Der tunesische Premierminister Youssef Chahed wählte feierliche Worte: „Ich habe beschlossen, in Tunesien, diesem revolutionären, freien und ehrwürdigen Land, der Rassendiskriminierung ein Ende zu bereiten“, verkündete er im vergangenen Oktober. Damals trat ein Gesetz in Kraft, das sämtliche Formen der Diskriminierung und rassistischer Übergriffe, Beleidigungen und Drohungen unter Strafe stellte. Rassistische Diskriminierung kann seitdem mit bis zu drei Jahren Gefängnis und 1000 Dinar (3000 Euro) Strafe geahndet werden.
Ausgehend von dem Verfassungsgrundsatz, nach dem alle Bürgerinnen und Bürger ohne Rücksicht auf Hautfarbe, Nationalität, Geschlecht oder Religion gleich zu behandeln sind, soll das Gesetz insbesondere dazu beitragen, Rassismus gegenüber Schwarzen auszumerzen. Das tunesische Forum für ökonomische und soziale Rechte (FTDES) und der Verband zur Unterstützung von Minderheiten (TSM) begrüßten es als historischen Schritt und als Ergebnis eines langen, harten Kampfes zur Beseitigung von Diskriminierung.
Lynchmorde und Raubüberfälle
Laut Antirassismusverbänden und Menschenrechtsanwälten leiden Schwarze in Tunesien unter einer tief verwurzelten Form von Rassismus. Sie kann sich in harmlosem Spott, aber auch in gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Mord äußern. Und sie trifft Menschen, die bei Bildung, Beruf und Einkommen ohnehin schon auf der niedrigsten sozialen Stufe stehen. Trotz aller Hoffnungen, die mit dem neuen Gesetz verknüpft sind, hat Tunesien noch einen langen Weg vor sich, um die Rassendiskriminierung endgültig zu beseitigen.
Das zeigt einmal mehr der brutale Mord an Coulibaly Falikou im Dezember 2018. Der Vorsitzende eines Interessenverbands der Ivorer in Tunesien (AIT) wurde laut Augenzeugenberichten von tunesischen Jugendlichen überfallen, die ihm Handy und Brieftasche entreißen wollten. Man war sich einig, dass diesem Mord rassistische Motive zugrunde lagen. Tausende gingen danach in Tunis auf die Straßen und forderten ein Ende des Rassismus.
alikous tragischer Tod ist nicht der einzige Fall: Etliche Schwarzafrikaner geben an, Opfer von Aggression, Raubüberfällen, Beleidigungen und Vergewaltigung geworden zu sein. Falikou selbst hatte bereits im August 2018 um Hilfe gebeten, als eine Gruppe von Ivorern in Soukra, einem Viertel am Rand von Tunis, mit Macheten angegriffen worden war.
Lynchmorde und Raubüberfälle scheinen sich gegen Menschen mit schwarzer Haut zu richten. Doch man darf das rassistische Denken, das in der Mentalität der Tunesier verankert ist, nicht auf äußere Merkmale beschränken. Es wäre falsch, es auf einen Weiß-Schwarz-Gegensatz zu verkürzen, als entspräche es der euro-amerikanischen Rassenideologie. Rassismus und Diskriminierung treten in verschiedenen, manchmal schwer greifbaren Formen auf.
In Tunesien hat „Rasse“ tiefe historische Wurzeln, die unlösbar verbunden sind mit der Geschichte der Sklaverei. Hinzu kommt, dass in den vergangenen Jahren viele schwarzafrikanische Flüchtlinge und Migranten nach Tunesien gekommen sind. Die schwarze Community ist sehr heterogen. Aktivisten schätzen ihren Anteil an der Bevölkerung auf 15 Prozent, genaue Zahlen liegen nicht vor.
Das Erbe der Unfreiheit
Zum einen lebt in Tunesien eine schwarze Minderheit, die dieselbe Sprache spricht und dieselbe Religion und Staatsangehörigkeit besitzt wie ihre hellhäutigen Landsleute. Ihre Vorfahren waren häufig Sklaven. Nach der Eroberung Nordafrikas im siebten Jahrhundert importierten die Araber schwarze Sklaven von der Biegung des Niger im heutigen Mali und setzten sie in Tunesien für Hausarbeit und Landwirtschaft ein. Die für Frauen verlangten Höchstpreise zeigen: Sklavinnen wurden insbesondere unter der Herrschaft der Ottomanen (1574–1881) vor allem als Konkubinen geschätzt, als Zierde von Harems in bürgerlichen und wohlhabenden Häusern.
Autorin
Marta Scaglioni
st Ethnologin und forscht zu Nordafrika und islamischen Gesellschaften. Sie promoviert zurzeit an der Universität Bayreuth.Der Sklavenhandel in diesem Gebiet unterschied sich erheblich von dem über den Atlantik. Während Schwarze in Amerika vor allem auf Plantagen schuften mussten, waren in Tunesien die meisten von ihnen Hausangestellte. Das strikte arabische Vaterschaftsrecht trug dazu bei, dass die oft dunkelhäutigen Nachkommen von Sklavinnen, deren Väter weiße und freie Herren waren, in deren Abstammungslinie aufgenommen und somit in die Gesellschaft integriert wurden. Die Folgen sind für jeden sichtbar, der durch die Straßen von Tunis geht: Eine Vielfalt an Nuancen zeugt von einer bunten Landschaft der Abstammungen. Die Menschen wurden historisch eher nach ihrer Familienabstammung als nach der Hautfarbe einer Rasse zugeteilt. Als Folge überlagern sich die Kriterien zur ethnischen Hierarchisierung schwarzer Tunesier: Sklavenvergangenheit, keine arabische Abstammung, dunklere Hautfarbe.
Schwarze Tunesier stammen nicht zwangsläufig von Sklaven ab
Dunkelhäutige Nachkommen von Sklaven entwickelten nach der Abschaffung der Sklaverei verschiedene Strategien, um sich zu emanzipieren. Dabei machten viele sich die untergeordnete gesellschaftliche Nische zunutze, die ihnen zugewiesen war: Viele schwarze Sklaven arbeiteten als Diener oder als Musiker bei Hochzeiten. Manche Nachfahren blieben bei der Musik und entwickelten spezielle Stile wie „tayfa“ und „stambeli“, mit denen sie zu Ansehen und Wohlstand gelangen konnten und auch heute noch können.
Schwarze Tunesier stammen nicht zwangsläufig von Sklaven ab. Sie können auch ethnisch verwandt sein mit dunkelhäutigen Volksgruppen, die schon lange die Region um die Sahara besiedeln. Unabhängig davon prangern Antirassismusaktivisten an, dass schwarze Tunesier einen niedrigeren sozioökonomischen und beruflichen Status haben und ständige rassistische Übergriffe ertragen müssen. Subtilere Formen der Diskriminierung richten sich jedoch direkt gegen Sklavenabkömmlinge, darunter das strenge Verbot von Mischehen mit Nachkommen von Freien oder mit Menschen weißer Abstammung. Viele weiße Familien sind nicht bereit, durch Heirat eine Verbindung mit schwarzen einzugehen: Durchzubrennen ist oft die einzige Lösung für Verliebte.
Zudem hat die tunesische Gesellschaft, die bereits von ethnischer Über- und Unterordnung geprägt war, in jüngster Zeit schwarzafrikanische Studenten und Arbeiter als Migranten aufgenommen. Sie dürfen nicht mit dunkelhäutigen Tunesiern gleichgesetzt werden, zumal sie sich auch untereinander stark unterscheiden – sei es durch ihre sozioökonomische Stellung oder die Art der Diskriminierung, die sie erfahren. So sind etwa die meisten Ivorer dank der bilateralen Vereinbarungen zwischen beiden Ländern an Universitäten in Tunis eingeschrieben und besitzen Studentenvisa. Ebenso wie malische, kongolesische und andere Französisch sprechende Studierende und Arbeiter führen sie ein relativ zurückgezogenes Leben mit geringen finanziellen Mitteln am Stadtrand von Tunis – und werden wie Coulibaly Falikou häufig zum Ziel von Angriffen.
Reiche und „unsichtbare“ schwarzafrikanische Banker
Seit der Öffnung der Wirtschaft unter Präsident Zine el-Abidine Ben Ali (1987–2011) in den späten 1980er Jahren haben zudem schwarzafrikanische Banken und Unternehmen Kapital in Tunesien investiert. Sie brachten Geschäftsleute mit Vermögen ins Land. Diese reiche und „unsichtbare“ Minderheit schwarzafrikanischer Banker passt nicht zu der in den Köpfen der Tunesier tief verwurzelten Verknüpfung von schwarzer Haut mit Armut. Sie sind nach eigener Aussage oft mit banaleren, unauffälligeren Formen von Rassismus konfrontiert, etwa wenn in den Straßen von Tunis für sie kein Taxi hält.
Schließlich kamen 2011 schwarzafrikanische Flüchtlinge nach Tunesien, die vor Krieg und ethnischer Säuberung in Libyen flohen. Während die meisten von ihnen schnell zurückgeschickt wurden oder sich auf den Weg über das Mittelmeer machten, blieb eine Gruppe von ihnen im Land. Diese Menschen aus Eritrea, dem Sudan, Nigeria, Liberia, Ghana, dem Tschad und Somalia bilden die wehrloseste Minderheit in der tunesischen Gesellschaft. Sie treffen mehrere Gründe der Diskriminierung zugleich: institutionell, ethnisch, religiös und ökonomisch. Ohne gültige Papiere, ohne Verwandte oder sonstige Beziehungen, häufig ohne arabische Sprachkenntnisse und keine Muslime, erleben sie Diskriminierung in ihren schlimmsten Ausprägungen – vor allem im Süden Tunesiens, wo sie als Arbeitskräfte in der Bau- und Landwirtschaft brutal ausgebeutet werden.
Die lebhafte Debatte über Menschenrechte, die von der Erfahrung mit Meinungsfreiheit nach dem Arabischen Frühling ausgelöst wurde, hat das vielschichtige Phänomen des Rassismus nur oberflächlich angegangen. Die hartnäckige Arbeit von Antirassismusverbänden hat zu einem Gesetz geführt, das in der arabischen Welt ohne Beispiel ist und deutlich macht, dass Tunesien bei den Menschen- und Bürgerrechten in der Region das Tempo vorgibt. Gleichwohl darf eine wirksame Strategie gegen den Rassismus nicht die große Vielfalt der ethnischen Landschaft außer Acht lassen.
Rassistisches Denken zieht sich auf verschlungenen Wegen durch die Geschichte Tunesiens. Es wäre kaum förderlich, Vorstellungen von Rasse und konkrete Formen der Rassismusbekämpfung aus dem Ausland zu importieren. Vielmehr sollte die Gesetzgebung darauf abzielen, zunächst die inneren Besonderheiten der schwarzen Gemeinschaft zu verstehen, um dann ihre Probleme anpacken zu können.
Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.
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