Am Abend des 16. Dezember 2012 stiegen eine junge Frau und ihr Freund in Neu-Delhi nach einem Kinobesuch in einen Privatbus. Als sich die Türen hinter ihnen schlossen, erwartete die 23-jährige Medizinstudentin wohl nichts anderes als eine ruhige Heimfahrt. Stattdessen wurde sie in dem fahrenden Bus eine Stunde lang von sechs jungen Männern gefoltert und vergewaltigt und dann zusammen mit ihrem Freund auf der Straße liegen gelassen. Während die Stadt vor Wut kochte, kämpfte die junge Frau zwei Wochen lang um ihr Leben. Es gelang ihr, der Polizei noch so viele Informationen zu geben, dass diese ihre Angreifer ausfindig machen konnte. Dann starb sie.
Auch wenn ihr Name – Jyoti Singh – heute bekannt ist, verschwieg man ihn damals, um ihre Identität zu schützen. In den Wochen und Monaten danach nannte man sie nur „Nirbhaya“, die Furchtlose. Diese Bezeichnung entwickelte sich bald zu einem Schlachtruf, als Tausende von Frauen und Männern in ganz Indien auf die Straße gingen und Gerechtigkeit forderten. Obwohl sexuelle Gewalt in Indien nur allzu üblich ist, erleben Überlebende häufig, dass sie ignoriert werden und ihr Protest erstickt wird. Das gilt insbesondere für Dalits, Musliminnen und andere schutzlose Frauen, die häufig die Opfer sind. Vielleicht lag es an Nirbhayas vielversprechenden beruflichen Aussichten oder daran, dass sie in einer Weltstadt zu Hause war oder an ihrer Kaste – ihre Vergewaltigung löste in ganz Indien Trauer und Wut aus.
Die ersten öffentlichen Reaktionen der Regierung galten weithin als ungeschickt und unangemessen. Unter anderem machte man von Notstandsgesetzen Gebrauch, U-Bahn-Linien wurden stillgelegt und die Polizei ging mit Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken gegen die Demonstranten vor. Dann aber, vermutlich weil sie das volle Ausmaß des öffentlichen Zorns erkannten, erließen die Politiker eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen, um Frauen besser zu schützen und Täter strenger zu bestrafen. Sie richteten mehr als 500 Schnellgerichte ein, um Sexualdelikte rascher zu ahnden, sowie Krisenzentren zur Versorgung von Vergewaltigungsopfern. Die Definition von Vergewaltigung wurde erweitert und das Strafmaß für verurteilte Vergewaltiger erhöht. Polizisten, die Vergewaltigungen nicht anzeigen, müssen mit schweren Strafen rechnen, und medizinische Fachleute erhielten verbesserte Leitlinien für den Umgang mit Opfern von Sexualverbrechen.
Die Bilanz dieser Reformen ist jedoch gemischt. Die neuen Gesetze, festgelegt im 2013 verabschiedeten Criminal Law Amendment Act, werden bislang nur unzureichend durchgesetzt – sei es in der Justiz, im Gesundheitswesen oder bei der Strafverfolgung. Viele Frauen sind den gleichen Bedrohungen und der gleichen Gewalt ausgesetzt wie vor der Strafrechtsreform. Häufig ist es reine Glückssache, ob ihr Arzt, ihr Anwalt oder der Polizeibeamte ihren Bericht ernst nimmt.
Seit 2013 hat die Zahl der Frauen stark zugenommen, die ihre Vergewaltigung anzeigen. Laut offiziellen Angaben stieg sie seit dem Inkrafttreten der Gesetzesänderungen bis Ende 2015 um fast 40 Prozent. Frauen hätten nun das Gefühl, sie könnten ihren Mund aufmachen, vor allem am Arbeitsplatz, sagt Rebecca Mammen John, Anwältin am Obersten Gericht in Neu-Delhi. „Meiner Ansicht nach ist das eine positive Entwicklung“, sagt sie. „Denn heute wird offen über das gesprochen, was früher unter den Teppich gekehrt wurde.“ Eine Wirkung zeigt auch die Androhung einer Haftstrafe für Polizisten, die Anzeigen wegen Vergewaltigung nicht aufnehmen. Denn es melden sich nicht nur mehr Opfer, sondern die Strafverfolgungsbehörden erfassen auch mehr.
Nach einer Vergewaltigung haben Ärzte und andere medizinische Fachkräfte häufig die Rolle der Ersthelfer. Sie entnehmen Überlebenden forensische Proben, untersuchen sie auf eine Schwangerschaft und Geschlechtskrankheiten und bieten Traumaberatung an. Nach dem Tod Nirbhayas setzte das indische Ministerium für Gesundheit und Familienwohlfahrt einen Ausschuss ein, der festlegen sollte, wie Ärzte am besten vorgehen. Außerdem wurden 2014 neue rechtliche Richtlinien für Mediziner erlassen. Sie legen fest, was ein Arzt bei einer rechtsmedizinischen Untersuchung zu tun hat und wann eine therapeutische Betreuung notwendig ist. Zu den wichtigsten Grundsätzen gehört, dass Überlebende mit Würde behandelt, ihre Privatsphäre respektiert und sie nicht diskriminiert werden sollten.
Demütigender "Zwei-Finger-Test"
Ausgeschlossen wird etwa der berüchtigte „Zwei-Finger-Test“, mit dem bei einer vaginalen Untersuchung bestimmt wird, ob eine Frau „an Sex gewöhnt“ und daher nicht zwangsläufig als ein Vergewaltigungsopfer anzusehen ist. Laut einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben jedoch nur 9 der insgesamt 29 indischen Bundesstaaten diese Richtlinien angenommen. Die Autorin Jayshree Bajoria berichtet zudem, dass der Zwei-Finger-Test immer noch sehr häufig angewendet werde, unabhängig davon, „ob die Überlebende 8 oder 80 ist“. „Es ist eine grausame, demütigende und unmenschliche Prozedur, die ein weiteres Trauma bedeuten kann“, fügt sie hinzu.
In Metropolen wie Neu-Delhi oder Mumbai besteht die Chance, dass Ärzte und Anwälte für die Arbeit mit Überlebenden von Vergewaltigungen und tätlichen Übergriffen geschult sind. Doch in den von Bajoria besuchten Gebieten, etwa den Städten Chittorgarh im Bundesstaat Rajasthan oder Jhansi in Uttar Pradesh, werden Frauen sehr unterschiedlich behandelt. Wenn eine Frau aufgrund ihrer Kaste, ihres sozioökonomischen Status oder ihrer Religion am Rande der Gesellschaft steht, ist die Hürde für die Anzeige einer Vergewaltigung sehr hoch. Und sie wird nahezu unüberwindlich, wenn der Beschuldigte wohlhabend ist oder eine hohe gesellschaftliche Stellung bekleidet.
Erschwerend kommt hinzu, dass Ressourcen, die man Überlebenden in ganz Indien versprochen hatte, nicht oder nur unzureichend zur Verfügung gestellt wurden. Landesweit wurden mehr als 150 Krisenzentren für Vergewaltigungsopfer eingerichtet, doch viele von ihnen sind personell unterbesetzt und werden zu wenig in Anspruch genommen. Von 2013 bis 2016 wurde der größte Teil der Mittel, die für diese Zentren reserviert waren, nicht ausgegeben. Das staatliche Entschädigungsprogramm, das in Folge der Nirbhaya-Bewegung aufgelegt wurde, wird ebenfalls selten genutzt. Die Öffentlichkeit weiß zu wenig darüber, das Antragsverfahren ist undurchsichtig und die Kriterien, die festlegen, wann eine Frau Anspruch auf Geld hat, sind unnötig restriktiv. Es fehlt weitgehend die staatliche Aufsicht, die sicherstellen soll, dass die Opfer ordnungsgemäß entschädigt werden.
Aktivisten und Fachleute fordern bereits seit längerem ein starkes Opfer- und Zeugenschutzprogramm. Das gibt es bislang nur in Neu-Delhi. Zu den hinterhältigsten Mitteln, mit denen Vergewaltigungsopfer zum Schweigen gebracht werden, gehören Vergeltungsdrohungen von Mitgliedern ihrer örtlichen Gemeinschaft. Ganze Familien fürchten um ihre Sicherheit, wenn eine Frau oder ein Mädchen eine Vergewaltigung anzeigen möchte, und halten sie daher davon ab. Das System in Indiens Hauptstadt ist zwar nicht perfekt und es mangelt an Geld, aber es könnte als Modell für solche Programme in ganz Indien dienen.
Ein Wendepunkt für die Frauenbewegung
Zunächst wird beurteilt, in welchem Ausmaß das Opfer oder der Zeuge bedroht ist, und anschließend werden Schutzmaßnahmen ergriffen. Dazu zählen eine mögliche Umsiedlung, eine Live-Videoübertragung im Gerichtssaal, damit ein Zeuge aussagen kann, ohne persönlich zu erscheinen, eine neue Identität und bewaffneter Polizeischutz. In Einzelfällen sind Streifengänge um das Haus des Zeugen, die Installation von Sicherheitskameras sowie die Überwachung eingehender Anrufe und E-Mails möglich.
In den mehr als fünf Jahren seit dem Tod Nirbhayas wurden einige Fortschritte erzielt, aber nur wenige würden sagen, dass sie genügen. Laut einer Umfrage der Thomson Reuters Foundation von 2017 gilt Neu-Delhi noch immer als die Großstadt, in der es weltweit am meisten sexuelle Gewalt gegen Frauen gibt – trotz aller seit 2012 eingerichteten Gremien und Ausschüsse und aller Berichte. Für einen Hoffnungsschimmer sorgen jedoch der Stimmungsumschwung und der Wille zur Selbstbestimmung, den zahlreiche Frauen seit den brutalen Übergriffen von 2012 zeigen. Nach Einschätzung von Alka Kurian, Dozentin an der Universität von Washington und Mitherausgeberin des Buches „New Feminisms in South Asian Social Media, Film, and Literature“, markierte die Nirbhaya-Bewegung einen wichtigen Wendepunkt für die Frauenbewegung in Indien.
Autorin
In diesem neuen Zeitalter feministischer Politik in Indien – laut Kurian ist es Indiens vierte Welle des Feminismus – geht es den Frauen nicht länger darum, nur ihren eigenen Schutz zu gewährleisten, sondern die Rechte aller Frauen zu begründen. Sie nutzen die Reichweite und Geschwindigkeit des Internets, um Kampagnen wie „Why loiter?“ (Warum sich herumdrücken?) zu starten: Frauen werden dazu aufgerufen, sich gemeinsam in von Männern dominierte Stadtgebiete zu wagen, um zu demonstrieren, dass sie denselben Anspruch auf öffentliche Orte haben. Die Kampagne „Pinjra Tod“ (Sprengt den Käfig) kämpft gegen Ausgangssperren für Frauen in Studentenwohnheimen und betont, dass Frauen in gleicher Weise die Möglichkeit haben müssen, spätabends auszugehen und sich dabei wohlzufühlen – statt zum Schutz ihrer Sicherheit eingeschränkt zu werden. Gemeinsam geht es solchen Bewegungen darum, dass Frauen ihren Anspruch auf öffentliche Räume fordern und ihre Bewegungsfreiheit bewahren. Ein wichtiger Aspekt ist, dass sie dabei eine Freiheitsterminologie verwenden, die auch im Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen, Dalits, Muslimen und der Bevölkerung von Kaschmir und Manipur eingesetzt wird.
Unabhängig von Änderungen der Gesetze und der medizinischen Verfahren sind es die Frauen selbst, die den Wandel verkörpern. Wenn bisher Fortschritte gemacht wurden, liege es daran, dass die Frauen selbst für Veränderungen kämpfen, sagt die Anwältin Rebecca Mammen John. „Das hat nichts mit der Regierung zu tun. Das hat einzig und allein mit der Widerstandskraft der indischen Frauen zu tun.“
Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner.
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