Das Gemetzel dauerte nur wenige Tage, hatte aber verheerende Ausmaße. Im August 2014 ermordete der Islamische Staat nach UN-Angaben bis zu 10.000 Jesidinnen und Jesiden in der irakischen Region Sindschar. Männer und ältere Frauen wurden sofort getötet, Jungen entführt, um sie als Kindersoldaten zu missbrauchen, bis zu 7000 Frauen und Mädchen in Busse verladen und in die (Sex-)Sklaverei verkauft. Hunderttausende Jesidinnen und Jesiden flohen in den Norden des Irak in die autonome Region Kurdistan oder ins Ausland.
Zehn Jahre danach sind die Wunden nicht verheilt, obwohl der Islamische Staat seit 2017 offiziell als besiegt gilt. 2600 der entführten Frauen sind bislang nicht zurückgekehrt. In den Flüchtlingslagern im kurdischen Teil des Irak leben noch rund 150.000 Jesidinnen und Jesiden. Sie könnten jederzeit in ihre Heimat zurückkehren, die an Syrien und die Türkei grenzt; die Regierung in Bagdad würde sie dabei sogar finanziell unterstützen. Doch die wenigsten trauen dem Frieden im Sindschar, sie ziehen ein Leben in den prekären Verhältnissen eines Flüchtlingslagers vor. Wer es sich leisten kann, verlässt den Irak und versucht sich eine Zukunft in einem westlichen Land aufzubauen. Allein in Deutschland leben 200.000 Jesidinnen und Jesiden, die größte jesidische Diaspora-Gruppe außerhalb des Irak.
Aufbauprogramme sollen jesidische Gemeinschaft im Irak halten
Die irakische Regierung unter Premierminister Mohammed Schia al-Sudani hat das Problem erkannt und versucht mit einem Aufbauprogramm, die jesidische Gemeinschaft im Irak zu halten. Weil der IS im Sindschar Krankenhäuser, Schulen, religiöse Stätten und die Trinkwasserversorgung zerstört hat, wird jetzt kräftig in die Infrastruktur investiert. Mehr als eine Milliarde US-Dollar sind laut Regierung dafür eingeplant. Zwei große Krankenhäuser würden derzeit gebaut und Schulen wiederaufgebaut. „Und 1500 neue Stellen im Polizeidienst wurden geschaffen und sind bereits besetzt“, berichtet Khalaf Sinjari, seit zwei Jahren Berater des Premierministers für jesidische Fragen, bei einem Gespräch Mitte Dezember in Bagdad.
Sinjari, der selbst Jeside ist und dessen Beraterposten es erst seit dem Amtsantritt von Premierminister al-Sudani gibt, berichtet außerdem von einer weiteren Initiative: Zum ersten Mal wurde an einem Freitag in allen Moscheen im Irak von den Kanzeln eine Rede aus dem Religionsministerium in Bagdad verlesen, in der die Jesidinnen und Jesiden als „Schwestern und Brüder“ bezeichnet werden, die schon immer im Irak gelebt hätten und selbstverständlich dazugehörten.
Das ist ein wichtiger Schritt zur Verständigung zwischen der muslimischen Mehrheit und der jesidischen Minderheit im Irak. Das Vorurteil, Jesidinnen und Jesiden beteten nicht Gott, sondern den Teufel an, hält sich seit Jahrhunderten in der islamischen Welt und führt bis heute zur Verfolgung der jesidischen Glaubensgemeinschaft. Solchen Vorurteilen wolle die Regierung mit einer wöchentlichen Fernsehsendung im irakischen Staatsfernsehen Al-Iraqiya, in der die jesidische Religion und Kultur vorgestellt werden, etwas entgegensetzen, sagt Sinjari. Dem Premierminister scheint es ein echtes Anliegen zu sein, die jesidische Gemeinschaft im Irak zu halten. Mittlerweile überlegt die Regierung, den jesidischen Fastentag anlässlich der Wintersonnenwende als offiziellen Feiertag im Irak zu deklarieren.Im jesidischen Glauben spielt die Sonne als lebensspendendes Element der Schöpfung Gottes eine wichtige Rolle.
So begeistert Sinjari von der Jesiden-Politik der Regierung ist, so wenig kann er seine Skepsis verbergen, ob sie nicht zu spät kommt. Denn nach wie vor verlassen Jesidinnen und Jesiden den Irak für immer. „Die Menschen haben nach allem, was ihnen angetan wurde, das Vertrauen verloren. Viele sind nach wie vor traumatisiert“, sagt er. Zudem brauche es dringend Prozesse zur Traumaheilung. Dazu gehöre, dass der Genozid als solcher international anerkannt wird. „Deutschland hat mit seiner Aufnahme von traumatisierten jesidischen Frauen, der Anerkennung des Genozids durch den deutschen Bundestag Anfang 2023 und den Gerichtsprozessen gegen mutmaßliche Täter international eine Vorbildrolle eingenommen“, sagt Sinjari. Was islamistische Terroristen den Jesidinnen und Jesiden angetan haben, dürfe nicht vergessen werden.
Neuen Kommentar hinzufügen