Dosierungen sie verordnen. Außerdem machten vertrauenswürdige Heiler keine Werbung, sondern verlassen sich vor allem auf die Weiterempfehlungen ihrer zufriedenen Kunden.
Weil sich das Klima verändere, habe sich wahrscheinlich auch die Wirksamkeit der Kräuter und anderer Inhaltsstoffe verändert, erklärt Dr. Berege. Bestimmte Bäume oder Sträucher wachsen nur unter bestimmten Bedingungen gut. Ändern sie sich, verlieren die Medikamente möglicherweise ihre Wirksamkeit. Es besteht Forschungsbedarf, um Wirksamkeit und Dosierung zu bestimmen.
Nicht frei von Risiken
Aber es gebe auch andere Risiken bei der traditionellen Medizin, warnt Dr. Berege: Wie lange sollte man sich dem Dampfbad aussetzen? Wie viele Tassen des Gebräus sollte man trinken? „Es ist notwendig, Forschung zu betreiben, um diese Fragen zu beantworten und so die traditionelle Medizin mit der Wissenschaft zu verbinden, damit die Tansanier ihr wieder mehr vertrauen. Man sollte sich nicht nur auf alte Gewohnheiten verlassen“, sagt der Mediziner.
Francisca Victor Mgoneke, die in Tandale wohnt, einem Viertel in Daressalam, sagt, traditionelle Medizin gehöre zum Leben der Tansanier. „Manche Leute nutzen sie, weil sie keinen Zugang zu moderner Medizin haben. Andere hätten zwar das Geld für moderne Medikamente, nehmen aber trotzdem traditionelle Medizin“, sagt sie. Die Behandlung des Coronavirus habe den Menschen gezeigt, dass traditionelle Medizin immer noch wirksam ist. „Ich würde aber nicht sagen, dass die Menschen jetzt nur noch darauf schwören und nicht mehr in Krankenhäuser gehen.“ Schließlich gebe es immer noch viele Risiken bei der Anwendung: „Zum einen wird keine vernünftige Diagnose gestellt, bevor man die Medizin einnimmt. Zum anderen ist die Untersuchung meist sehr oberflächlich und sehr stark davon abhängig, wie gut der Patient seine Beschwerden erklärt.“
Laut Francisca Mgoneke könnten die Erfolge bei der Behandlung von Covid-19 dazu führen, dass die Leute sich zu sehr auf traditionelle Medizin verlassen, auch dann, wenn sie sich als nicht wirksam erweist. „Das ist riskant“, sagt sie. Außerdem nutzten viele traditionelle Heiler nicht mehr die richtigen Kräuter oder wüssten nicht, welche Kräuter zur Behandlung welcher Krankheiten notwendig seien. „Ein Großteil des Wissens über traditionelle Medizin ist verloren gegangen, übrig geblieben sind nur Bruchstücke.“ Der Ausweg aus diesem Problem bestehe darin, dass Forscher Heilpflanzen identifizieren und herausfinden, wie aus ihnen die Medizin extrahiert, konserviert und gelagert werden kann, ohne dabei Chemikalien zu benutzen, die die Wirksamkeit beeinträchtigen könnten, erklärt Mgoneke.
In einem Interview mit der tansanischen Zeitung „The Guardian“ forderte der traditionelle Heiler Haruna Yahaya Mwamuhehe, auch bekannt als Dr. Kifimbo, von der Regierung Hilfe für die traditionellen Heiler, damit sie die Qualität ihrer Medizin verbessern könnten. Die Regierung könne etwa in Technologie für die Verarbeitung, Verpackung und Verteilung investieren. „Die Regierung erkennt traditionelle Medizin und Heiler an, das schätzen wir sehr. Aber nun muss sie uns helfen, die Qualität unserer Produkte zu verbessern und das Vertrauen unserer Klienten zurückzugewinnen.“ Gefragt nach der Zukunft sagt Dr. Kifimbo, dass die traditionelle Medizin durch Waldbrände, illegale Abholzung, Plantagenanbau und neue menschliche Siedlungen bedroht ist. „Arzneipflanzen brauchen eine lange Zeit zum Wachsen. Um ihre Wirksamkeit zu behalten, müssen sie unter ihren natürlichen Bedingungen wachsen. Die Regierung muss daher Wälder und Waldgebiete schützen, um die traditionelle Medizin zu erhalten“, sagt er.
Bei einer Veranstaltung zum 40. Jahrestag des National Institute of Medical Research sagte der Chefmediziner im Gesundheitsministerium, Professor Abel Makubi, dass die traditionelle Medizin in den kommenden fünf Jahren ein vorrangiger Forschungsbereich sein sollte. Damit folgte er auch einer Anweisung von Präsident John Magufuli. Dieser hatte Anfang des vergangenen Jahres gesagt: „Wir sollten die Forschung im Bereich der traditionellen Medizin ausbauen, um die Öffentlichkeit mit Qualitätsmedizin zu versorgen, die eine zuverlässige Alternative zur modernen Medizin ist.“
Aus dem Englischen von Melanie Kräuter.
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