Bauern protestieren im Juni 2016 gegen niedrige Milchpreise. Ihr Anliegen hat auch mit Entwicklungspolitik zu tun, aber sie dafür als Verbündete zu gewinnen, ist gar nicht so leicht.
Die Kindernothilfe hat ihren Sitz in Duisburg im Ruhrgebiet. Von dort arbeitet die Hilfsorganisation in mehr als 600 Projekten rund um den Globus, vor allem in Afrika, Lateinamerika und Asien. Einer ihrer Projektpartner hingegen ist praktisch direkt um die Ecke: der Fußballverein VfL Bochum. Die Kindernothilfe (KNH) hat in diesem Jahr das neu gegründete Kinderschutzteam des Vereins geschult und bei der Erstellung eines Kinderschutzkonzepts beraten – eine Präventionsmaßnahme, um die Jungen und Mädchen, die beim VfL kicken, vor Missbrauch zu schützen.
Bis zum Jahr 2015 hatte die Kindernothilfe kein Mandat für solche Projekte in Deutschland. Doch dann kamen auch in Duisburg in kurzer Zeit viele Flüchtlinge an, viele minderjährig und ohne erwachsene Begleitung. Organisationen wie die Arbeiterwohlfahrt und das Deutsche Rote Kreuz wandten sich an die Kindernothilfe, ob sie ehren- und hauptamtliche Helferinnen und Helfer im Kinderschutz schulen könne. Die Duisburger seien dafür prädestiniert, hieß es, wegen ihrer großen Expertise und weil sie aus ihrer Auslandsarbeit die für den Umgang mit Flüchtlingen so wichtige interkulturelle Kompetenz mitbrächten.
„Wir haben das im Team diskutiert“, sagt Wiebke Weinandt, Mitarbeiterin der KNH-Arbeitseinheit Training und Consulting, „denn bis dahin hatten wir in Deutschland ja nur entwicklungspolitische Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit gemacht.“ Die Bereitschaft, sich zu engagieren, sei aber von Beginn an da gewesen. Und seitdem ist daraus ein weiteres Tätigkeitsfeld geworden. Seit dem Jahr 2017 gibt es die Arbeitseinheit von Wiebke Weinandt, die mittlerweile Kinderschutzschulungen in ganz Deutschland anbietet, etwa für Schulen, Träger von Kindertagesstätten oder eben einen Bundesligaverein wie den VfL Bochum. Im vergangenen Jahr waren es insgesamt rund 40 Schulungen im ganzen Land.
Die Kindernothilfe ist damit eine der entwicklungspolitischen Organisationen, die angefangen haben, sich um soziale Missstände und Aufgaben nicht nur in armen Ländern, sondern auch hier bei uns zu kümmern. Es gibt drei wesentliche Motive für solches Engagement im Inland: zum einen, wie im Fall der Kindernothilfe, die Erkenntnis, dass man eine besondere Expertise einbringen kann. Zum anderen haben die im Jahr 2015 verabschiedeten UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) den Blick geschärft, dass überall auf diesem Globus an einer lebenswerten Zukunft gearbeitet werden muss, nicht nur im „armen“ Süden.
In Nord und Süd dieselben Fragen
Vielleicht der wichtigste Antrieb ist aber das Erstarken von Rechtspopulismus und Rassismus in Deutschland in den vergangenen Jahren und die Wahrnehmung, dass das mit der Zuspitzung gesellschaftlicher und politischer Konflikte etwa um das Thema Einwanderung, mit dem Auseinanderdriften politischer Milieus und mit – echter oder auch nur gefühlter – wachsender wirtschaftlicher Ungleichheit und Benachteiligung zu tun hat. Bernd Bornhorst, der Vorsitzende des Dachverbands entwicklungspolitischer Organisationen Venro, hat bereits Ende 2015 im Interview mit „welt-sichten“ gesagt, Venro wolle sich stärker in entwicklungspolitisch relevante innenpolitische Debatten einbringen: „Wir wollen mit Gewerkschaften und Sozialverbänden enger in Kontakt kommen, um zu zeigen, dass es in Nord und Süd um dieselben Fragen geht, die wir bearbeiten müssen.“
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Wenn es darum geht, sich sozialen und politischen Problemen vor der eigenen Haustür zu öffnen, sind ostdeutsche Eine-Welt-Initiativen und Entwicklungsorganisationen seit Jahren ganz vorne. Im vergangenen Sommer wiesen die entwicklungspolitischen Landesnetzwerke in Ostdeutschland, die Stiftung Nord-Süd-Brücken in Berlin und etliche andere ostdeutsche Organisationen in einem Aufruf darauf hin, dass Ressentiments, Rassismus und Rechtspopulismus die Eine-Welt-Arbeit zwischen Elbe und Oder zunehmend erschweren. Die Geschäftsführerin des Entwicklungspolitischen Netzwerks Sachsen (ENS), Dorothea Trappe, sagte damals, vor allem in ländlichen Regionen in Ostdeutschland herrsche bei vielen das Gefühl: Helft doch erst einmal uns, bevor ihr euch um die Armut in der Welt und um Flüchtlinge kümmert. Trappe plädierte dafür, die wirtschaftliche Not und Marginalisierung vieler Menschen in Deutschland zum Thema entwicklungspolitischer Inlandsarbeit zu machen: „In der Bildungsarbeit ist es ganz wichtig, die Leute da abzuholen, wo sie sind.“
Leben auf dem Land in Kamerun, der Mongolei und in Sachsen
Genau das versucht das Ökumenische Informationszentrum (ÖIZ) in Dresden mit seiner Veranstaltungsreihe „Welt Weit Sichten“. Dazu schaut das ÖIZ nach Themen, die die Menschen in Sachsen gerade bewegen und zu denen sich gleichzeitig ein entwicklungspolitischer Bezug herstellen lässt, erklärt Silke Pohl vom ÖIZ-Referat Gerechtigkeit. Zum Thema Landflucht etwa hat das ÖIZ eine Exkursion in die zwischen Dresden und Chemnitz gelegene Gemeinde Bockendorf mit rund 250 Einwohnern veranstaltet. Mit dabei waren ausländische Studentinnen und Studenten aus Dresden, die mit Bockendörfern über das Leben auf dem Land in Kamerun, der Mongolei und in Sachsen diskutierten. „Das war eine tolle Veranstaltung“, sagt Pohl, „die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben gemeinsame Probleme identifiziert, etwa Mobilität oder die Pflege älterer Dorfbewohner, und nach gemeinsamen Lösungen gesucht.“
Solche Veranstaltungen kommen gut an, sagt Pohl, weil ein Bezug zu den Problemen und Bedürfnissen der Leute hergestellt wird, die man erreichen will. Dasselbe berichtet Magdalena Sankowska, die bei der Organisation arche noVa in Dresden für entwicklungspolitische Bildungsarbeit in Schulen zuständig ist: „Wenn die Schülerinnen und Schüler mitentscheiden können, über welche Themen wir sprechen, sind sie offener für neue Perspektiven.“ Ideal sei es, die Kinder und Jugendlichen schon vor der Veranstaltung kennenzulernen, um ein Gefühl dafür zu kriegen, wie die Stimmung ist und was sie gerade interessiert. Dafür fehlten aber meistens Zeit, Personal und Finanzierungsmöglichkeiten, sagt Sankowska.
Vom äußersten Westen Deutschlands aus versucht die 1982 ins Leben gerufene Aktion 3. Welt Saar, Entwicklungspolitik mit Innenpolitik zu verknüpfen. In der Kampagne „FAIRlaufen“ etwa weist sie darauf hin, dass Anbieter von Fairtrade-Produkten wie der Supermarktriese Lidl oder die Kaffeehauskette Starbucks Arbeitnehmerrechte missachten. Partner in dieser Kampagne ist die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten, mit der die Aktion 3. Welt Saar schon seit vielen Jahren immer wieder zusammenarbeitet.
Für solche Kooperationen müsse man sich auf neue Milieus einlassen, sagt Geschäftsführer Roland Röder. „Gewerkschaften und andere mögliche Partner warten ja nicht auf uns, sondern fragen: Was bringt uns eine solche Zusammenarbeit?“ Man müsse ihnen verständlich machen, dass entwicklungspolitische Anliegen auch mit ihnen zu tun haben. Als Beispiel nennt Röder die Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Deutscher Milchviehhalter für eine faire Landwirtschaft weltweit: In einer gemeinsamen Kampagne geht es um den Zusammenhang zwischen umweltschädlicher und sozial unverträglicher Futtermittelproduktion in Argentinien, Brasilien und Paraguay und Dumpingpreisen für Milch in Deutschland, die die Existenz deutscher Bauern gefährden. Die Kooperation sei „kein Zuckerschlecken“ gewesen, sagt Röder, denn die Bauern stünden unter einem enormen wirtschaftlichen Druck. Diese Not mit der entwicklungspolitischen Perspektive zu verbinden, sei für den Bundesverband ein „gigantischer Lernprozess“ gewesen.
Die Probleme nicht kleinreden
Die Aktion 3. Welt Saar hat ihren Sitz im saarländischen Dorf Losheim am See. Hier müsse man gegenüber ganz unterschiedlichen Milieus „sprechfähig sein“, sagt Röder. Entwicklungspolitische Organisationen in den Großstädten hingegen agierten meistens „in einer Blase“. Venro-Vorsitzender Bernd Bornhorst formuliert es so: „Man muss verstehen, wie die Bedenkenträger ticken, wenn man sie erreichen will.“ Die Entwicklungspolitik müsse manchmal „von ihrem hohen Ross herunter“, denn es reiche nicht, „nur die bereits Überzeugten mitzunehmen“. Für entwicklungspolitisch Engagierte bedeute Kohärenz in der Regel, dass andere Politikbereiche in ihrem Sinne ausgerichtet werden. „Das reicht aber nicht mehr“, sagt Bornhorst. „Wir brauchen eine umfassendere Kohärenz für Nachhaltigkeit, die auch die Lage hier bei uns berücksichtigt.“
Für die entwicklungspolitische Bildungsarbeit mit neuen „Zielgruppen“ heißt das vor allem, dass man sie eben nicht mehr bloß als Zielgruppen wahrnimmt, „die es zu behandeln gilt“, wie die frühere Geschäftsführerin des Entwicklungspolitischen Netzwerks Sachsen, Anne Schicht, es einmal formuliert hat. „Nur mit einem Ernstnehmen auf ,Augenhöhe‘ werden wir mehr Menschen für die Sache gewinnen und mitnehmen“, schrieb Schicht vor drei Jahren in einem Artikel. Magdalena Sankowska von arche noVa sagt mit Blick auf die Arbeit an Schulen: Es gehe darum, gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern Handlungsoptionen zu erarbeiten, ohne moralischen Druck auszuüben. „Wer hat denn das Recht, das Verhalten der jungen Leute zu bewerten?“
Silke Pohl vom Ökumenischen Informationszentrum erzählt, in einem Vortrag zum Recht auf Wohnen vergleiche sie gern mal die Wohnungssituation in Dresden mit der von Daressalam in Tansania in Afrika, wo sich die Zahl der Einwohner in nur 15 Jahren verdoppelt hat. „Auch in Dresden fehlt bezahlbarer Wohnraum, aber der Blick anderswohin verändert die Perspektive“, sagt Pohl. Aber: „Das gelingt nur, wenn man die Sorgen der Menschen hier ernst nimmt. Es geht nicht darum, ihre Probleme kleinzureden.“
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