Abendmahl in einer syrisch-orthodoxen Gemeinde in Qamischli im Nordosten Syriens.
Der Norden und Nordosten Syriens ist seit Jahrhunderten kurdisches Siedlungsgebiet. Doch auch Christen leben in dieser Region an den Grenzen zur Türkei und zum Irak. Viele haben Vorfahren, die sich während des Genozids der Jungtürken an den christlichen Minderheiten vor mehr als hundert Jahren in dieser Region in Sicherheit bringen konnten. Das sei Teil des kollektiven Gedächtnisses der christlichen Minderheit, schreibt Otmar Oehring in der Studie „Zur Lage und den Perspektiven der Christen in Nord- und Nordostsyrien“.
Eine Sicherheitszone unter der Verwaltung der Türkei wäre für die Christen deshalb genauso ein Desaster wie für die Kurden, meint Oehring. Vermutlich würden viele die Region dann für immer verlassen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat die Studie wenige Wochen vor dem Abzug der amerikanischen Truppen veröffentlicht. Mit dem Einmarsch türkischer Truppen vor einigen Tagen ist aus einem möglichen Szenario aber Realität geworden.
In der Studie zeigt Oehring, wie vielschichtig die christliche Bevölkerung in Nordsyrien ist. 2004 lebten dort noch mehr als 82.000 Christen, heute sind es nur noch 32.000. Darunter sind Oppositionsgruppen, die von Anfang an gegen das Assad-Regime waren und mit den Kurden gegen den Islamischen Staat (IS) gekämpft haben. Darunter sind außerdem Christen, die vor dem IS fliehen mussten, sowie solche, die erst in jüngster Zeit vom Islam konvertiert sind. In Afrin haben sich Christen zu einer neuen christlichen Gemeinde zusammengeschlossen, die aber 2018 vom IS und türkischen Truppen vertrieben wurde und sich in Kobane niedergelassen hat.
Eine Rückkehr ist kaum realistisch
Oehring geht auch auf das Zusammenleben zwischen Kurden und Christen in der von den Kurden dominierten Demokratischen Föderation Nordsyrien ein. Demnach habe es immer wieder Übergriffe auf Christen gegeben. Wer die Entscheidungen der Selbstverwaltung kritisiere, müsse mit Gewalt rechnen, schreibt Oehring. Als Beispiel nennt er unter anderem die Auseinandersetzungen, die es bei der Einführung eines kurdischen Lehrplans an christlichen Schulen gegeben hat.
Eine zentrale Frage der Studie ist, wie realistisch es ist, dass Christen, die aus allen Landesteilen geflohen sind, nach dem Ende der Kriegshandlungen wieder nach Syrien zurückkehren werden. Oehring ist da skeptisch. In vielen Gegenden seien Christen von radikal-islamischen Gruppen bedroht worden. Ihre Rückkehr hänge davon ab, inwieweit sich die sunnitische Bevölkerung den radikal-islamischen Rebellengruppen angedient habe und gemeinsam mit diesen gegen die christliche Bevölkerung vorgegangen sei. Erschwerend komme hinzu, dass sich bestimmte Kirchenführer schnell zugunsten des Assad-Regimes positioniert hätten, was für das künftige Zusammenleben mit der sunnitischen Mehrheit eine Belastung sein könnte, schreibt Oehring.
Oehring weist darauf hin, dass die christliche Minderheit bislang prozentual stärker von den Auswirkungen des Krieges betroffen sei als die muslimische Bevölkerung. Vor dem Krieg machten Christen noch mehr als fünf Prozent der Gesamtbevölkerung von 20,9 Millionen Menschen aus. Heute sind es nach Schätzungen der katholischen Kirche nur noch knapp zwei Prozent (340.000 Christen). Die meisten seien vermutlich für immer ins Ausland geflohen.
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