Die Grenze zwischen El Paso (USA) und Ciudad Juárez (Mexiko) über den Fluss Rio Bravo.
Die Sporthalle des Stadtparks ist groß und modern. Je nach Spielfeldseite haben die Plastikbänke der Tribünen unterschiedliche Neonfarben. Von der Stahlkonstruktion des Daches hängen digitale Anzeigetafeln. Doch seit Jahresbeginn gibt es hier keine Basketballspiele mehr und auch ein Kirchentreffen wurde abgesagt. Heute liegen rund 500 Menschen aus Kuba, Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und sogar aus Georgien und dem Kongo auf dem Hallenboden. Kinder spielen Fangen auf den schmalen Gängen zwischen den provisorischen Lagern aus dünnen blauen Matratzen und karierten Wolldecken. Einzelne Männer und Frauen haben sich auf die Tribünen hoch unter dem Hallendach zurückgezogen und telefonieren mit Verwandten zuhause oder in den Vereinigten Staaten. Dort, wo sie alle ausnahmslos hinwollen, die hier liegen auf der anderen Seite der Grenze im mexikanischen Ciudad Juárez.
„In Kuba reicht es nicht zum Überleben“, erzählt Carmen*. Die schlanke Frau, die ihren Afro mit einem Kopftuch hochgebunden hat, hat in Havanna mit ihrem Mann Kleidung verkauft – ohne staatliche Genehmigung und über Mund-zu-Mund-Propaganda. „Doch die Repression wurde immer stärker. Die Polizei hat immer wieder unsere Ware beschlagnahmt. Wovon sollen wir leben? Wir entschlossen uns zu gehen.“
Ihre Kinder, 11 und 14 Jahre alt, sind bei den Großeltern zurückgeblieben. „Die Regierung lässt die Leute nicht frei atmen, das ist das Problem.“ Das Ehepaar hat einen Flug von Havanna nach Cancún und von dort an die Nordgrenze Mexikos genommen. Im Flughafen von Ciudad Juárez ist das schon Alltag: „Kubaner nach rechts zum Migrationsschalter“, rufen Beamte gelangweilt den Ankommenden entgegen.
„Es muss ja nicht immer alles durchorganisiert sein“
Carmen und ihr Mann haben sich hinten links auf dem riesigen Matratzenlager in der Halle eingerichtet. Es gibt nur zwei Bäder und pro Person fünf Minuten Zeit zum Duschen am Tag. Doch Carmen ist hier lieber als in einer der Herbergen, wie dem alteingesessenen Casa de Migrante oder den neuen provisorischen Unterkünften in Kirchengemeinden. „Für mich ist nichts schlimmer als Abwarten. Hier kann ich mit anpacken. In den Herbergen hingegen ist Nichtstun angesagt. ,Setzt euch irgendwo hin, bis es Essen gibt‘, sagen sie einem dort.“
Chaotisch und schlecht organisiert, das werfen die Presse und nichtstaatliche Organisationen dem Sozialministerium des Bundesstaates Chihuahua vor, das die Notunterkunft in der Sportanlage der Grenzstadt aufgemacht hat. Carmen zuckt die Schultern. „Es muss ja nicht immer alles durchorganisiert sein. Wir sind schließlich erwachsene Menschen.“ Gemeinsam mit vier anderen Männern und Frauen aus der kubanischen Hauptstadt regelt sie dreimal am Tag die Essensausgabe. Morgens und mittags verkocht ein weiteres Team die Lebensmittelspenden der mexikanischen Regierung. Abends liefern Kirchengemeinden das Essen an.
Dann findet in einem Tanzsaal im Seitentrakt der Sportanlage, wo Kekskartons und Reissäcke die großen Spiegel verstellen, eine Choreographie der ganz anderen Art statt. Dann lässt der 16-jährige Juan* drei Schlangen formen – Kinder, Frauen und Männer –, winkt sie nacheinander herein und gibt jedem aus einem Spender einen Klecks Desinfektionsgel auf die Handfläche. Währenddessen verteilen zwei Frauen und ein Mann den Inhalt zweier großer Suppentöpfe mit Hühnchen und Reis auf bunte Plastikteller. Der breitschultrige Javier* lotst die Bewohner der Sportanlage durch die selbstorganisierte Essensausgabe.
In einer halben Stunde sind Hunderte von Menschen einmal durch den Tanzsaal gegangen. Dann ist alles vorbei, die Töpfe sind leer und die Ersten kommen und geben Geschirr zurück. „Das ist Roberto, das ist Estebán, sie helfen euch die Teller abzutrocknen“, sagt Javier zu jungen Freiwilligen vom lokalen Rotary Club und hält ihnen rotkarierte Geschirrhandtücher unter die Nase. Die mexikanischen Jugendlichen grinsen verdutzt und machen sich wortlos an die Arbeit; dafür sind sie ja hier. Eine weitere Stunde später ist alles wieder sauber. Der Tanzsaal schließt seine Türen – bis zur Frühstücksvorstellung.
Das Asylrecht außer Kraft gesetzt
Carmen und ihr Mann machen sich zu einer Runde durch den angrenzenden Stadtpark auf. Enten schwimmen auf künstlichen Seen, eine einsame Giraffe überragt den Kakteengarten. Das Ehepaar telefoniert schlendernd mit ihren Kindern zuhause in Havanna. Eine lange Zeit werden sie hier an der Grenze zu den USA verbringen. Denn im Januar hat die Regierung von Donald Trump den neuen mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador dazu gebracht, Mexiko in einen Wartesaal für Asylsuchende zu verwandeln. Geflüchtete mit dem Ziel USA sollen bis auf weiteres beim südlichen Nachbar verbleiben. Das Asylrecht wird an der Südgrenze der USA außer Kraft gesetzt, seit es hier verstärkt von Migranten eingefordert wird.
Seitdem werden Menschen auf der Flucht auf den Brücken über den Grenzfluss zurückgewiesen. Sie müssen sich auf einer Liste eintragen, die die Mexikaner für die US-amerikanischen Einwanderungs¬behörden führen. Carmen hat die Nummer 13.786; sie wird bis August oder September auf ein erstes Interview bei den Behörden in den USA warten müssen. Erfüllt sie die minimalen Chancen auf ein Asylverfahren, geht es erneut zurück nach Mexiko – eventuell für Jahre, bis zu einem endgültigen Entscheid. Wenn sie laut US-Behörden keine „glaubhafte Angst“ vor Verfolgung vorbringen kann, wird sie umgehend nach Kuba abgeschoben.
Im Casa de Migrante, einer Ansammlung von Backsteinbauten im Süden der Stadt, sind die schmiedeeisernen Tore um diese Uhrzeit längst geschlossen. Hier herrscht ein strengeres Regime als in der Sporthalle; vielen Geflüchteten missfällt das. Handys werden am Eingang in Gewahrsam genommen. Gerade die gebildeten, selbstbewussten Kubaner geraten mit den von der stetigen Überbelegung überforderten Angestellten des von der Diözese Juárez geführten Hauses oft aneinander.
Schutz vor Schleusern
Doch Pater Javier Calvillo rechtfertigt die Regeln als Muss, um die Sicherheit für alle zu gewährleisten. „In Ciudad Juárez ist die organisierte Kriminalität allgegenwärtig“, sagt er. Wer ein Handy habe, könne Fotos von Frauen und Kindern machen und sie als „Ware“ anbieten. „Immer wieder versuchen Schleuser, mit den Menschen hier Kontakt aufzunehmen.“ Und diese gingen nicht selten auf deren Angebote ein – angesichts des sich verschärfenden Grenzregimes der Regierung Trump und der immer längeren Wartezeiten auf der umstrittenen Liste.
Autorin
Kathrin Zeiske
ist freie Journalistin und berichtet aus Mexiko und Mittelamerika.Bislang hat sich die Herberge mit privaten Spenden über Wasser gehalten; staatliche Stellen hingegen haben den schlanken Pater als leidigen Bittsteller abgetan. Nun hat ihn die Zusage von Geldern aus dem Vatikan erreicht. Für Papst Franziskus ist die Situation von Geflüchteten in Mexiko ein wichtiges Anliegen; schon bei seinem Besuch in Ciudad Juárez im Februar 2016 hatte er die Verantwortung der Kirche hervorgehoben und direkt an der Grenze eine Messe abgehalten.
Nicht alle genießen kirchlichen Schutz
Doch nicht alle Geflüchteten genießen kirchlichen Schutz. Gerade Schwule, Lesben und Transsexuelle werden in Herbergen sowohl von anderen Bewohnern wie auch von Angestellten diskriminiert. Viele Angehörige der LGBTI-Communities fliehen aus Mittelamerika, wo sie von Angehörigen der Polizei und der Jugendbanden mit dem Tode bedroht werden.
In Ciudad Juárez werden sie seit einigen Monaten kurzerhand von den Behörden in die Obhut einer stadtbekannten Gesundheitsaktivistin gegeben. Grecia Herrera schüttelt den Kopf: „Mir werden die Menschen ausgehändigt, aber sonst gar nichts. Keine Unterkunft, keine Lebensmittelspenden, kein Geld!“ Die Stadtangestellte, die sich seit drei Jahrzehnten für den Zugang von HIV-infizierten und transsexuellen Menschen zum Gesundheitssystem engagiert, hat ein Haus in der Innenstadt gemietet. Sie finanziert die neue Herberge „Respetrans“ aus der eigenen Tasche und mit Spenden aus den USA – dem nahen und doch so fernen Ziel seiner Bewohner und Bewohnerinnen.
Suhemy* aus El Salvador fühlt sich hier bis auf weiteres gut aufgehoben. „Ich habe im vergangenen November mein Land verlassen“, erzählt die Transfrau und macht es sich in Shorts auf dem Sofa bequem. Dort gebe es viel Diskriminierung und keine Arbeit für Menschen wie sie. „Ich träume davon, dass in meinem Pass ein drittes Geschlecht steht.“ Auf der Reise sei sie sogar dem Tod begegnet: „Vor unseren Augen wurde jemand ermordet, Menschen wurden entführt. Wir haben Hunger gelitten und auf der Straße gelebt. Ich suche ein sicheres Land, in dem ich einfach ich sein kann.“
Sie sitzt unter einem Regenbogenbanner, die Möbel sind abgenutzt, der alte Kühlschrank kämpft polternd gegen die Hitze an. Zwei Mitbewohnerinnen machen „pupusas“ in der offenen Wohnküche, salvadorianische gefüllte Maistortillas. Im Radio läuft Reggeaton, karibische Hits, die alle leise mitträllern. Die Stimmung ist entspannt. Jeder hier weiß, dass Ausgrenzung tötet – wie in Mittelamerika, wo Menschen mit anderer sexueller Identität auf offener Straße erschossen oder erschlagen werden.
Für Transfrauen ist die Stadt gefährlich
Lesbische und schwule Mitbewohner der Notgemeinschaft versuchen zum Haushaltseinkommen beizutragen. Grecia Herrera vermittelt sie an wohlgesonnene Baumarktbesitzer und Altenheime. „Doch für Transfrauen wie Suhemy ist Ciudad Juárez zu gefährlich“, sagt sie. Die einzige Arbeit, für die sie akzeptiert würden, sei die Prostitution, und dort gefährdeten sie ihr Leben. Denn Ciudad Juárez ist bekannt für Frauenmorde, einschließlich Hassmorden an Transfrauen. „Die Musik, die wir in unserem Inneren tragen, dient dazu, all das Grauen zu übertönen, das wir erleben“, sagt sie und tritt vor die Tür der Herberge in einer nicht asphaltierten Nebenstraße.
Hier im Zentrum der Stadt gehören die kleinen Gruppen von Kubanern, die sich in heruntergekommenen Hotels und billigen Pensionen eingemietet haben, längst zum Straßenbild. Sie haben wohlsituierte Verwandte in den USA, die aus politischen Gründen dort bevorzugt behandelt werden. Anders als Geflüchtete aus Mittelamerika, die zumeist aus großer Armut kommen, können sie sich eine Privatunterkunft leisten.
Fausto Choc* und seine Familie aus Guatemala schlafen hingegen seit ein paar Tagen in Häusereingängen in der tagsüber stark frequentierten Fußgängerzone. Sie waren ein paar Wochen zuvor unweit von hier auf Anweisung eines professionellen Schleusers über die Umgehungsstraße an der Grenze gelaufen, hatten das Rinnsal im Betonkanal des Río Bravo durchwatet, die Böschung erklommen und die USA über einen der wenigen Abschnitte betreten, an denen noch keine der gigantischen rostbraunen Stahlstelen zu Juárez US-amerikanischer Zwillingsstadt El Paso stehen. Dort lieferten sie sich der Border Patrol aus.
Nach einer ersten Asylanhörung wurden sie in die mexikanische Grenzstadt zurückgeschoben. Ihr Verfahren wird frühestens im Frühjahr 2020 stattfinden. Die mexikanischen Behörden, die sie in Empfang nahmen, teilten ihnen mit, dass sie bis dahin in Mexiko bleiben könnten. Eine Arbeit jedoch dürften sie nicht aufnehmen. „Wovon sollen wir leben? Wer soll uns solange aufnehmen? Die Herbergen sind alle voll“, seufzt der 30-jährige Familienvater. Sie denken über die Rückkehr nach Guatemala nach. Vermutlich ist es genau das, was die US-Regierung erreichen will.
*Namen von der Redaktion geändert.
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