Grenzenlos feiern in Juba

Südsudan
Dem Bürgerkrieg zum Trotz: Junge Südsudanesen gehen genauso gerne tanzen wie ihre Altersgenossen überall auf der Welt. Nur eben tagsüber.

Nach der Kirche geht der 21-jährige Wokil Makuei sonntags meistens in den Club. Seine Freunde und er trinken Limonade und tanzen eng mit Mädchen, mit denen sie in der Öffentlichkeit nicht einmal Händchen halten würden – aus Angst, deren Eltern oder Brüder zu verärgern. Noch vor 19 Uhr ist er daheim. „Man feiert ein paar Stunden, kommt angeregt raus und geht dann nach Hause“, erzählt Makuei in einem Café hinter dem Club Signature, einem beliebten Tanzlokal in Juba. Für die nächsten zwei Monate ist es mit den Wochenend-Tag-Partys ausgebucht.

Der Südsudan ist der jüngste Staat der Welt, gegründet 2011 nach einem jahrzehntelangen Kampf um Unabhängigkeit vom Norden. Mehr als zwei Drittel seiner zwölf Millionen Einwohner sind unter 30 Jahre alt. Und über die Hälfte der Zeit seit Bestehen ihres Landes haben sie im Bürgerkrieg verbracht. Sie mussten erleben, wie ihre Heimat zu einem der weltweit gefährlichsten Orte für junge Menschen wurde.

Die Hauptstadt Juba ist zwar relativ ruhig, aber nachts nach Hause zu gehen, ist auch hier riskant. Makuei muss an Kontrollpunkten vorbei. Dort stehen Regierungssoldaten, von denen bekannt ist, dass sie Anwohner einschüchtern und manchmal Frauen vergewaltigen. Bewaffnete Raubüberfälle sind auf Jubas spärlich beleuchteten Straßen an der Tagesordnung. Makueis Eltern ist es lieber, wenn ihr Sohn nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr ausgeht.

Deshalb feiern die jungen Leute in Juba vor allem in „Tag-Clubs“, wie Makuei und seine Freunde sie nennen. Die Partys begannen in den späten 2000er Jahren als geselliges Beisammensein für Teenager und junge Menschen Anfang 20, die noch keine Nachtclubs besuchen dürfen. Inzwischen ziehen sie nahezu die gesamte Jugend von Juba an, eine Gruppe, zu der sich je nach wirtschaftlicher Situation und Familienstand alle zwischen 15 und 35 Jahren zählen können.

Jeden Sonntag findet in Juba in einem der über zehn Clubs in der Innenstadt, in vornehmen Hotels oder in den Bars am Ufer des Nils, der durch die Hauptstadt fließt, eine Tag-Party statt. Stroboskoplicht durchzuckt die schummrigen Räume, DJs bedienen die Musikanlagen. Man kleidet sich modisch schick, gespielt wird hauptsächlich Afrobeat und Hip-Hop. Makueis derzeitiger Lieblingstitel ist „Physically Fit“ von Konshens, einem jamaikanischen Dancehall-Künstler. „Jamaika hat ein paar dreckige Songs“, sagt er anerkennend.

Valentinsparty im ersten Bürgerkriegsjahr

In gewisser Hinsicht zeugen die Clubs von einer Art Trotzhaltung. William Joseph, 22, und seine Freunde, die sich die Dope Boys nennen, hatten für Mitte Dezember 2013 eine Party geplant. Am Abend des Vortags brachen Kämpfe zwischen den Truppen von Präsident Salva Kiir und den Soldaten seines Stellvertreters Riek Machar aus. Joseph und seine Freunde waren noch optimistisch und baten den Clubmanager, ihre Mietvorauszahlung zu behalten. „Und zwar für die Zeit, wenn der Krieg zu Ende ist“, sagt der 21-jährige Emmanuel Ladu, ein weiteres Mitglied der Dope Boys, der an der Universität von Juba Naturwissenschaften studiert.

Doch die Kämpfe hörten nicht auf, sondern entwickelten sich zu einem blutigen Bürgerkrieg, der sich durch regionale und ethnische Rivalitäten verschärfte. Laut Schätzungen starben bislang Zehntausende Südsudanesen; eine offizielle Zahl der Todesopfer gibt es nicht. Ein gutes Drittel der Bevölkerung wurde vertrieben. Es ist die drittgrößte Flüchtlingskrise nach Syrien und Afghanistan, und die größte in Afrika seit dem Völkermord in Ruanda im Jahr 1994.

Und dennoch laden die Dope Boys zu Tag-Club-Partys ein. Im ersten Bürgerkriegsjahr feierten sie eine im Februar zum Valentinstag und eine weitere am 9. Juli, dem Unabhängigkeitstag des Südsudan. Als im vergangenen Juli die Gefechte in Juba wieder aufflammten und das fragile Abkommen zwischen den verfeindeten Seiten zur Beendigung des Bürgerkriegs und zur Bildung einer Einheitsregierung scheiterte, machten die Dope Boys zwei Monate Pause. „Seit Ausbruch der Kämpfe sind die Menschen verstreut, und für junge Leute ist es schwer, sich zu treffen“, sagt Joseph, der in Juba eine Ausbildung zum Krankenpfleger macht.

Die Ethnie spielt keine Rolle

The Dope Boys soll eine Anspielung auf das Wort „dove“ (Taube) sein. „Wir haben uns den Namen ausgedacht, um die Jugend zu einen“, sagt Ladu. Und tatsächlich inspirieren die Tag-Clubs zu einer Art Einheit, ein Beispiel dafür, wie sich junge Leute im Südsudan über ihre jeweilige Stammes­identität hinaus eine neue Identität aufbauen können. In einem Land mit mehr als 60 Ethnien, in dem die meisten Auseinandersetzungen entlang ethnischer Grenzen stattfinden, ist Volkszugehörigkeit ein Blitzableiter.

Eine Gruppe von Freunden sammelt rund 20.000 südsudanesische Pfund (ca. 130 Euro) für die Club-Miete, in der ein DJ, der Sicherheitsdienst sowie die Kosten für den Betrieb eines Generators zur Stromversorgung des Clubs für einen Nachmittag enthalten sind. Freunde laden andere Freunde ein. Es spielt keine Rolle, aus welcher Ethnie oder welchem Viertel jemand kommt. Solange man einen Beitrag zahlt, kann man dabei sein.

Die Organisatoren der Tag-Club-Partys sind oft Stadtteilgangs, die sich an ihren US-amerikanischen Pendants orientieren. Sie nennen sich „Bad boys“ ‚„G-Unit“ oder die „Lost Boys“, eine Anspielung auf den Namen, den Tausende Jungen erhielten, die etwa im Unabhängigkeitskampf des südlichen Sudan gegen den Norden zu Waisen wurden. Diese Gangs bildeten sich Mitte der 2000er, als zahlreiche Südsudanesen aus der Diaspora in vielen Teilen der Welt nach Hause zurückkehrten. Die Behörden vor Ort waren über diese Entwicklung besorgt. Die Bezirksregierung von Juba stellte 2008 das Tragen von tiefhängenden Jeans und das Annehmen von Namen wie Tupac, nach dem gleichnamigen Rapper, als „nigga behaviour“ unter Strafe.

Viele der Stadtteilgangs ähneln jedoch eher Jugendgruppen als jugendlichen Milizen. Die im Viertel Gudeli ansässigen Dope Boys sammeln Geld für Nachbarn, die krank geworden sind. Wenn sie von einem aufkeimenden Konflikt hören, versuchen sie, zu vermitteln. Auf einer Liste der Tag-Partys, die in den nächsten paar Wochen im Club Signature geplant sind, stehen Gruppen wie „Friendship Boys“ oder „Friendship Life“.

„Es ist vor allem ein Versuch, wieder eine Art von gesellschaftlicher Struktur aufzubauen“, sagt Marisa Ensor vom Institute for the Study of International Migration in Washington. Sie hat die südsudanesische Jugendkultur sowohl im Land als auch in Diaspora-Gemeinschaften in Afrika und den USA untersucht. Für viele junge Leute ist ihre ethnische Zugehörigkeit inzwischen beinahe nebensächlich; während sie in Anwesenheit von Familie oder Älteren eine Rolle spielt, verliert sie an Bedeutung, wenn sie im Club mit anderen jungen Leuten zusammen sind. „Ihre Identität ist wesentlich fließender“, sagt Ensor.

„Ich hab‘s satt"

In den Tag-Clubs können sich die jungen Leute erholen – nicht nur von den Kämpfen, sondern auch von der frustrierenden Erfahrung, in Juba jung zu sein. Viele gehen zur Schule, haben aber wenig Aussicht auf einen Job nach dem Abschluss. Laut Schätzungen sind 40 Prozent der jungen Frauen und Männer arbeitslos. Der jüngste Bürgerkrieg und der jahrelange Sezessionskrieg von 1983 bis 2005 haben das Leben junger Südsudanesen auf den Kopf gestellt. Viele wuchsen in Flüchtlingslagern außerhalb des Landes oder als Asylsuchende in westlichen Ländern auf, bevor sie nach Hause zurückkehrten.

Die Jugendlichen, gebliebene wie heimgekehrte, fühlen sich oft falsch dargestellt und missverstanden. Die Regierung will Beschäftigungsmöglichkeiten in der Landwirtschaft schaffen. Doch viele junge Südsudanesen, die in städtischer Umgebung aufgewachsen sind, möchten lieber mit Computern arbeiten oder in die Unterhaltungsbranche gehen – Makuei etwa will Schauspieler werden –, jedenfalls nicht „buddeln“, wie sie die Arbeit in der Landwirtschaft nennen.

„Ana Taban“, ein Kollektiv junger Kreativer, dessen arabischer Name „Ich hab‘s satt“ bedeutet, drängt zusammen mit dem South Sudan Young Leaders Forum darauf, dass ein Vertreter der jungen Generation bei den Diskussionen über eine Wiederaufnahme der Friedensgespräche mitreden darf und die Belange der Jugend stärker ins Blickfeld rücken. „Wir möchten die jungen Menschen dazu ermutigen, sich ihren Raum zurückzuholen und den Mund aufzumachen. Unsere Stimme zählt. Wir sind die Mehrheit im Land“, sagt Mannasseh Mathiang, Gospelmusiker und Mitglied von Ana Taban. „Ziemlich lange sind wir nun schon beiseitegeschoben worden, aber ich glaube, dass wir mächtig sind.“

Autorin

Lily Kuo

ist Journalistin in Nairobi, Kenia, und Reporterin des Online-Portals "Quartz Africa", auf dem ihr Beitrag im Original erschienen ist. Sie berichtet vor allem über Ostafrika und Chinas Engagement auf dem Kontinent.
Tag-Club-Partys zu organisieren ist nur eine der Möglichkeiten für junge Südsudanesen in der Hauptstadt, angesichts von Krieg und wirtschaftlichem Stillstand für ein wenig Normalität zu sorgen. Sie bilden Basketballteams, spielen Fußball, gehen ins Kino oder Eis essen, lassen sich fotografieren oder hängen im Nyakuron Cultural Center herum, wo fast immer etwas stattfindet. Gruppen wie Ana Taban veranstalten Comedy-Shows, Poetry Slams und Konzerte. Andere organisieren Filmfestivals.

Doch je länger der Bürgerkrieg dauert, desto stärker wirkt er sich auf die Moral aus. Immer mehr Südsudanesen verlassen das Land, und immer weniger junge Leute organisieren oder besuchen die Tag-Partys. Joseph und Ladu sitzen auf einem Mauervorsprung vor dem Club Signature, in dem ihre nächste Party steigen wird, und gehen ihre Titelliste durch, von der sie hoffen, dass sie den Dope-Boys-Partys wieder mehr Zulauf verschafft.

Am Anfang spielen sie etwas Romantisches, in der Regel Céline Dion. Eine zuvor bestimmte Gruppe von Jungs sucht sich Mädchen aus der Menge aus, um sie auf die Tanzfläche zu holen. Das nächste Stück ist auch noch eine Ballade, bei der weitere Mädchen auf die Tanzfläche gelockt werden. Beim dritten Song erhöhen sie das Tempo. Spätestens jetzt sollten alle schnell und eng tanzen. „Am Ende sind alle auf den Beinen. Und jetzt geht‘s richtig zur Sache“, sagt Joseph.

Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2018: Kunst und Politik: Vom Atelier auf die Straße
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