Tricksen bei der Armutsquote

Antonin Borgeaud/Le Figaro Magazine/Laif

Kigali soll zum Singapur Ostafrikas werden: Mitte 2019 im ­Geschäftsviertel der ­ruandischen Hauptstadt.
 

Ruanda
Ruanda gibt sich als Vorbild für wirksame Armutsbekämpfung. Kritiker sagen, das Regime fälsche dazu die Statistiken. Stimmt das? Und wie reagieren Geberländer?

Haben ruandische Behörden Statistiken gefälscht – und ist die Weltbank deren Komplize? Auf den ersten Blick ist die Frage der Stoff für einen Nerd-Thriller. Je nachdem, wie man die Inflation definiert, ist das kleine ostafrikanische Binnenland weiterhin auf Erfolgskurs oder es hat in den vergangenen Jahren mehr extrem Arme – also Menschen, die von weniger als der Kaufkraft von 1,90 US-Dollar pro Tag leben – produziert als fast jedes andere Land der Welt.

Viel steht auf dem Spiel: die Glaubwürdigkeit des autoritär gesteuerten Entwicklungsmodells Ruandas, das von vielen Fachleuten als Vorbild gepriesen wird, und damit auch die Vergabepolitik multilateraler und bilateraler Geldgeber wie Deutschlands oder der Schweiz. Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie ihre Entwicklungszusammenarbeit tatsächlich an evidenzbasierten Armutsminderungsstrategien ausrichten oder zuweilen auch an diplomatischer Opportunität. Schließlich stehen bei dem Statistik-Thriller die Entwicklungschancen von Millionen von Menschen in Ruanda auf dem Spiel.

Worum geht es? Hohe Wellen schlug im August ein Artikel der „Financial Times“, der auch von deutschsprachigen Medien wiedergegeben wurde. Journalisten der britischen Wirtschaftszeitung hatten die Rohdaten der ruandischen Statistikbehörde analysiert und fanden, dass zumindest für den Zeitraum von 2010 bis 2014 die Armutsberechnungen gefälscht worden seien. Nach üblicher Berechnung habe der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, sehr wahrscheinlich um über sechs Prozentpunkte zugenommen – und nicht, wie offiziell ausgewiesen, um fast sieben Prozentpunkte abgenommen.

Ganz neu ist das nicht. Das britische Beratungsunternehmen Oxford Policy Management, das die Daten für die ruandische Statistikbehörde erhoben und ausgewertet hatte, beklagte sich beim Auftraggeber über eine unzulässige Änderung der Resultate – das berichtete der französische TV-Sender „France 24“ bereits im November 2015. Auch Entwicklungsökonomen kamen schon vor Jahren in mehreren voneinander unabhängigen Studien zum Schluss, dass die Armutsquote in Ruanda in Wahrheit deutlich höher liegen muss als offiziell ausgewiesen.

Streitpunkt Nahrungsmittelpreise

Streitpunkt ist in erster Linie das Ausmaß der Inflation: Sind die Preise für Nahrungsmittel und andere Güter des Grundbedarfs in ländlichen Gebieten, wo über neunzig Prozent der extrem Armen leben, deutlich weniger stark gestiegen als im ruandischen Durchschnitt, wie es die Statistikbehörde behauptet? Oder sind diese Preise auf dem Land sogar überdurchschnittlich stark gestiegen, wie es viele Fachleute und sogar andere ruandische Behörden nahelegen?

Autor

Markus Spörndli

ist Journalist in Nairobi, Kenia, und auf Entwicklungsfragen spezialisiert. Er schreibt regelmäßig für die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ), „Die Wochenzeitung“ (WOZ) und „der Freitag“.
Das zweite Szenario ist eigentlich überall auf der Welt der Normalfall. Denn Märkte funktionieren in Städten besser; bei inländischen Produktionskrisen (die in Ruanda regelmäßig auftreten) kann die Bevölkerung dort auf Importwaren umsteigen, die auf dem Land nicht erhältlich sind. Unabhängige Wissenschaftler wie der Belgier Sam Desiere sehen in Ruanda keine Ausnahme von diesem Prinzip und sind sicher, dass die Armut auch nach 2014 weiter zugenommen hat.

Aus den verschiedenen Rechenspielen ergeben sich gegensätzliche Schlussfolgerungen. Nach dem ersten Szenario wäre Ruanda mit einer aktuellen Armutsquote von etwa 38 Prozent tatsächlich das Singapur Afrikas, als das Präsident Paul Kagame sein Land gerne anpreist. Im zweiten Szenario aber wäre die Armutsreduktionsstrategie spektakulär gescheitert und die Armutsquote läge heute bei 60 Prozent, 15 Prozentpunkte höher als 2011.

Die Weltbank verschanzte sich hinter Floskeln

Die standardisierten Armutsquoten sämtlicher Entwicklungsländer fließen bei der Weltbank zusammen, die schließlich die globalen Statistiken erstellt. Dass die ruandischen Zahlen nicht plausibel sind, ist auch Weltbank-Experten aufgefallen. Als ihre Bedenken von den direkten Vorgesetzten ignoriert wurden, wandten sie sich in einem Brief direkt an den Weltbankpräsidenten und warnten ihn vor „potenziell schwerwiegenden Reputationsrisiken für die Bank“.

Nach den Anschuldigungen sah sich die Weltbank zu einer öffentlichen Erklärung genötigt. Sie ging Mitte August allerdings auf keines der von den Experten vorgebrachten Argumente ein, sondern verschanzte sich hinter diplomatischen Floskeln. Zum Beispiel: „Angesichts der Komplexität des Themas bestehen in allen Ländern unterschiedliche Meinungen über Methoden zur Armutsschätzung.“

Ebenfalls Mitte August weilte der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) in der ruandischen Hauptstadt Kigali und erklärte, dass Ruanda „wirtschaftlich die Spitze erfolgreicher afrikanischer Staaten“ anführe. Deutschland werde die Zusammenarbeit in Zukunft weiter stärken. Als Investitionsstandort sei das Land nicht nur für Volkswagen (VW), sondern zunehmend auch für andere deutsche Unternehmen interessant.

Von „welt-sichten“ auf die umstrittenen Armutszahlen Ruandas angesprochen, erklärte ein Sprecher des Entwicklungsministeriums (BMZ): „Derzeit haben wir keinen Anlass, eine Manipulation der Armutsstatistiken für politische Zwecke anzunehmen.“ Die Weltbank habe den Sachverhalt beurteilt und verfüge über die „notwendige Expertise, um der Komplexität der Berechnungsmethoden gerecht zu werden“. In der Sache sei die ruandische Regierung jedoch durchaus „selbstkritisch“.

Das ruandische Entwicklungsmodell verliert an Glanz

Die schweizerische Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) deutet wenigstens leichte Kritik an: „Die DEZA verfolgt die Kontroverse über die Armutsstatistiken“, schreibt ein Sprecher auf Anfrage. „Sie beteiligt sich in Kigali aktiv an den regelmäßigen Gesprächen der Entwicklungspartner mit der Regierung, anlässlich derer auch Fragen im Zusammenhang mit Datenerhebung und Statistik zur Armutsbekämpfung thematisiert werden.“ Die Schweiz beteilige sich an einem Projekt der UN-Entwicklungsagentur, das unter anderem zum Ziel habe, „die Datenerhebung zur Messung von Entwicklungsfortschritten zu verbessern“.

Aus den naturgemäß diplomatisch gehaltenen Stellungnahmen lässt sich herauslesen, dass das ruandische Entwicklungsmodell mittlerweile etwas an Glanz verloren hat. Dass in dem Land jeglicher Dialog über Demokratie und Menschenrechte unerwünscht ist, wird in der internationalen Zusammenarbeit schon länger bemängelt. Auch die Sorge um die hohe Ungleichheit wird immer wieder thematisiert. Kagame habe immer Geld für Prestigeprojekte, etwa um unter dem Deckmantel der Tourismusförderung seinen Lieblingsfußballclub FC Arsenal zu sponsern. Die Entwicklungshelfer sind dann gut genug, um Löcher im Bildungsbudget zu stopfen, heißt es hinter vorgehaltener Hand.

Aber im Großen und Ganzen steht Kagames Auffassung eines autoritären Entwicklungsstaats nach dem Vorbild sogenannter asiatischer Tiger wie Südkorea oder Singapur bei den multilateralen und bilateralen Gebern bis heute hoch im Kurs. „In unserer Zusammenarbeit zeichnet sich die Regierung durch eine hohe Entwicklungsorientierung und Eigenverantwortung aus“, sagt der BMZ-Sprecher. „Für positiv halten wir die bemerkenswerten Fortschritte, unter anderem in der Gesundheitsversorgung“, schreibt die DEZA-Pressestelle.

Frederick Golooba-Mutebi und David Booth beschreiben in einem viel zitierten Artikel von 2012 in der akademischen Zeitschrift „African Affairs“ Ruanda als überaus erfolgreichen Fall von „Entwicklungspatriarchalismus“. Dieses Modell grenzen die beiden Entwicklungsexperten von dem Governance-Modell ab, das Geberinstitutionen üblicherweise propagierten: Das stelle den wirtschaftlichen und politischen Wettbewerb ins Zentrum, der aber in der frühkapitalistischen Entwicklungsphase „ungezügelte Korruption“ fördere, was die Armutsreduktion behindere. In Ruanda hingegen könne die Regierungspartei – nicht zuletzt mit ihren die heimische Wirtschaft dominierenden, weit verzweigten Beteiligungsunternehmen – eine aktive Industriepolitik umsetzen. Dies ermögliche, die öffentlichen Güter bereitzustellen, die für sozioökonomische Fortschritte und ausländische Investitionen notwendig seien.

Heute ist David Booth weniger optimistisch, was die Entwicklung in Ruanda angeht: „Es scheint, dass anders als früher die Armut nicht mehr erheblich reduziert wird“, sagt der britische Entwicklungsexperte. „Ich bin auch enttäuscht, denn ich bin nach wie vor der Meinung, dass Ruanda – anders als die Nachbarländer, in denen wettbewerbsbedingter Klientelismus vorherrscht – eine bessere Wirtschaftspolitik hinbekommen sollte.“

Auch andere Zahlen gefälscht?

Präsident Kagame setzt die von den asiatischen Tigerstaaten übernommene Entwicklungsstrategie offenbar deutlich weniger energisch um als angekündigt. Dazu hätte er laut Booth viel stärker in die Landwirtschaft und in den sozialen Wohnungsbau investieren müssen. Und er hätte weniger den Bergbau und das verarbeitende Gewerbe fördern sollen, sondern Produktionssektoren, die viele gering qualifizierte Arbeitskräfte aufnehmen können – die exportorientierte Fertigungsindustrie zum Beispiel. „Ruanda gleicht anderen Ländern in der Region viel stärker, als einige von uns gehofft haben“, sagt Booth.

Andere sind nur deshalb nicht enttäuscht, weil sie die Hoffnungen längst aufgegeben hatten. Allen voran David Himbara. Der frühere Strategie- und Politikchef in der ruandischen Regierung floh 2010 mit der Begründung aus dem Land, dass er nicht bereit sei, offizielle Daten zu manipulieren. Seither hat er mehrfach aufgezeigt, dass die Armutszahlen nur eine von vielen Statistiken sind, die gefälscht werden, um die Parteileitung zufriedenzustellen. Dazu gehörten auch die weltweit bewunderten Zahlen zum Wirtschaftswachstum oder zur Gesundheitsversorgung.

Eine ähnliche Position vertritt Dominique Uwizeyimana. Der außerordentliche Professor an der Universität Johannesburg legte in einem Anfang 2019 publizierten Artikel dar, dass Ruanda ab 2000 tatsächlich Institutionen nach Vorbild von Singapurs Entwicklungsstaat aufgebaut hat – heute aber weit hinter den Erfolgen zurückliegt, die der asiatische Staat im gleichen Zeitraum erreicht hatte.

„Das Wirtschaftswachstum fußt weitgehend auf schuldenfinanzierten Investitionen in Prestigeprojekte“, sagt Uwizeyimana. „Das neue Kongresszentrum und die meisten anderen dieser teuren Projekte liegen in Kigali und machen aus ihr vielleicht die sauberste Stadt Afrikas, aber sie sind weit weg von den ländlichen Gebieten, in denen fast 90 Prozent der ruandischen Bevölkerung leben.“

Zu den Prioritäten Kagames gehört der Anspruch, Hightech-Güter wie Smartphones und Autos im Land zu produzieren. „Es ist kein Geheimnis, dass letztes Jahr Volkswagen vor allem deshalb eine Fabrik eröffnete, weil die ruandische Regierung die gesamte Infrastruktur sponserte und auf jegliche Steuern verzichtet“, sagt Uwizeyimana. „Dabei schafft VW nur wenige Arbeitsplätze, denn anders als in Ägypten oder Südafrika produziert das Werk in Ruanda gar keine Autos. Es beschränkt sich auf die einfache Montage importierter Einzelteile.“

Für Uwizeyimana ist klar: Die ruandische Erfolgsgeschichte fußt auf Lügen. Und die Weltbank mache mit, weil sie sich nicht schon wieder einen Fehlschlag leisten könne. Denn die internationale Finanzierungsinstitution in Washington D.C. hat die ruandische Entwicklungspolitik stark geprägt. „Solange die ruandische Armutsreduktionsstrategie ein gutes Image genießt, werden die Entwicklungsgelder weiterfließen“, sagt Uwizeyimana. So werde das ruandische Modell auch auf andere Entwicklungsländer übertragen – egal ob es zur Reduktion der Armut beiträgt oder nicht.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2019: Armut: Es fehlt nicht nur am Geld
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