Humaira Rasuli war gerade abends auf der Straße unterwegs, als sie plötzlich einen Schreck bekam. „Ich dachte, was mache ich hier? Es ist viel zu dunkel“, erzählt sie. Dann die Erleichterung: „Ich bin ja in Deutschland.“ Die temperamentvolle junge Frau, die ihre dunklen Haare locker mit einem hellen Schal bedeckt hat, lacht. Doch die kurze Episode hat einen ernsten Hintergrund. In Rasulis Heimat Afghanistan wäre ein Abendspaziergang nicht möglich. Und auch tagsüber könne sie sich nicht unbefangen auf der Straße bewegen, sagt die 36-Jährige, die die Frauenrechtsorganisation Medica Afghanistan in Kabul leitet.
Afghanistan gilt als eines der gefährlichsten Länder weltweit für Frauen. Es hat eine der höchsten Müttersterblichkeitsraten, die Mehrzahl der Ehen wird unter Zwang der Familien geschlossen. Viele Bräute haben noch nicht einmal das gesetzlich festgelegte Mindestalter von 16 Jahren erreicht. Gewalt, sexuelle Übergriffe und Demütigungen gehören für viele Frauen zum Alltag – in der Familie, in der Dorfgemeinschaft, vonseiten der Behörden oder der Polizei. Die instabile Sicherheitslage in den vergangenen Monaten hat die Situation verschärft.
Dabei sieht Rasuli Fortschritte seit dem Fall der Taliban 2001, „nicht viele, dafür sehr grundlegende“. So sei in der Verfassung die Gleichberechtigung von Frauen und Männern festgeschrieben. Die Regierung habe eine Reihe internationaler Konventionen unterzeichnet wie das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und die UN-Resolution 1325 zur Beteiligung von Frauen an Friedensprozessen. Knapp ein Viertel der Parlamentssitze seien für weibliche Abgeordnete reserviert, das gegenwärtige Kabinett zählt drei Ministerinnen.
Wenig Vertrauen in die Polizei
„Seit 2009 haben wir ein Gesetz, mit dem Gewalt gegen Frauen bestraft werden kann“, ergänzt Rasuli. Doch diese Errungenschaft sei wenig wert, denn das Gesetz werde kaum angewendet. „Der politische Wille fehlt. Es gibt ein hohes Maß an Straflosigkeit.“ Das Vertrauen in die Regierung und in die Polizei sei gering. Die meisten Frauen zeigten sexuelle Gewalt nicht an – aus Scham und weil sie befürchteten, dass niemand sie unterstützt. „Wir haben Fälle von Frauen, die von Kriegsherren vergewaltigt wurden, die noch heute der Regierung angehören. Wie könnten sie die anzeigen?“
Medica Afghanistan bietet Opfern von Gewalt medizinische und psychologische Hilfe sowie juristischen Beistand an. Außerdem setzt sich die Organisation auf der politischen Ebene für die Frauenrechte ein, derzeit wirkt sie an der Reform des Strafgesetzbuches mit. „Es ist ein harter Job, gegen unsere Kultur und unser System zu kämpfen und das Bewusstsein der Menschen zu verändern“, sagt Rasuli. „Und wir sind nicht so viele.“ Nur wenige Frauenrechtsaktivistinnen wollten bleiben, viele hegten heimlich Pläne, Afghanistan zu verlassen.
Denn ihr Leben ist gefährlich – und eingeschränkt. Wenn die Aktivistinnen auf eine Demonstration gehen, setzen sie Sonnenbrillen auf, damit ihre Gesichter nicht so leicht zu identifizieren sind. Sie wechseln häufig ihre Telefonnummern, weil sie beschimpft und bedroht werden. „Wir nehmen keine Taxen, sondern nur unsere Dienstfahrzeuge. Treffen mit Freunden außerhalb des eigenen Hauses sind nicht möglich“, sagt Rasuli, die gelernt hat, schlagfertig auf die kleinen Demütigungen seitens ihrer männlichen Gesprächspartner zu reagieren – etwa wenn ihr jemand ein Haarband schenkt, damit sie ihre Locken besser bändigen und das Kopftuch strenger binden kann.
Hoffen auf die First Lady
Oft ist es mühselig, wenn sich ihre Mitarbeiterinnen als Mediatorinnen in Konflikte zwischen Frauen und ihren Ehemännern einschalten. „Im besten Fall verspricht der Mann, künftig mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse seiner Frau zu nehmen, weil er sie bislang schlicht aus Unkenntnis missachtet hat“, sagt Rasuli. „Manchmal arbeiten wir drei, vier Jahre mit derselben Frau, bis alles in Ordnung ist. Doch es passiert auch, dass eine Frau nach einem Mediationsprozess getötet wird.“
Trotzdem: Sie liebt ihre Arbeit. „Seit meiner Kindheit ärgere ich mich über Diskriminierungen und stereotype Rollenzuschreibungen“, erklärt die Mutter von zwei Söhnen. „Es ist so großartig, mitzuerleben, wie Frauen Selbstvertrauen entwickeln und in ihren Gemeinschaften vom Opfer zur Aktivistin werden.“ Zugleich weiß sie: Ohne die Unterstützung ihrer Familie könnte sie ihre Arbeit nicht tun. „Mein Vater und mein Ehemann stehen hinter mir.“ Die Veränderungen, die sie von anderen erwarte, müsse sie selbst vorleben. „Wir werden als Vorbilder betrachtet.“
Rasulis Hoffnungen für die Zukunft ruhen auf der First Lady, Rula Ghani, die als Verfechterin der Frauenrechte gilt – und auf der internationalen Gemeinschaft. Die sollte den Beitrag von Menschenrechtsverteidigerinnen zu einem friedlichen Wandel in der Gesellschaft würdigen, betont sie. „Wenn wir demotiviert werden, gibt es wenige Aussichten, dass die bislang erzielten Verbesserungen nachhaltig sind.“
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