Das Paradies muss umziehen

Sandra Weiss
Trügerische Idylle: Die von den Guna-Indigenen bewohnte Insel Niadup vor der Küste Panamas wird wohl irgendwann vom Meer verschluckt.
Umsiedlung in Panama
Die Guna-Indigenen aus Panama sind das erste Volk Lateinamerikas, das wegen des steigenden Meeresspiegels von Inseln aufs Festland umgesiedelt wird. Das ist ein internationales Pilotprojekt – und ein Hürdenlauf. 

Drei Stunden dauert die Autofahrt von Panama-Stadt zur Comarca Guna Yala, dem Gebiet der gleichnamigen Ureinwohner nordöstlich der Hauptstadt. Zuerst geht es auf einer vierspurigen Ausfallstraße entlang, die sich bald auf zwei Spuren verengt. Nach einer Abzweigung verschwindet das Handysignal, ein Grenzposten mit Passkontrolle und Eintrittsgebühr markiert den Übergang vom Staatsgebiet Panamas in die autonome Region der Guna. Schlaglöcher und der feuchtheiße Dschungel erinnern daran, dass an der Karibikküste die Natur das Zepter führt. Noch ein paar Kilometer weiter – das Meer lugt schon hinter den Kurven hervor – zweigt eine rote Schlammpiste ab und mündet schließlich in eine Brache, so groß wie mehrere Fußballfelder. Dort, auf einem Hügel unweit des Hafens von Cartí, entsteht Lateinamerikas erste Siedlung für Klimaflüchtlinge. Einen offiziellen Namen hat sie noch nicht, manche sprechen von La Barriada („Siedlung“), andere von Llano Gardí („Hochebene“). 

Seit zehn Jahren existiert das Projekt auf dem Papier. Doch jetzt nimmt es endlich Gestalt an, sagt Dilion Navarro. Er ist 54 Jahre alt, Betriebswirt und gehört dem Umsiedlungsrat der Guna an. Die ersten Fundamente wurden dieses Jahr gegossen, und Staatspräsident Laurentino Cortizo weihte feierlich den Anschluss ans nationale Stromnetz ein. Doch dann kam im März die Corona-Pandemie, und alles stand erneut still. Die Regenzeit ließ nicht mehr viel übrig von den angelegten Terrassen, tiefe Furchen ziehen sich durch die dunkelrote Erde. „Da müssen noch mal die Maschinen drüber“, seufzt Navarro, der an Rückschläge aller Art gewohnt ist.

Seit über einem Jahrzehnt ist klar, dass die malerischen Inseln zwischen Panama und Kolumbien, auf denen 35.000 Guna-Indigene leben, dem Klimawandel zum Opfer fallen werden. Keine der palmenbestandenen Koralleninseln ragt mehr als zwei Meter hoch aus dem Wasser. Aus der Luft wirken sie wie weiße Kleckse auf einer türkisgrünen Palette. Knapp 30 der rund 350 Inseln sind bewohnt.

Im Jahr 2003 wurde die erste wissenschaftliche Studie über die Folgen des Klimawandels für den Archipel veröffentlicht. Die Meeresbiologen Héctor Guzmán, Carlos Guevara und Arcadio Castillo stellten damals anhand von Messungen an Korallenriffen fest, dass sich der Meeresspiegel zwischen 1907 und 1975 um durchschnittlich zwei Millimeter im Jahr erhöht hat. Inzwischen sind es sechs Millimeter pro Jahr, hat eine neuere Studie des Smithsonian-Instituts für Tropenforschung in Zusammenarbeit mit der Universität von Hawaii ergeben. Die Folgen sind für jeden sichtbar: Sandstrände werden von der Strömung abgetragen, Anlegestellen weggerissen, Palmen von Salzwasser verschlungen und die für Touristen errichteten Holzhütten unterspült. Das Meer ist überfischt und voller Plastikmüll. „Früher konnten wir zu Fuß zu den Korallenriffen und Sandbänken gehen. Dort lebten viele bunte Fische und Seesterne“, erinnert sich Bootsführer Daniel Pérez. „Das ist längst vorbei.“

Inselbewohner besonders vom Klimawandel betroffen

Die Vereinten Nationen schätzen, dass in den kommenden 30 Jahren zwischen 50 und 200 Millionen Menschen ihre Heimat aufgrund des Klimawandels verlassen müssen. Die meisten sind Inselbewohner wie die Guna und leben vom Fischfang oder der Subsistenzwirtschaft. Menschen, die genügsam sind und kaum Energie verbrauchen. Trotzdem wird der Anstieg des Meeresspiegels sie besonders treffen. Die Karibik ist laut den Vereinten Nationen einer der Brennpunkte. „Es ist ungerecht, dass ausgerechnet wir Armen vom Klimawandel so viel stärker betroffen sind als die Reichen“, klagt Pérez. „Dabei sind wir doch nicht dafür verantwortlich.“

Viele Frauen der Guna verdienen sich mit dem Verkauf von Nähkunst an Touristen etwas Geld dazu.

Das freilich ist nicht ganz richtig. Panama emittiert laut UN zwar nur 0,02 Prozent der globalen Treibhausgase. Dass die Guna zur Befestigung und Vergrößerung ihrer Inseln aber seit den 1990er Jahren bis circa Mitte der 2000er Jahre die umliegenden Korallenriffe abgetragen haben, hat die Anfälligkeit für Sturmfluten erhöht. Fast 80 Prozent der Korallenriffe wurden auf diese Weise zerstört, schätzen Wissenschaftler. Geholfen hat es wenig, denn den Kampf gegen den Klimawandel können die Inselbewohner auf Dauer nicht gewinnen. Bis zum Jahr 2050 erwarten die Forscher, dass die Meeresoberflächentemperatur um ein Grad Celsius steigen wird. „Die Lufttemperaturen sind nachts um bis zu zwei Grad Celsius seit den 1970er Jahren gestiegen, die Tagestemperaturen um bis zu einem Grad“, sagt Steve Paton, Direktor des Smithsonian-Instituts in Panama. Das Land bietet einen reichen Schatz an Wetterdaten, die seit dem Bau des Panamakanals aufgezeichnet werden. Die Aufzeichnungen aus den vergangenen 140 Jahren zeigen, dass seit Beginn der Messungen acht der zehn schlimmsten Stürme und zwei der trockensten Jahre in die letzten zwei Jahrzehnte fallen. 

Keine Zeit, die Möbel in Sicherheit zu bringen

Autorin

Sandra Weiss

ist Politologin und freie Journalistin in Mexiko-Stadt. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender aus Lateinamerika.
Was das bedeutet, hat Atilio Martínez vor zwölf Jahren zum ersten Mal selbst erlebt. Im Jahr 2008 wurde seine Insel Gardi Sugdup vollständig überflutet. Dort leben rund 1000 Menschen auf engstem Raum. „Es kam so plötzlich, dass wir keine Zeit hatten, unsere Möbel in Sicherheit zu bringen“, erzählt der Lehrer. „Panik brach aus, und alle stürzten zu den Booten, um aufs Festland überzusetzen.“ Doch der hohe Seegang machte eine Überfahrt unmöglich. „Es waren furchtbare Stunden der Ungewissheit.“ Das Ganze hat sich seither in unregelmäßigen Abständen wiederholt, meist in den windigen Monaten zwischen November und Januar, zuletzt im Jahr 2017. 

So begannen die Inselbewohner nach und nach, das Problem des Klimawandels ernst zu nehmen und über eine Umsiedlung aufs Festland nachzudenken. „Zuerst waren es nur wenige, aber inzwischen wollen drei Viertel umziehen“, schätzt Martínez. Es war aber nicht nur der Klimawandel, sondern eine ganze Reihe von Problemen, erzählt der 60-Jährige weiter. Wegen des starken Bevölkerungswachstums ist die Insel Gardi Sugdup viel zu dicht besiedelt und alles andere als nachhaltig bewirtschaftet. Der Müll muss per Boot abtransportiert werden, Trinkwasser und Essen vom Festland hergebracht werden. Früher ging das per Einbaum, inzwischen sind Motorboote im Einsatz. Auf den zwei Seemeilen zwischen der Insel und dem Hafen von Cartí auf dem Festland geht es zu wie in einem Taubenschlag.

Einst lebten die Guna als Bauern auf dem Festland

Vor zehn Jahren begann die internationale Gemeinschaft, sich für das Umsiedlungsprojekt zu interessieren und Geld und Expertise bereitzustellen – allen voran die Weltbank und nichtstaatliche Organisationen wie Displacement Solutions in der Schweiz, die das Projekt bis heute begleitet. Die Guna waren aus verschiedenen Gründen ein idealer Testfall: Ursprünglich lebten sie auf dem kolumbianischen Festland, wurden aber von dort von der Malaria und Moskitos vertrieben und zogen sich auf die luftigeren Inseln zwischen Kolumbien und Panama zurück. So wurden aus Bauern Fischer. 

Die Insel Gardi Sugdub wird bereits regelmäßig überschwemmt. Ihre Bewohnerinnen und Bewohner sollen als Erste aufs Festland umsiedeln.

In einem blutigen Aufstand gegen die panamaische Regierung, die sie unterwerfen wollte, erkämpften sie sich 1925 ihre Autonomie und ein beträchtliches Stück Wald auf dem Festland. Platz ist dort genug – und auch Know-how: Viele Guna bewirtschaften schon heute ein kleines Stück Land, auf dem sie Bananen, Ananas, Avocados und Maniok anbauen. Für den Bau von Llano Gardí fanden sich auf dem Festland 22 Hektar, die hoch genug liegen, um dem ansteigenden Meeresspiegel zu trotzen, aber trotzdem nahe genug am Wasser sind, so dass die Guna weiterhin aufs Meer fahren können. Dort entwarf die Regierung in Zusammenarbeit mit einer privaten Baufirma und Weltbank-Beratern ein Pilotprojekt für zunächst 300 Familien. Kostenpunkt: zehn Millionen US-Dollar. Zum Projekt gehörten auch ein Krankenhaus und eine Schule.

„Trotzdem waren die Auffassungen geteilt“, erinnert sich Navarro, der zurzeit ein Buch über die Umsiedlung schreibt. „Die Jüngeren waren begeistert, denn auf dem Festland versprach die Regierung auch Strom und Internet.“ Die Älteren kritisierten die nur 41 Quadratmeter großen Zwei-Zimmer-Bauten. Sie fürchteten die Mücken und die drückende Schwüle des Festlands und sorgten sich, dass sie nun für Strom, Wasser und Internet zahlen müssen. Sie bangten um ihre Kultur und um ihren Lebensstil.

Auf den meisten der Inseln gibt es bis heute höchstens Solarstrom, kein Internet, kaum Handyempfang. Dort verbringen die Männer ihre Zeit mit Fischen, Kokosnüsse ernten und mit Bade- und Schnorcheltouren für Touristen. Die Frauen nähen Molas, mehrschichtige bunte Textilien, und fertigen daraus Kunsthandwerk. Am Abend sitzen alle beisammen und erzählen sich auf Guna alte Legenden. Das erhält die Sprache und den gesellschaftlichen Zusammenhalt – beides wollen die Guna nicht verlieren. 

„Das Projekt der neuen Siedlung war ein Abklatsch einer x-beliebigen Sozialhilfesiedlung“, kritisiert der Guna-Umweltgutachter Elliott Brown. Doch das Friss-oder-Stirb-Prinzip, mit dem Regierungen anderswo in Lateinamerika oft Erfolg haben, geht nicht mit den Guna. Sie sind ein stolzes, selbstbewusstes Volk und politisch gut organisiert. Der Rat der Guna, das oberste Organ des Volkes, tagt zweimal im Jahr. Und er befand im Jahr 2011 den Vorschlag der Regierung zum Umsiedlungsprojekt für nicht akzeptabel. Ein neues Konzept musste her. 

Größere Häuser und Räume für Versammlungen

Also wurden größere Häuser geplant und die Grundstücke lockerer gestreut, die Zufahrtsstraße hingegen wurde schmaler, erzählt Brown. Die Kläranlage soll nun so konzipiert werden, dass sie von den Guna selbst gewartet werden kann. Im Zentrum der Siedlung kamen zwei hölzerne, mit Palmwedeln bedeckte Gemeinschaftsräume hinzu. Dort wird der Congreso, der Rat der Guna, abgehalten und die Frauen können die Chicha zubereiten, das Getränk aus Kakao und vergärtem Zuckerrohr, das es zu besonderen Gelegenheiten gibt. 

Als das geklärt war, funkte die Politik dazwischen. Zunächst wurde im Jahr 2012 der Bauminister nach Korruptionsvorwürfen ausgetauscht. Der Nachfolger erklärte den Guna, das Geld sei für einen Notfall woanders ausgegeben worden. Der Kredit der Weltbank für das Projekt war verpulvert, die Baufirma aus Puerto Rico zog ab. Dann wechselte 2014 die Regierung, der neue Minister fand nicht einmal mehr den Bauplan. Brown, 31 Jahre alt, verliert nicht den Humor, wenn er das alles erzählt. „Ich glaube trotzdem daran.“ Schließlich sei allen Beteiligten daran gelegen, dass die erste Klimaumsiedlung auf lateinamerikanischem Boden ein Erfolg wird. 

Vor drei Jahren wurden die Bauarbeiten wieder aufgenommen. Die Schule mit angeschlossenem Internat für Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 18 Jahren ist Brown zufolge fast fertiggestellt, in spätestens einem Jahr werde auch die Siedlung stehen. „Ich freue mich wirklich darauf“, sagt Brown. „Ich musste auf die weiterführende Schule und zum Studieren nach Panama-Stadt gehen, weit weg von meiner Familie. Dort wurden wir Indigenen diskriminiert. Die Jüngeren haben nun die große Chance auf gute Bildung, ohne ihre kulturellen Wurzeln zu verlieren.“ 

Auch Lehrer Martínez liebäugelt nach vielen Jahren des Unterrichtens in der Hauptstadt mit einer Rückkehr in seine Heimatregion. „Unserer Familie wurde ein Bauplatz zugesprochen, und ich freue mich auf den Neuanfang“, sagt er. „Es ist auf jeden Fall viel besser als der Stress der Hauptstadt, wenngleich wohl nicht ganz so gut wie die Sonnenuntergänge und die frische Abendbrise auf den Inseln“, ergänzt er augenzwinkernd. Solange sie noch nicht ganz untergegangen sind, werden auch die Inseln für Tagesausflüge mit Touristen weiter genutzt. „Wir denken auch über schwimmende Hotels nach“, sagt Brown.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2020: Auf die Heißzeit vorbereiten
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