Eigentlich sollte Justine Mbabazi an der afghanischen Verfassung mitarbeiten. Als ihr klar wurde, dass die Bevölkerung vom Verfassungsprozess ausgeschlossen war, lehnte sie ab. „Nicht ich, nicht andere, sondern die Leute aus Afghanistan sollten diese Verfassung schreiben. Wie sollen Menschen lernen, wenn wir für sie denken?“ Justine weiß, wovon sie spricht. Sie arbeitete nach dem Genozid in Ruanda an der neuen Verfassung ihres Landes mit. Einem Land, in dem 1994 innerhalb von 100 Tagen bis zu einer Million Menschen umgebracht, wo Tausende Frauen vergewaltigt und unzählige Kinder traumatisiert wurden. Justine selbst überlebte den Völkermord zusammen mit ihren fünf Kindern in einer Höhle. Ihren Mann und ihre Eltern hat sie nie mehr gesehen.
Geradlinig lässt sich Justines Lebensweg nicht nachzeichnen. Fragen zu ihrem Alter, zu Jahreszahlen, zur Dauer eines Engagements ignoriert sie. Was zählt, ist der Moment. Wie der vor vielen Jahren in Uganda, wo sie als Flüchtlingskind aufwuchs, weil ihre Eltern Ruanda 1959 nach dem ersten Hutu-Aufstand verlassen hatten. Die Kinder spielten und stritten und Justines Vater forderte seine Jüngste zum Schlichten auf. „Ich war Richterin, bevor ich Juristin wurde“, sagt Justine Mbabazi.
Schon als Kind ohne Recht auf Bildung erlebte sie Ungerechtigkeit, weil sie nicht mit den anderen Kindern zur Schule durfte. Später, hungrig nach Lernen, schickten sie ihre Eltern nach Ruanda, wo sie mit einer falschen Hutu-Identität die Schule besuchte. Heute blickt sie vorwärts, geprägt von einer schwierigen Vergangenheit, die sie ungern erzählt, denn „ich will nicht Opfer spielen, um den Menschen klar zu machen, was die Welt braucht“.
Im Parlament sitzen mehr Frauen als Männer
Noch mitten in der Trauer nach dem Völkermord begann der Wiederaufbau Ruandas, angetrieben von den Frauen. „Nach dem Genozid bemerkten wir, dass wir keine legale Basis hatten, auf der unser Land funktionieren konnte“, schreibt Justine in ihrem Buch „This Is Your Time, RWANDA“. Es brauchte eine Verfassung. „Dieser Prozess begann auf der lokalen Ebene, wo die Stimmen der Menschen gehört wurden.“ Die Frauen zogen von Dorf zu Dorf, um in Diskussionen zu erfahren, was die Menschen von einer Verfassung erwarteten.
Der Prozess dauerte sieben Jahre: 2003 wurde die Verfassung per Volksabstimmung verabschiedet. Heute schätzt Justine sich glücklich, dieses „großartige Dokument“ mitgestaltet zu haben, das Gleichstellung und Bildung garantiert. Es sei eine Verfassung des Volkes und nicht der politischen Elite geworden. Justine hat auch maßgeblich am neuen Familien- und Erbrecht mitgearbeitet, das Frauen erlaubt, Eigentum zu erben. Sie hat 2003 das Kinderrechtsgesetz revidiert und sie hat ein Gesetz gegen Gewalt an Frauen entworfen, das 2008 in Kraft trat.
Heute sitzen im ruandischen Parlament 64 Prozent Frauen. In den Ministerien sind es um die 40 Prozent. Richterinnen und Richter halten sich zahlenmäßig die Waage und auch die Zahl der Unternehmerinnen steigt ständig. Doch es geht Justine nicht um Zahlen und Quoten, sondern darum, dass Frauen und Männer gemeinsam das Ziel verfolgen, Ruanda wieder aufzubauen – und die alten Fehler nicht zu wiederholen.
Sie ist voll des Lobes für den Weg, den Ruanda und seine Bevölkerung seit dem Genozid zurückgelegt haben. Sie erzählt von Frauen, die ihren Vergewaltigern und Mördern ihrer Kinder verzeihen mussten – und es auch getan haben. Sie schildert, wie Frauen Waisen aufgenommen haben und sie wie ihre eigenen Kinder aufziehen. Begeistert erzählt sie von der traditionellen Gerichtsbarkeit, den lokalen Gacaca-Gerichten, die die Versöhnung vorangetrieben haben, „schneller als jedes westliche Gericht es geschafft hätte“.
Sie ehrt den Präsidenten Paul Kagame und seine „weise Führung des Landes“. Kritische Fragen mag sie nicht. Die heutige Situation in Ruanda – etwa die Verfolgung der Opposition, die eingeschränkte Medienfreiheit oder die verfassungswidrige dritte Amtszeit von Kagame – lässt sie im Gespräch unkommentiert. „Ist es in einer Welt, die auseinander fällt, nicht schön, Positives zu hören?“, fragt sie stattdessen zurück. „Wir kommen nur vorwärts, wenn wir schätzen, was wir geleistet haben.“ Und deshalb erzählt sie von Errungenschaften und kleinen Schritten, die keine Schlagzeilen machen. Aber ganz unkritisch ist Justine nicht: In ihrem Buch wünscht sie sich ein Ruanda, in dem die Führung „nicht um den Machterhalt kämpft, sondern nach gegebener Zeit abtritt, legal und friedlich“.
Ende der 1990er Jahre verließ Justine mit ihren Kindern das Land, um zu trauern, um Kräfte zu sammeln, um zur Ruhe zu kommen. Sie studierte in Kanada Gender Studies, schloss in den USA ihr Jurastudium ab und promovierte. Als die US-amerikanische Entwicklungsbehörde USAID sie bat, in Afghanistan zu arbeiten, zog sie zunächst ihre Kinder zu Rate. Als diese erfuhren, dass sie dort dasselbe tun würde wie einst in Ruanda, gaben sie ihrer Mutter den Segen – trotz der Gefahren, die in dem Land herrschen.
Eine Afrikanerin in Afghanistan, ohne Kopftuch
"Da war ich: eine afrikanische Frau aus Ruanda mit einem kanadischen Pass, die für die US-Amerikaner in Afghanistan arbeitet. Nicht muslimisch, nicht religiös. Stur und nie mit einem Kopftuch unterwegs. Eine Juristin, die versucht, Menschenrechte im System der Scharia einzubringen oder zumindest darüber zu sprechen. Alle – selbst mein Präsident in Ruanda – wussten spätestens jetzt, dass ich verrückt bin.“
Zunächst war ein Aufenthalt von drei Monaten geplant. Es wurden mehr als sieben Jahre – und eine Herzensangelegenheit. Für USAID und später für die Organisation Global Rights engagierte sie sich für den Zugang zum Rechtssystem, vor allem für Frauen. Sie beriet den Generalstaatsanwalt, den Justizminister und den höchsten Richter des Landes. Bei ihrer Arbeit ging es um Gesetze, die Frauen und Kinder schützen sollten, um die Ausbildung von Frauen zu Anwältinnen und Richterinnen. Dabei scheute sie keinen Aufwand, zeigte keine Berührungsängste. „Ich ging in die Moschee, da ich erfahren hatte, dass der Mullah das letzte Wort hat. Ich ging hin, mit Demut und dem Ziel, ihn zu überzeugen, dass Frauen in einem Rechtssystem etwas bewegen können. Ich hörte ihm zu und bat ihn, mich anzuhören. Ich erklärte ihm, was Frauen in einem zerstörten Land wie Afghanistan bewirken können, wenn sie nur dürfen. Und es hat geklappt.“
Autorin
Rebecca Vermot
ist Redakteurin bei der Schweizerischen Depeschenagentur sda und ständige Korrespondentin von "welt-sichten".Während Justine ihre Arbeit für Ruanda als Patriotin für selbstverständlich erachtet, ist Afghanistan zu ihrer Passion geworden. „Ich liebe Afghanistan. Meine Arbeit dort hat mich erfüllt. Aber ich wurde auch respektiert und ausgezeichnet. Die Türen des Gouverneurs und der Mullahs standen mir offen. Ich genoss den Schutz des höchstdekorierten Generals. Ich fühlte mich willkommen und zu Hause.“ Respekt wurde ihr wegen ihres Kampfgeistes, aber auch wegen ihrer Lebensgeschichte entgegengebracht, weil sie aus Erfahrung heraus spricht und nicht vom Elfenbeinturm herab. Die Juristin brennt für die Frauenrechte und die Gerechtigkeit. „Wenn du mich fragst, ob ich das Leben zurückspulen möchte, würde ich nicht sagen, dass ich lieber nicht geboren wäre. Ich würde sagen, ich wäre lieber nicht in einer ungerechten Welt geboren worden.“
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