Bei uns ist die jüngste Tochter die Haupterbin der Familie“, sagt Darilyn Syiem. „Sie führt die Familientradition fort. Eine Familie ohne Töchter ist nicht komplett, ihr Name wird erlöschen.“ Die zierliche Frau in den Fünfzigern ist stolz auf ihre Tradition: Das kleine Volk der Khasi hält als eine der letzten Gemeinschaften der Welt an der weiblichen Erbfolge fest. In einer von Männern dominierten Welt bringt das manche Konflikte. Doch Khasi-Frauen zeichneten sich durch Unternehmergeist und Durchsetzungsvermögen aus, meint die Frauenrechtlerin: „Bei uns zu Hause ist die Mutter die unumstrittene Autorität. Sie sorgt sich um alle anderen Familienmitglieder und schlichtet Streitigkeiten.“
Die Khasi zählen nur knapp zwei Millionen Menschen. Ihre Heimat ist ein Hochplateau, das die Tiefebene von Bengalen vom Tal des Brahmaputra-Flusses in Assam trennt und den größten Teil des kleinen indischen Staates Meghalaya ausmacht. Der Name bedeutet „Wohnsitz der Wolken“, es ist eines der regenreichsten Gebiete der Erde. Ursprünglich verehrten die Khasi Naturgottheiten in Bergen, auffälligen Steinen und alten Bäumen. Nachdem britische Kolonialtruppen im 19. Jahrhundert die damals 25 Khasi-Königreiche niedergerungen hatten, kamen protestantische Missionare ins Land. Heute bekennen sich 85 Prozent der Khasi zum christlichen Glauben. Wie Darilyn Syiem wurden viele von ihnen in Missionsschulen erzogen und sprechen fließend Englisch. Dadurch finden sie leicht Anschluss an die moderne, urbane indische Mittelschicht.
Syiem hat 1995 das Frauennetzwerk North East Network mitgegründet. Es bündelt die Tätigkeiten von Frauengruppen in den sieben Staaten des indischen Nordostens. Die Schwerpunkte haben sich von Gesundheitsberatung in Richtung Lobby- und Anwaltschaftsarbeit verlagert. „Wir haben in Indien eine ganze Reihe progressiver Gesetze, die die Rechte von Frauen schützen“, sagt Syiem. „Aber leider werden sie nicht immer umgesetzt. Da helfen wir schon mal nach.“
Ihr Zuhause liegt auf einem kleinen Hügel mitten in der Altstadt von Shillong, der Hauptstadt von Meghalaya. Holzhäuser und gepflegte Vorgärten verbreiten britisches Flair. Hier lebt die alteingesessene Elite der Khasi – Lehrer, hohe Beamte, Politiker; Darilyn ist Teil davon. „Als Studentin wollte ich Journalistin werden“, erzählt sie, „aber meine Eltern bestanden auf einem soliden Studium an einer angesehenen Universität. Also ging ich nach Neu-Delhi und studierte englische Literatur.“
Männer fordern eine andere Gleichberechtigung
Heißer Tee und ein Feuer im offenen Kamin schaffen Behaglichkeit. Darilyn zupft die Wolljacke zurecht und wählt sorgsam ihre Worte. Als traditionsbewusste Khasi schwärmt sie von der privilegierten Stellung der Frauen in ihrer Gemeinschaft, als Frauenrechtlerin kann sie aber auch nicht verhehlen, dass es selbst hier zu Gewalt gegen Frauen kommt. Vor einigen Jahren erregte sie Aufsehen, als sie das Thema häusliche Gewalt zur Sprache brachte. Eine Umfrage in drei Khasi-Dörfern hatte zahlreiche Vorfälle zutage gebracht. „Drei von fünf befragten Frauen gaben an, Gewalt durch ihren Ehegatten erfahren zu haben. Persönliche Scham und die Familienehre hindern viele Khasi-Frauen daran, solche Verbrechen anzuzeigen“, sagt sie.
Khasi-Frauen könnten in der Stadt Beruf und Arbeitgeber frei wählen, meint Darilyn Syiem – im Gegensatz zu den meisten Frauen im restlichen Indien, die sich nach den Wünschen ihrer Familie und ihrer Männer richten müssen. Arrangierte Hochzeiten gebe es nicht. Natürlich müssten in der Regel die Eltern einer Ehe zustimmen. Falls sie das nicht tun, liefen die Verliebten einfach davon. „Das ist ziemlich normal und wird meistens akzeptiert.“ Auch könnten Paare ohne Trauschein zusammenleben. „In anderen Regionen Indiens wäre das ein Skandal.“
Allerdings, muss Syiem einräumen, beschränke sich die Gleichberechtigung der Frauen weitgehend auf die Familie. „Außerhalb des Hauses spielen Frauen praktisch keine Rolle. Bei Entscheidungen haben Frauen wenig zu sagen, wir dürfen noch nicht einmal an Sitzungen des Dorfrates teilnehmen. Darüber werden zurzeit hitzige Debatten geführt.“ Khasi-Frauen fordern inzwischen mehr Rechte in ihrer Gesellschaft ein. Paradoxerweise, sagt Darilyn Syiem lächelnd, würden sie von Männern inspiriert, die schon lange mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern fordern, damit aber die Abschaffung der weiblichen Erbfolge meinen.
Je mehr die Khasi Bildungschancen wahrnehmen und Kontakte mit der Außenwelt pflegen, umso schwieriger wird es, das matriarchalische System als zeitgemäß zu betrachten. Auch Darilyn Syiem glaubt, dass sich eine Reform in Zukunft nicht vermeiden lässt. „Es schält sich allmählich ein Kompromiss heraus. Die meisten meinen, das Erbe solle gleichmäßig auf Söhne und Töchter verteilt werden. Eine komplette Abkehr vom matrilinearen System würde zu große Verwirrung und Unruhe stiften.“
Neuen Kommentar hinzufügen