Meerblick für die Reichen, nasse Füße für die Armen

Sam Olukoya
Am Strand von Okun Alfa, einer Siedlung am Rand von Lagos, wurden schon viele Gebäude von der Meeresbrandung weggespült.
Klimaanpassung in Lagos
Teile der nigerianischen Stadt Lagos versinken im Meer. Darunter leiden vor allem Slumbewohner. Die Regierung schützt lieber die wirtschaftlich prosperierenden Bezirke.   

Muftau Ayodele steht am Alpha Beach in Okun Alfa, einer Ortschaft am Rande der Millionenmetropole Lagos in Nigeria, und beobachtet, wie die starken Wellen des Atlantischen Ozeans an den Strand rollen. „Das Land unserer Vorfahren war früher einmal dort in der Ferne“, sagt er traurig und zeigt aufs Meer. „Der Ort, wo ich geboren wurde, liegt nun mitten im Ozean.“ Mit seinen 76 Jahren kann Ayodele erzählen, wie der Atlantische Ozean Okun Alfa über die Jahre verändert hat. „Unsere Gemeinde wurde schon dreimal wegen des steigenden Meeresspiegels umgesiedelt, drei andere Siedlungen sind nun im Meer begraben“, sagt er. „In unseren Häusern von früher wohnen jetzt die Meerjungfrauen.“

Der Strand gibt Zeugnis von der traurigen Geschichte Okun Alfas und wie sehr die Ortschaft in den vergangenen Jahren unter dem steigenden Meeresspiegel gelitten hat. Hier und da sieht man noch die Überbleibsel von Häusern, die vom Ozean zerstört wurden. „Der Blick auf diese Verwüstungen rührt uns manchmal zu Tränen“, sagt Yekini Ekun, der früher wirtschaftliche Aktivitäten wie den Handel am Strand im Namen der Gemeinschaft beaufsichtigte.

Okun Alfa ist eine von mehreren Siedlungen an der Küste von Lagos, Nigerias größter Stadt, die über die Jahre vom steigenden Meeresspiegel des Atlantiks zerstört wurde. Das Umweltministerium des gleichnamigen Bundesstaates Lagos ist der Ansicht, dass der steigende Meeresspiegel in Lagos langfristig wohl die erheblichste Folge des Klimawandels sein wird.

Vor der Küste der Millionen­metropole Lagos entsteht auf einer künstlichen Insel eine neue Stadt für 250.000 gut Betuchte.

Die Lage als Küstenstadt, das teils tiefliegende Gelände und die hohe jährliche Regenmenge machen Lagos besonders anfällig für den Anstieg des Meeresspiegels und großflächige Überschwemmungen. Prognosen des Umweltministeriums von Lagos zeigen, dass Überschwemmungen, Küstenerosion und zerstörerische Stürme im Gebiet von Lagos aufgrund des Klimawandels voraussichtlich zunehmen werden. Bis zum Jahr 2100 wird mit einem Anstieg des Meeresspiegels um mehr als einen Meter gerechnet. Große Teile des Küstengebiets wären dann überschwemmt.

Autor

Sam Olukoya

ist freier Journalist im nigerianischen Lagos.
Das Umweltministerium geht davon aus, dass der steigende Meeresspiegel allen Teilen der Wirtschaft schadet. Die Menschen in den betroffenen Gemeinden wie Okun Alfa spüren die Folgen schon heute. Insbesondere die Frauen der Gemeinde, die früher in kleinen Kiosken am Strand Essen und Getränke an Touristen verkauften, hätten ihre für die Familie so wichtigen Einnahmen verloren, sagt Ekun. „Überall am Strand waren Verkaufsstände für die vielen Touristen“, ergänzt er. Auch Häuser, Läden, Straßen, das einzige Krankenhaus der Gemeinde sowie die Hauptmoschee seien Opfer der Meeresbrandung geworden.

Um einen Teil der Küstenlinie von Lagos zu schützen, unterstützt die Regierung ein ehrgeiziges Projekt zur Rückgewinnung von zehn Millionen Quadratmetern Land aus dem Ozean. Die Planer wollen das Land zurückgewinnen, das in den vergangenen Jahren vom Ozean verschluckt wurde. Die neue Dubai-ähnliche Küstenstadt heißt Eko Atlantic City und wird auf Land gebaut, das seit dem Projektstart im Jahr 2007 im Meer aufgeschüttet wurde. Die Fläche wird von einer 8,5 Kilometer langen Mauer geschützt, bekannt als der Große Meereswall von Lagos. Die Firma South Energyx Nigeria finanziert das Projekt und ist sich sicher, dass die Mauer die nächsten 1000 Jahre halten wird. 

Eine „intelligente Stadt von Weltklasse“

Nach den Vorstellungen der Regierung und South Energyx soll Eko Atlantic City eine „intelligente Stadt von Weltklasse“ in der Größe des Wolkenkratzerbezirks in Manhattan werden. Sie soll sich selbst versorgen und nachhaltig sein, in „angesagtem städtischem Design, mit einer eigenen Stromversorgung, sauberem Wasser, fortschrittlicher Telekommunikation, geräumigen Landstraßen und von Bäumen gesäumten Straßen“. 

Bimbo Osobe wohnt in einem Slumviertel in Lagos. Sie glaubt nicht daran, dass die von der Regierung versprochenen klimagerechten Häuser für Menschen wie sie erschwinglich sein werden.

Die neue Küstenstadt wird voraussichtlich 250.000 Einwohner haben. Zusätzlich werden täglich 200.000 Pendler erwartet, die zum Arbeiten in die Stadt kommen. South Energyx und die Regierung von Lagos präsentieren das Projekt mit Stolz als gutes Beispiel für Wirtschaftswachstum und die Anpassung an den Klimawandel. Es habe „das verlorene Land zurückgewonnen, das in den vergangenen 100 Jahren unter den stürmischen Wellen der atlantischen Fluten verschwand“. Mit dem großen Meereswall habe man laut South Energyx eine Lösung gefunden, um den weiteren Verlust von Land an der nigerianischen Küste in Victoria Island und Ikoyi zu stoppen. Victoria Island und Ikoyi sind zwei der exklusivsten und wohlhabendsten Bezirke von Lagos. Sie sind die Hauptgeschäfts- und Finanzbezirke von Nigerias Wirtschaftsmetropole und sollen durch die Eko Atlantic City und den Großen Meereswall geschützt werden. 

Kritiker monieren, dass diese beiden wichtigen Bezirke auf Kosten nahegelegener Gemeinden wie Okun Alfa geschützt werden. Experten und lokale Gemeinden sind der Auffassung, dass es dort seit dem Baubeginn von Eko Atlantic City im Jahr 2007 stärkere Küstenerosionen gab. Ein Grund dafür sei der Bau des Meereswalls: Die Mauer, die aus riesigen Felsen errichtet wurde, leite die starke Meeresströmung nun in Richtung der armen Siedlungen wie Okun Alfa, die östlich von Eko Atlantic City liegen. 

Einige Experten sagen auch, dass sich die Meeresströmung verstärkt habe. Grund seien Gräben, die sich gebildet haben, als große Mengen Sand vom Meeresboden entnommen wurden, um das Land für die Eko Atlantic City zurückzugewinnen. Die Bewohner von Okun Alfa beklagen, dass der Sand dafür viel zu nahe an ihrem Strand entnommen wurde. South Energyx entgegnet jedoch, dass der Sand in sorgsam ausgewählten Gebieten entnommen wurde. 

Das teuerste Klimaanpassungsprojekt in Lagos

Mit Kosten von geschätzten sechs Milliarden US-Dollar ist der Bau von Eko Atlantic City das teuerste Klimaanpassungsprojekt in Lagos. Allerdings halten die Bewohnerinnen und Bewohner von Okun Alfa es für ein rein wirtschaftliches Projekt, das die Reichen vor den Folgen des Klimawandels schützen soll – auf Kosten der Armen. Tatsächlich sind Geschäfte und Bewohner von Victoria Island und Ikoyi seit Projektbeginn besser vor dem Meer geschützt. 

Neben der Eko Atlantic City hat der wachsende Druck um Land in der Wirtschaftsmetropole Lagos zu weiteren großen Rückgewinnungsprojekten geführt, die arme Küstengemeinden wie Okun Alfa anfälliger für den Klimawandel gemacht haben. In den letzten Jahren hat die starke Nachfrage nach Land zur Vertreibung von Hunderttausenden Menschen, hauptsächlich aus Slums, geführt. Soldaten und Polizisten vertreiben Slumbewohner immer wieder aus ihren Häusern, damit die Regierung oder große Unternehmen das Land nutzen können. Solche nennenswerten Vertreibungen gab es unter anderem in den Siedlungen Otodo Gbame, Tarkwa Bay und Ijora Badia. 

Die Opfer solcher Zwangsräumungen werden obdachlos, viele von ihnen müssen für längere Zeit draußen schlafen. Mohammed Zanna ist einer der Aktivisten, der für die Rechte der Slumbewohner kämpft. Er sagt, dass viele Vertriebene am Ende in anderen Slums landen, was dort wiederum die Lebensbedingungen verschlechtere. Zanna glaubt, dass viele Slumbewohner vom Klimawandel betroffen sind, da sie in den Gebieten leben, die besonders anfällig für Überflutungen sind. Die Stadterneuerungsbehörde des Bundesstaates Lagos berichtet, dass mehr als 65 Prozent der Bevölkerung von Lagos in Slums und unterversorgten Gemeinden leben.

Weil eine angemessene Infrastruktur fehlt, sind die Slumbewohner dem Klimawandel noch stärker ausgeliefert. Da es kein effektives Müllsystem gibt, verschmutzen Plastiktüten und Flaschen die Slums von Lagos. Der Plastikabfall verstopft dort häufig die Abflüsse. Dadurch kommt es nach heftigen Regenfällen – oder durch den steigenden Meeresspiegel – oft zu bedrohlichen Überflutungen. 

Ein weiteres Problem vieler Slumbewohner sei die unerträgliche Hitze, sagt Bimbo Osobe, die in einem der Slums von Lagos lebt. Die Stadtregierung geht im Moment von einem Temperaturanstieg von drei Grad bis zum Ende des Jahrhunderts aus. Zuletzt wurden in der Stadt Rekordtemperaturen von 40 Grad gemessen. 

In Slums zirkuliert die Luft nur minimal

Das Problem mit der Hitze ist laut Osobe in den dicht bevölkerten Slums besonders schlimm. Die Luft zirkuliere nur minimal, weil die Häuser so nah beieinanderstehen. Zudem staue sich in den aus Wellblech oder Plastikplatten gebauten Häusern die Hitze. Durch die unzureichende Stromversorgung in den Slums könnten die Bewohner ihre Häuser nicht kühlen. „Die Menschen sind zu arm, um sich Stromgeneratoren oder Klimaanlagen zu kaufen“, sagt Osobe. Es sei extrem schwierig, bei dieser Hitze nachts zu schlafen. „Selbst wenn du Schlaftabletten nimmst, hält dich die Hitze wach.“ 

Die Regierung des Bundesstaates Lagos arbeitet mit dem Unternehmen Echostone Development Nigeria zusammen, um 2000 umweltfreundliche und erschwingliche Häuser für einkommensschwache Käufer zu bauen. Die Häuser werden aus Materialien gebaut, die für kühlere Innentemperaturen sorgen. Zudem sollen die Häuser laut dem Echostone-Geschäftsführer Sammy Adigun unter anderem mit reflektierenden Dächern ausgestattet werden; die Fenster sollen zudem so positioniert werden, dass mehr Licht ins Innere fällt. All das spart Energie und senkt die Nebenkosten für die Hausbesitzer. Die Häuser sollen die ersten dieser Art in Nigeria sein.

Obwohl sie offiziell für Geringverdiener gedacht sind, glaubt Osobe nicht, dass die Armen sich die Häuser leisten können. Nur reiche Menschen mit Kontakten zur Regierung würden sie bekommen. Auch dass jedes Haus einen Garten mit zwei Bäumen haben soll, lässt Osobe an der Sozialverträglichkeit der Häuser zweifeln. Denn solch ein Luxus sei nicht für die Armen in Nigeria bestimmt. 

Die Wellenbrecher reichen nicht, um das Land zu schützen

Man müsse verhindern, dass die Gebiete der armen Stadtbewohner vom steigenden Ozean weggespült werden, sagt Sheriff Elegushi, ein Bewohner aus Okun Alfa. Das sei der beste Weg, um die Wohnsituation in den Küstengemeinden angesichts der großen Hitze zu verbessern. Zwar habe die Regierung drei Wellenbrecher – sogenannte Buhnen – gebaut, um Okun Alfa vor der Meeresbrandung zu schützen, die durch den Bau der Eko Atlantic City entstanden sei. Doch das Problem bleibe bestehen, weil die aufgeschütteten Wälle nicht weit genug ins Meer reichten, sagt Elegushi.

„Drei Wellenbrecher reichen nicht, um unser Land zu schützen“, sagt er. „Die Regierung muss den Sand am Strand auffüllen, um unser verlorenes Land zurückzubringen“, fordert Elegushi. Dann würde Land für die vom Ozean vertriebenen Menschen zur Verfügung stehen, die dort anständige Häuser bauen könnten.

Wie Elegushi kritisieren viele Anwohner die Doppelmoral der Regierung, die viel zum Schutz für die exklusiven Bezirke von Victoria Island und Ikoyi tue und wenig bis gar nichts zum Schutz der armen Gemeinden wie Okun Alfa. „Wir sind aufgegeben worden, weil sie das Gefühl haben, dass es im Gegensatz zu Victoria Island und Ikoyi keine schützenswerten Investitionen auf unserem Land gibt“, meint Elegushi.

Angesichts der großen Zahl armer Menschen, die in informellen Siedlungen in Lagos leben, werde ein großer Teil der Einwohner von Lagos hilflos zurückbleiben, sagt der Aktivist Zanna. Zumindest wenn sich die Anpassung an den Klimawandel weiter auf die Reichen konzentriere, ohne auf die Bedürfnisse der Armen einzugehen.

Aus dem Englischen von Melanie Kräuter.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2020: Auf die Heißzeit vorbereiten
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