Plötzlich Einwanderungsland

Peru
Viele Venezolaner fliehen vor Hunger und Elend nach Peru. Dort dürfen sie sofort arbeiten. Für die Peruaner
ist diese Zuwanderung eine ganz neue Erfahrung – ihre Solidarität wird auf die Probe stellt.

Man hätte fast meinen können, dass Perus Staatspräsident Pedro Pablo Kuczynski von Bundeskanzlerin Angela Merkel inspiriert war, als er am 28. Juli 2017 in seiner jährlichen Ansprache an die Nation verkündete: „Wir haben die temporäre Arbeitsbewilligung für unsere venezolanischen Brüder verlängert. Ihr seid willkommen in diesem unserem demokratischen Land!“ Tatsächlich hieß Kuczynski Menschen, die vor dem Regime von Präsident Nicolás Maduro aus Venezuela flüchteten, vor allem aus geopolitischen Motiven in seinem Land willkommen. Der liberalkonservative und USA-freundliche Präsident wollte sich in Südamerika als Anführer der Gegner des diktatorisch regierten Venezuela profilieren.

Seine Botschaft wurde von den ausreisewilligen Venezolanern gehört. Peru ist heute nach Kolumbien und den USA das Land mit der höchsten Zahl venezolanischer Migranten. Mitte September 2018 lebten in Peru nach Angaben des Innenministeriums 445.000 Venezolaner. Dies ist nicht viel in einem Land mit 30 Millionen Einwohnern. Allerdings sind drei Viertel von ihnen im vergangenen Jahr eingereist. Auf dem vorläufigen Höhepunkt des Flüchtlingsstroms Mitte August 2018 passierten bis zu 5000 Personen täglich die Grenze von Ecuador nach Peru. Heute sind es nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) immer noch bis zu 3000.

Wenn man Neuankömmlinge fragt, warum sie ausgerechnet Peru gewählt haben, sagen alle übereinstimmend: „Weil wir hier legal arbeiten dürfen.“ Zwar sind die peruanischen Ausländerbehörden mit der Migrationswelle extrem belastet und brauchen Monate für die Bearbeitung der Anträge auf eine Arbeitserlaubnis. Doch jeder Venezolaner darf arbeiten, sobald er seinen Antrag abgegeben hat. Er muss dafür nicht auf die endgültige Bewilligung warten. Die aufeinander folgenden Einwanderungswellen zeigen, wie sich die Not in Venezuela immer mehr ausgebreitet hat. Zuerst kamen Angehörige von nach Venezuela ausgewanderten Peruanern sowie gut ausgebildete Akademiker oder Facharbeiter. Viele reisten per Flugzeug oder, seit das für die meisten Venezolaner nicht mehr erschwinglich ist, per Bus in einer fünftägigen Fahrt von Caracas nach Lima.

Heute machen sich auch Venezolaner ohne Ausbildung auf den Weg, viele zu Fuß. „23 Tage bin ich gelaufen von Valera an der kolumbianischen Grenze bis nach Lima“, sagt Joel Peña, ein 32-jähriger Familienvater, der in Venezuela als Kellner gearbeitet hatte. Die 200 US-Dollar für die Busfahrt bis nach Lima konnte er nicht mehr zusammenkratzen. Joel Peña ist wie viele Landsleute dem Hunger entflohen. Sein einziges Ziel: Arbeit finden, Geld verdienen und nach Hause schicken. Und dann sparen, um die Familie nachzuholen.

Viele versuchen ihr Glück in Gamarra, dem Zentrum der Textilwirtschaft im Herzen Limas, das sich aus unzähligen Hinterhofwerkstätten und Kleiderläden jeglicher Größe zusammensetzt. Auf den engen Straßen schieben Männer Handwagen voller Stoffrollen hin und her, junge Frauen locken Kunden in ihre Geschäfte, an jeder Ecke wird Essen für hungrige Shopper angeboten. Das für Venezolaner typische singende Spanisch oder ein „mi amor“ („meine Liebe“), mit dem in Venezuela alle begrüßt werden, ist nicht zu überhören. „Fast jeder von uns hat einen oder zwei Venezolaner beschäftigt“, sagt Orlando de la Cruz. Er stellt gestickte Borten her. „Sie wollen schnell lernen und weiterkommen“, lobt de la Cruz seine venezolanischen Mitarbeiter. „Ich bezeichne sie als Nomaden, denn sie haben hier niemanden, sind nur hier, um zu arbeiten.“

Autorin

Hildegard Willer

ist freie Journalistin und lebt in Lima (Peru).
Gamarra ist aber nicht nur ein Ort des Volkskapitalismus, sondern auch der Ausbeutung. In engen Werkstätten werden T-Shirts rund um die Uhr genäht, ungeachtet der Arbeitsgesetze, die einen Mindestlohn und geregelte Arbeitszeiten vorschreiben.  In Peru sind fast drei Viertel der Erwerbstätigen im informellen Sektor tätig, zum Beispiel als kleine Geschäftsleute, Tagelöhner, Straßenhändler, Subsistenzlandwirte, Hausangestellte oder eben als Näher oder Näherinnen in den sogenannten Sweatshops. Der gesetzliche Mindestlohn ist mit umgerechnet rund 250 Euro pro Monat wahrlich nicht üppig, aber ob er auch gezahlt wird, wird wenig kontrolliert.

Neu ankommende Venezolaner finden auf diesem informellen Arbeitsmarkt zwar sehr schnell irgendeinen Job. Sie erhalten dafür aber oft nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn. Den meisten bleibt nichts anderes übrig, als auf die Lohndrückerei einzugehen. Eine Umfrage der IOM unter venezolanischen Migranten hat ergeben, dass fast die Hälfte der Befragten weniger als den Mindestlohn verdiente und mindestens drei Viertel keinen Arbeitsvertrag hatten. Davon profitieren vor allem peruanische Kleinunternehmer, die von den Behörden wenig kontrolliert werden.

Die Solidarität mit den Venezolaner ist groß

Statt die Ausbeutung der peruanischen Unternehmer zu geißeln, richtet sich der Unmut gegen die Billigkonkurrenz gegen die Venezolaner. „Venezolaner verdienen garantierten Lohn von umgerechnet 312 Euro.“ Die Falschmeldung verbreitete sich rasch durch die sozialen Netzwerke.  Den Migranten gebe der Staat alles und bevorzuge sie gegenüber den Peruanern, lautet eine weitere Fake News. Tatsache ist, dass der peruanische Staat die Venezolaner ebenso wenig versorgt wie seine eigenen Bürger.

Die Solidarität der Peruaner mit den Neuankömmlingen ist groß – auch wenn sie sich weniger in den sozialen Medien bemerkbar macht und nicht für Schlagzeilen taugt. Denn fast jeder in Peru weiß, was es heißt, Migrant zu sein und nach jahrelangem Studium an einer peruanischen Universität in Madrid oder New York Zimmer zu putzen oder Alte zu pflegen. Die meisten Peruaner haben Verwandte, die in der Wirtschaftskrise der 1980er Jahre in alle Welt ausgewandert sind. Auch Venezuela gehörte damals zu den begehrten Zielen für Peruaner, die zu Hause unter Hyperinflation und Terrorismus litten. Drei Millionen von ihnen leben heute im Ausland. Erst seit Peru sich politisch stabilisiert hat und die Wirtschaft wächst, hat der Wegzug etwas nachgelassen.

„Die Venezolaner fliehen aus humanitären Gründen, sie lassen alles zurück. Wenn ich kann, helfe ich“, sagt Vilma Villanueva, die einer venezolanischen Familie sehr kostengünstig Unterkunft gegeben hat, obwohl sie selbst nicht zu den Reichen gehört. Sie ist kein Einzelfall. Das Gefühl, etwas zurückzugeben von der selbst erfahrenen Solidarität im Ausland ist in Peru stark verbreitet.
Für die Menschen in Peru ist es eine neue Erfahrung, dass ihr ehemals so armes Land attraktiv ist für die ehemals so reichen Venezolaner. Doch das sorgt auch für Spannungen. Denn die Venezolaner sprechen zwar die gleiche Sprache und gehören demselben Kulturraum an. Doch sie bringen die Erfahrung eines relativ gleichberechtigten Umgangs untereinander mit und stellen damit das peruanische Gesellschaftsmodell, das bis heute stark auf der Ausgrenzung der indigenen Mehrheit gründet, stark infrage. Der Journalist Juan Manuel Robles etwa meint, nur die reiche Oberschicht könne die Augen davor verschließen, dass die Einwanderer eine Konkurrenz für die peruanischen Armen darstellten.

Stimmung gegen Einwanderer auf Twitter

Die Fremdenfeindlichkeit macht sich vor allem in sozialen Netzwerken Luft. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) hat die Kommentare zu Venezuela in peruanischen sozialen Netzwerken ausgewertet und kommt zu einer ernüchternden Analyse: „76 Prozent der Twitter-Posts machen Stimmung gegen die Einwanderung, 39 Prozent davon in sehr aggressiver Form“, sagt Julio Gutierrez, der Informationsbeauftragte der IOM in Peru. 45 Prozent der ausgewerteten Posts plädierten für eine Einreisebeschränkung, 29 Prozent sagten, dass die Immigration Probleme bringe, und nur in 26 Prozent werde Solidarität mit den Venezolanern ausgedrückt. Diese Stimmung wird von den Medien und einigen Politikern zusätzlich geschürt und beeinflusst auch die Regierung. Sie verfügte, dass ab 25. August nur noch Venezolaner mit Reisepass nach Peru einreisen dürfen. Im krisengeschüttelten Venezuela einen Pass zu erhalten, kostet Zeit und Geld. Peruanische Menschenrechtsgruppen klagten dagegen und bekamen Recht: Ein Gerichtsurteil hob die Bestimmung am 5. Oktober wieder auf.

Dabei gibt es für alle, die keinen Pass haben, ein anderes Schlupfloch: Sie können an der Grenze sagen, dass sie in Peru politisches Asyl beantragen werden. Dafür braucht man weder einen Reisepass noch ein polizeiliches Führungszeugnis von Interpol, wie es für die Arbeitserlaubnis notwendig ist. Die Bearbeitung des Asylantrags kann zwar über ein Jahr dauern, doch gleich nach der Antragstellung wird eine vorläufige Arbeitsbewilligung ausgestellt. Und das ist für die Venezolaner das Wichtigste. Das Amt für Asyl fristete in Peru bis vor kurzem ein Nischendasein in einem Hinterzimmer des Außenministeriums. Noch vor zwei Jahren beantragten gerade 4700 Personen pro Jahr  Asyl in Peru. Dies hat sich dramatisch geändert: Seit Januar 2018 haben 126.997 Personen in Peru Asylgesuche gestellt.

Vor dem unscheinbaren Gebäude an der Stadtautobahn in Lima warten rund zehn Venezolanerinnen auf Einlass. Eine junge Frau mit einem T-Shirt in den Farben der Nationalflagge Venezuelas verkauft Kaffee und venezolanische Empanadas. Hier ist das Büro der peruanischen Flüchtlings-Sonderkommission, eine Unterabteilung des Außenministeriums, die Asylanträge entgegennimmt. „Ich fahre zweigleisig, habe sowohl die Arbeitsgenehmigung als auch Asyl beantragt“, erzählt die 42-jährige Silveri Carriel. Sie ist nicht die Einzige. Um einen Asylantrag zu stellen, muss sie nur ihre Geschichte auf einem Blatt Papier glaubhaft darstellen. Modellbriefe gibt es im Computer des Internetcafés gleich nebenan.

Wenn man die Venezolaner fragt, loben fast alle die Peruaner und ihre Solidarität. „Ich verstehe die Peruaner auch, es sind einfach zu viele von uns gekommen“, sagt Chego Escalona, ein ausgebildeter Philosophielehrer, der nun als Wachmann arbeitet. „Und schließlich habe ich noch einen Ausweg: Ich mache einfach meinen Mund nicht auf“, meint er augenzwinkernd. Denn einen Venezolaner erkennt man nicht an seinem Aussehen, sondern an seinem singenden Spanisch.

Mit der Willkommenskultur zu Beginn der Fluchtbewegung hören die Parallelen zwischen Deutschland und Peru aber schon auf. Kuczynski, der Präsident, der den Venezolanern Arbeit in Peru versprochen hat, ist nicht mehr im Amt. Er kam im März dieses Jahres seiner Absetzung mit einem Rücktritt zuvor. Wegen seiner Migrationspolitik wurde er jedoch nie angefeindet. Seine Geschäfte mit dem korrupten brasilianischen Baukonzern Odebrecht haben ihm politisch das Genick gebrochen

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erschienen in Ausgabe 11 / 2018: Eingebuchtet
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