Die Mädchenrevolution

Zum Thema
Zwangsheirat
In Malawi werden viele Jugendliche zwangsverheiratet. Doch der Widerstand wächst und findet eigene Wege, dagegen vorzugehen – mit Musik, Tanz und ein paar Tränen.

Moreen liegt kauernd und zitternd am Boden und fleht um Gnade. Ihre Schwiegermutter beschimpft sie, weil sie noch nicht mit der Hausarbeit fertig ist. Moreen hat schon den ganzen Tag die Böden gewischt, die Töpfe geschrubbt und auf dem Feld gearbeitet. Aber das alles ändert nichts an der aggressiven Haltung der älteren Frau und daran, dass ihr Ehemann wieder betrunken nach Hause kommen wird. Die Schwiegermutter holt schließlich zum Schlag aus – und das Publikum fängt an zu buhen.

In dem kleinen Dorf in der Region Chiradzulu im Süden von Malawi dient eine Lichtung inmitten von Maisfeldern und Baobab-Bäumen regelmäßig als Treffpunkt der Gemeinde. Mehrmals im Jahr kommen die Bewohner und Bewohnerinnen hier zusammen, um sich ein Theaterstück von Aktivistinnen anzuschauen. In dem neuen Stück greifen sie ein Thema auf, das Millionen Malawier in ländlichen Regionen beschäftigt: Kinderhochzeiten und häusliche Gewalt.

Auf der Bühne erhebt sich Moreen. Beide Frauen drehen sich zum Publikum und fragen: „Wie würdet ihr mit so einer Situation zu Hause umgehen?“ Die Zuschauer beginnen zu diskutieren. „Schulen sind am wichtigsten“, sagt eine junge Frau, zu wenige Mädchen gingen zum Unterricht. Ein Mann im mittleren Alter fügt hinzu, dass vor allem Waisen häuslicher Gewalt schutzlos ausgesetzt seien. „Wenn wir Waisenkinder als Nachbarn haben, müssen wir genau darauf achten, was nebenan passiert.“

Für Moreen war es ein aufregendes Jahr. Die 16-Jährige, die beim Gemeindetheater mitmacht, auf die weiterführende Schule geht und Mutter von zwei Kindern ist, hat vor kurzem ihren gewalttätigen Ehemann verlassen und ist wieder zu ihren Eltern gezogen. Moreen war mit zwölf Jahren verheiratet worden. Sie musste die Schule verlassen, um Hausfrau zu werden. Als sie mit ihrem zweiten Kind schwanger war, täglich von ihrem Mann misshandelt wurde und dann noch erfuhr, dass der sie mit HIV infiziert hatte, reichte es ihr. „Er schlug mich sogar noch, als ich schon schwanger war und nachdem er mich angesteckt hatte“, sagt sie. „Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Also packte ich meine Sachen und machte mich auf den Weg nach Hause.“

Wie die Mehrheit der Malawier ist Moreen in einer Familie von Kleinbauern aufgewachsen. Auf ihrem kleinen Hof werden Mais und Erdnüsse angebaut, was jedoch kaum zum Überleben der siebenköpfigen Familie reicht. Viele Kinderehen werden aus Armut geschlossen: Die Mädchen werden gedrängt wegzuziehen, um den Rest der Familie wirtschaftlich zu entlasten.

Deshalb hatte Moreen bei ihrer Flucht Zweifel, ob ihre Familie sie wieder aufnehmen würde – mit einem Sohn und einem weiteren Kind schwanger. „Ich erzählte meiner Familie nicht, dass ich beschlossen hatte, meinen Ehemann zu verlassen. Ich hatte Angst, dass sie sich gegen mich wenden und mich überreden wollten, bei ihm zu bleiben“, sagt Moreen. Aber als sie unangemeldet auf der Türschwelle stand, schluchzend und voller Narben auf ihrem schwangeren Leib, brachte es ihre Familie nicht übers Herz, sie wieder wegzuschicken. Sie unterstützte Moreens Entscheidung und auch, dass sie wieder in die Schule gehen wollte. Ihre Großmutter passt nun sogar tagsüber auf die Kinder auf. So kann Moreen ihr Ziel verfolgen, Anwältin zu werden.Und irgendwann hat sie ihre Leidenschaft für die Bühne entdeckt. „Ich möchte anderen Mädchen aus meinem Dorf zeigen, was passieren kann, wenn man sehr jung heiratet“, sagt Moreen. „Außerdem macht das Theater viel Spaß.“

Viele Mädchen enden als Zweit- oder Drittfrau

Moreen steht für einen neuen Trend unter malawischen Mädchen: Sie hat den Mut gefunden, sich gegen eine düstere Zukunft zu wehren. Malawi hat eine der höchsten Raten von Kinderheiraten in ganz Afrika. Laut der internationalen Organisation Girls Not Brides, die gegen diese Praxis kämpft, wird dort jedes zweite Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet. Die hohe Zahl mache deutlich, dass ein Verbot dringend nötig sei; sagt UNICEF-Geschäftsführer Anthony Lake.

Jede Kinderehe ist nicht nur eine persönliche Tragödie, sondern führt auch zu einer Kette von Problemen für ganze Dörfer und Gemeinden. Mädchen, die früh heiraten, verlassen meist die Schule und sind stärker in Gefahr, von ihren Ehemännern, die häufig deutlich älter sind, misshandelt zu werden. Obwohl auch viele Jungen vor ihrem 18. Geburtstag heiraten, betrifft die Kinderehe zum größten Teil Mädchen. Deren künftige Ehemänner sind meist zwischen 20 und 40 Jahren alt. Weil in manchen Teilen Malawis noch Polygamie praktiziert wird, können junge Mädchen aber auch als Zweit- oder Drittfrau enden.

Die Familien der Mädchen glauben oft, dass eine frühe Heirat ihren Töchtern eine Zukunft ohne Armut sichert. Doch das Gegenteil ist der Fall: Verheiratete Mädchen haben traditionell die Pflicht, den Haushalt zu führen, dafür geben sie die Schule auf.  Ihr wirtschaftlicher Beitrag bleibt auf häusliche und landwirtschaftliche Aufgaben beschränkt. Sobald sie verheiratet sind, benutzen sie selten Verhütungsmittel. Sie werden schnell nach ihrer Hochzeit schwanger – was wiederum eigene Risiken birgt.

Babys von Jugendlichen werden öfter tot geboren, sterben kurz nach der Geburt oder sind untergewichtig. Die jungen Mütter haben häufiger Komplikationen bei der Schwangerschaft und ein erhöhtes Risiko, mit HIV oder anderen Geschlechtskrankheiten angesteckt zu werden. Insgesamt halten Kinderehen Mädchen – und damit ihre Gemeinschaften – in einer die Generationen übergreifenden Armutsspirale gefangen.

Malawi hat im vergangenen Jahr das Ehegesetz überarbeitet und das Mindestalter angehoben. Ohne Zustimmung der Eltern dürfen Kinder unter 18 Jahren nicht mehr verheiratet werden. Aber in abgelegenen Gebieten wie der Region Chiradzulu zeigt das neue Gesetz noch keine Wirkung. Stattdessen finden viele dörfliche Gemeinschaften dort eigene Wege, gegen Kinderehen vorzugehen. Laut Experten ist gerade in armen Gebieten ein andauernder Dialog in der Gemeinde eins der wichtigsten Mittel. „Die Arbeit an der Basis kann denen, die über das Leben von Mädchen entscheiden – wie Mutter, Vater, Tante oder dem Gemeindeältesten – helfen, die Folgen von Zwangsheiraten besser zu verstehen“, sagt die Geschäftsführerin von Girls Not Brides, Lakshmi Sundaram. „Das verändert die Einstellung und die Akzeptanz für die Praxis in der Gemeinde.“

Kreative junge Frauen können den Dialog in der Gemeinschaft in vielen Formen voranbringen. Während Moreen Theater spielt, schreiben andere Gedichte, komponieren Lieder oder tanzen. Einige von Moreens Leidgenossinnen singen im Chiradzulu Chor, einer Amateurtruppe von Mädchen zwischen elf und 16 Jahren. Sie üben nach der Schule und treten bei Gemeindefesten auf. Der Mädchenchor ist bekannt dafür, dass er die Zuhörer öfter mal zu Tränen rührt.

„Wir schreiben manchmal unsere eigenen Lieder oder dichten neue Texte auf alte Volkslieder“, erzählt die 14-jährige Schülerin Grace. Freunde zu treffen und gemeinsam zu singen, sei ihre liebste Freizeitbeschäftigung. In einem ihrer bekanntesten Lieder bitten sie die Gemeinschaft, Mädchen zur Schule zu schicken, statt sie zu verheiraten. Diesem Plädoyer folgend haben Dutzende Väter auf einer Veranstaltung unterschrieben, dass sie ihre Töchter nicht verheiraten, sondern zur Schule schicken. Die Initiative hat die lokale Basisorganisation Girls Empowerment Network gestartet; viele weitere solche Gemeindetreffen sind in anderen Dörfern geplant.
„Ich verspreche, meine Tochter nicht zu verheiraten und sie dabei zu unterstützen, Lehrerin zu werden“, sagt der Vater einer Jugendlichen und hält dabei ihre Hand. Lokale Würdenträger sammeln die unterzeichneten Papiere ein, um die Väter zur Verantwortung ziehen zu können, falls sie ihr Versprechen nicht einhalten sollten.

Es gibt Wege, mit der Tradition zu brechen

Der Kampf gegen Kinderehen wird emotional aufwühlender, wenn Gemeindemitglieder wie Moreen oder die Amateursängerinnen von Chiradzulu in den Vordergrund treten. „Die meisten Mädchen heiraten jung, weil sie ihre Rechte nicht kennen“, sagt die 18-jährige Aktivistin Memory Banda, die selbst einer frühen Ehe entgangen ist. „Wenn du die Traditionen ablehnst, wirst du als kindisch und unreif angesehen. Du wirst gehänselt. Es ist nicht einfach für ein junges Mädchen, sich gegen die Tradition aufzulehnen.“
Mädchen wie Moreen sind stark genug, zu handeln und die Stigmatisierung zu durchbrechen. „Positive Vorbilder sind entscheidend, um Kinderhochzeiten zu beenden. Mädchen, die geflohen sind oder es geschafft haben, nicht verheiratet zu werden, können Gleichaltrige inspirieren und bestärken“, sagt Faith Phiri vom Girls Empowerment Network. In Dörfern mit engen sozialen Beziehungen wohnen den meisten öffentlichen Veranstaltungen traditionelle Führer bei. Wenn Aktivisten diese Dorf- oder Distriktführer beeindrucken können und sie ihre Anliegen unterstützen, sind sie ihrem Ziel ein Stück näher.

Autorin

Didem Tali

ist freie Journalistin in Istanbul (Türkei). Sie beschäftigt sich vor allem mit entwicklungspolitischen und Gender-Themen. Der Artikel ist zuerst englisch in „The Development Set“ (online) erschienen.
Alle 28 malawischen Verwaltungsbezirke haben traditionelle Führer, die mit der Regierung zusammenarbeiten. Sie haben viel Macht und Einfluss. In den meisten Dörfern segnen sie eine Heirat oder Scheidung ab. Sie können lokale Verordnungen erlassen und durchsetzen und haben damit die Macht, Kinderehen in ihren Gemeinden zu stoppen. Ida Alli ist in der Region Chiradzulu die traditionelle Führerin mit dem höchsten Rang. Sie hat das Mindestalter für Hochzeiten in ihren Dörfern auf 22 Jahre hochgesetzt und im vergangenen Jahr über hundert Familien überzeugt, ihre Töchter nicht zu verheiraten.

„Wenn mir Gerüchte zu Ohren kommen, dass jemand seine Tochter verheiraten will, gehe ich persönlich zu ihnen nach Hause und spreche mit den männlichen Mitgliedern beider Familien“, erzählt Alli. „Wir sprechen stunden- und oft tagelang. Ich erkläre ihnen die Gefahren einer Kinderhochzeit und wie wichtig Bildung ist.“ Alli sieht, dass ihr Engagement etwas bewirkt. „Für die Mädchen ist es einfacher, sich gegen die Heirat zu wehren und darauf zu bestehen, weiter in die Schule zu gehen, wenn sie wissen, dass wir sie unterstützen“, sagt sie. Und wenn ein Mädchen das tue, folgten andere: „Jedes Jahr gehen mehr Mädchen in unsere Schulen.“

Frühe Ehen in Malawi zu unterbinden, ist eine Mammutaufgabe. Selbst wenn Mädchen sich erfolgreich wehren, verheiratet zu werden, müssen sie immer noch gegen Armut kämpfen, für bessere Bildungsmöglichkeiten und in vielen Fällen, wie bei Moreen, gegen HIV. Und dennoch: Wenn Mädchen anfangen zu singen, zu dichten, zu schauspielern und zu tanzen, gegen Kinderehen kämpfen, ihr Recht auf Kindheit einfordern und ihre Gemeinschaftsmitglieder inspirieren, kann das nur eines bedeuten – den Beginn einer Revolution.

Aus dem Englischen von Johanna Greuter.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2016: Frauen: Gemeinsam stark
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