Hungerlöhne, 90-Stunden Woche, Zeitverträge - die Lage von Arbeiterinnen und Arbeitern in Textilfabriken in Lateinamerika und Südasien hat sich in den vergangenen Jahren kaum verbessert. Kampagnen, Dokumentationen und Gerichtsverfahren konnten daran nur in Einzelfällen etwas ändern. Immerhin: „Fast alle Modermarken und Bekleidungshäuser haben inzwischen ihre Verantwortung für die Arbeitsbedingungen in den Zulieferbetrieben anerkannt", sagt Maik Pflaum von der Christlichen Initiative Romero, einem Mitglied der deutschen Kampagne für Saubere Kleidung (Clean Clothes Campaign - CCC). Seit Mitte der 1990er Jahre hätten sie schrittweise Verhaltenskodizes zur Einhaltung von Mindeststandards und Mechanismen zu deren Überprüfung eingeführt. „Hier ist viel in Bewegung geraten." Im Arbeitsalltag der Textilfabriken im Süden zeige das aber noch wenig Wirkung: „Bei der Näherin in Bangladesch ist von diesen Verpflichtungen noch kaum etwas angekommen", sagt Pflaum.
Das belegt - zumindest für die Einzelhandelsriesen Aldi, Carrefour, Lidl, Tesco und Walmart - auch eine neue Studie der internationalen CCC. Hunderte Geschichten von Ausbeutung und Hilflosigkeit haben die Autoren bei ihren Recherchen in 31 Zulieferbetrieben in Sri Lanka, Bangladesch, Indien und Thailand im vergangenen Jahr gehört. „Ich gehe um sechs Uhr morgens aus dem Haus und komme um neun Uhr abends zurück", sagt etwa Amanthi, die in Sri Lanka Kleider für die Supermarktkette Tesco näht. „Meine Tochter schläft dann noch oder ist schon wieder im Bett. Sie sieht mich nur einmal in der Woche." Salma, die in einer Zulieferfabrik für Lidl, Carrefour und Walmart in Bangladesch arbeitet, erzählt: „Wenn ich nach Hause komme, bin ich so erschöpft, dass ich noch nicht einmal mehr etwas essen will."
Das Zeugnis, das die Kampagne den Unternehmen in ihrer im Februar erschienenen Studie ausstellt, ist verheerend. Die meisten Beschäftigten, in der Mehrzahl Frauen, erhielten nicht mehr als den gesetzlichen Mindestlohn, der in der Regel nicht ausreicht, um die Grundbedürfnisse ihrer Familien zu decken. So liegt er laut Maik Pflaum etwa in Bangladesch bei 17 Euro, eine Familie mit vier Kindern bräuchte jedoch 50 Euro im Monat, um über die Runden zu kommen. Auch die Arbeitszeit ist weit höher als die 48 Wochenstunden, die unter anderen die CCC als angemessen ansieht. In allen besuchten Fabriken wurden die Arbeiterinnen und Arbeiter gezwungen, Überstunden zu machen. 60 Stunden pro Woche sind die Regel, in manchen Betrieben schuften die Beschäftigten 80 Stunden wöchentlich. Aufgrund ihrer niedrigen Löhne ergreifen sie oft die Gelegenheit, zusätzlich Geld zu verdienen. Oft wagen sie nicht, Überstunden abzulehnen, weil sie fürchten, dann ihren Job zu verlieren. Verschärfend kommt laut Studie hinzu, dass die Überstunden häufig noch nicht einmal extra bezahlt werden.
Gewerkschaften, die den Beschäftigten mehr Gewicht bei der Durchsetzung ihrer Rechte und der Verhandlung über Löhne verleihen würden, sind in den meisten der untersuchten Betriebe nicht erwünscht. Gründe dafür sind zum einen, dass Arbeiterinnen und Arbeiter ihr Recht nicht kennen, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Schwerer wiegt aber wohl die Angst, als Gewerkschaftsmitglied auf die Straße gesetzt zu werden. Lediglich ein einziger besuchter Betrieb in Indien verfügte über eine Gewerkschaftsvertretung - dort waren die Arbeitsbedingungen mit Abstand die besten.
Fabrikbesitzer haben es leicht, Löhne zu drücken oder nur Zeitverträge zu vergeben
Dabei haben auch die Unternehmen, deren Zulieferkette in dieser Studie unter die Lupe genommen wird, einen Verhaltenskodex, mit dem sie sich verpflichten, soziale Mindeststandards im Blick auf Arbeitszeit, Lohn und das Mitspracherecht der Beschäftigten einzuhalten. Doch ihr Geschäftsmodell, niedrige Preise und schnelle Lieferzeiten, erzeugt so hohen Druck auf die Zulieferer, dass die es sich nicht leisten können, den Verhaltenskodex zu berücksichtigen. Sie stehen in scharfer Konkurrenz um die begehrten Aufträge aus dem Norden. Das führt laut der Studie dazu, dass sie Zeitpläne und Lohnabrechnungen fälschen und ihre Beschäftigten dazu anhalten, Kontrolleure anzulügen.
Bei Markenunternehmen sehe es etwas besser aus, erklärt Maik Pflaum. Sie hätten ihren guten Ruf zu verlieren und könnten es sich nicht leisten, dass Verletzungen von Arbeitsrechten öffentlich bekannt werden. Zudem verfügten sie in der Regel über eine feste Zulieferkette, die sie besser kontrollieren könnten. Große Sportbekleidungshersteller wie Puma, Adidas und Nike haben sich - mit bislang 27 weiteren Unternehmen - der Fair Labor Association angeschlossen, die sich für bessere Arbeitsbedingungen in der Textilbranche weltweit einsetzt. „Aber nur weil eine Hose teuer ist, muss sie noch lange nicht unter günstigen Arbeitsbedingungen genäht worden sein", schränkt Maik Pflaum ein. Dennoch hat sich laut Pflaum einiges getan, seit die internationale Kampagne für Saubere Kleidung 1990 gegründet wurde: Kinderarbeit sei in den Textilfabriken nahezu ausgerottet. Auch eklatante Verstöße wie körperliche Gewalt gegen Arbeiterinnen und Arbeiter kämen kaum noch vor. Zu groß wäre der Imageverlust für ein Unternehmen, wenn das in der Öffentlichkeit bekannt würde. Vor allem die Angst vor einem sinkenden Aktienwert bringe die Konzerne dazu, auf die Einhaltung ihres Verhaltenskodex zu achten. „Mit Menschenfreundlichkeit hat das wenig zu tun."
Als Folge der globalen Wirtschaftskrise befürchten Fachleute, dass sich die Arbeitsbedingungen in Textilfabriken verschlechtern. Die Nachfrage nach Textilien ist laut dem kanadischen Maquila Solidarity Network in den USA und Europa Ende vergangenen Jahres stark zurückgegangen. Kaufhäuser und Modegeschäfte bringen Kleider oft zu Schleuderpreisen auf den Markt. Darunter leidet der Export in den Produktionsländern. Zahlreiche Fabriken werden geschlossen und Beschäftigte entlassen. In Kambodscha etwa haben laut Ingeborg Wick vom Südwind-Institut im vergangenen Jahr bereits 30 Textil- und Bekleidungsfabriken zugemacht und 62.000 Beschäftigte ihren Job verloren. In Indonesien wird in den kommenden Monaten mit 120.000 Entlassungen und einem Rückgang der Produktion um 30 Prozent gerechnet. In dieser Situation haben Fabrikbesitzer leichtes Spiel, Löhne zu drücken oder nur noch temporäre Verträge zu vergeben - Arbeiterinnen und Arbeitern bleiben keine Alternativen, wenn die Schließung des Betriebes droht.
Wie steht es in dieser Situation mit der sozialen Verantwortung von Unternehmen? Man könnte annehmen, dass sie als bloßes schmückendes Beiwerk betrachtet und an den Rand gedrängt wird. Aber auch das Gegenteil ist denkbar: in einem schärferen Wettbewerb könnten Modemarken und Bekleidungshäuser noch genauer darauf achten, dass sie nicht wegen Verletzungen von Arbeitsrechten in die Schlagzeilen kommen und damit weitere Absatzeinbußen hinnehmen müssen. Maik Pflaum sieht das verhalten optimistisch und verweist auf die wachsende Zahl von Bekleidungsfirmen, die sich an der „Fair Wear Foundation" beteiligen. In der Stiftung mit Sitz in Brüssel kooperieren 62 Unternehmen sowie Gewerkschaften und nichtstaatliche Organisationen, um die Arbeitsbedingungen in den Fabriken in den Ländern des Südens zu verbessern. Unternehmen verpflichten sich auf einen Verhaltenskodex, der von lokalen, unabhängigen Experten vor Ort überprüft wird. Ende 2008 konnten mit den Sportbekleidungs- und Outdoor-Marken Mammut und Odlo zwei schwergewichtige neue Mitglieder gewonnen werden. Pflaum ist zuversichtlich, dass sich die Zahl der Beteiligten in den kommenden Monaten erhöht - der Wirtschaftskrise zum Trotz.