Sieben Mythen über Kriminalität

Sicherheit
Schärfere Gesetze, härtere Strafen, mehr Polizei? Dass staatliches Durchgreifen für mehr Sicherheit sorgt, ist ein Mythos. Einer von vielen, wenn es um Mord, Totschlag und andere Verbrechen geht.

Kürzlich hat Innenminister Thomas de Maizìere die neueste Kriminalitätsstatistik für Deutschland vorgestellt. Zwei Nachrichten stechen heraus – die eine auf den ersten Blick beunruhigend, die andere überraschend: Beunruhigend ist, dass die Kriminalität in Deutschland im vergangenen Jahr um gut vier Prozent gestiegen ist und dass für den Anstieg vor allem Ausländer verantwortlich sind. Überraschend ist, dass Deutschland zwei neue Kriminalität-Hochburgen hat, bei denen man bislang eher an idyllische Landschaften und friedliche Menschen gedacht hat: die Landkreise Passau und Berchtesgaden. Mit fast 38.000 registrierten „Straftaten“ je 100.000 Einwohner liegt Passau auf Platz eins der Statistik.

Erst auf den zweiten Blick stellt sich der Sachverhalt als weniger beunruhigend und überraschend dar: Der Anstieg geht vor allem auf unerlaubte Grenzübertritte von Flüchtlingen im vergangenen Jahr zurück, und die fanden nun mal im Südosten Deutschlands an der Grenze zu Österreich statt. So erklärt sich auch, dass Passau mit 96 Prozent auch bei der Aufklärungsquote an der Spitze liegt. Bei näherer Betrachtung der Zahlen gibt es also eine ganz harmlose Erklärung für den scheinbaren Anstieg der „Ausländerkriminalität“ im beschaulichen Bayern. Es lohnt sich, beim Thema Sicherheit und Kriminalität genauer hinzuschauen.

1. Die Welt wird immer unsicherer

Stimmt nicht, auch wenn das Gefühl weit verbreitet ist, dass die Gewaltkriminalität allerorten zunimmt. Und um die soll es hier gehen, nicht um Kriege und vergleichbare militärische Auseinandersetzungen. So ist die Zahl der registrierten Morde in der Europäischen Union – einschließlich Opfer von Terroranschlägen – in den Jahren 2008 bis 2013 laut der EU-Statistikbehörde um 21 Prozent gesunken. Ähnlich in den USA: Dort ist laut der Bundespolizei FBI die Zahl der Morde im selben Zeitraum um zehn Prozent zurückgegangen. In den Vereinigten Staaten wurden auch weniger Vergewaltigungen registriert, während sie in der EU um 16 Prozent gestiegen sind.

Natürlich spiegeln diese Zahlen nur die gemeldeten Verbrechen und sagen nichts über die Dunkelziffer. Die EU-Statistiker betonen außerdem, dass man nicht einfach die Zahlen etwa für Vergewaltigung zwischen einzelnen Ländern vergleichen kann, weil Straftatbestände von Land zu Land unterschiedlich definiert werden. Aber Trends lassen sich aus den Daten durchaus ablesen.

Bei Mord und Totschlag zeigt der Trend auch in vielen Entwicklungsländern nach unten, vor allem in Asien. Doch sogar im in dieser Hinsicht verrufenen Südafrika ist nach den Zahlen der für Kriminalität zuständigen UN-Behörde UNODC die Mordrate pro 100.000 Einwohner gefallen: von 47 im Jahr 2000 auf 31 im Jahr  2012. Allerdings ist das immer noch erschreckend viel: In Deutschland liegt die Rate bei weniger als eins.

In Lateinamerika hingegen ist die Lage konstant ziemlich düster, in einigen Ländern vor allem in Mittelamerika ist die Mordrate in den vergangenen zwanzig Jahren sogar gestiegen. Laut dem brasilianischen Forschungsinstitut Igarapé entfallen auf Lateinamerika und die Karibik ein Drittel aller Morde weltweit – ihr Anteil an der Weltbevölkerung liegt dagegen nur bei rund acht Prozent.

2. Ungleichheit verschärft Gewaltkriminalität

Genau das kann man in Lateinamerika gut studieren. Etliche Länder des Kontinents sind nicht nur Weltspitze bei Kapitalverbrechen, sondern auch bei der ungleichen Verteilung von Reichtum. Zwar haben Länder wie Brasilien oder Mexiko mit wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen zuletzt erfolgreich die Armut verringert; Studien zeigen außerdem, dass Sozialprogramme für arme Familien in Brasilien Gewaltkriminalität reduzieren helfen. Aber das reicht nicht, wenn nicht gleichzeitig die Kluft zwischen Arm und Reich verkleinert wird.

Der britische Gesundheitswissenschaftler Richard Wilkinson hat in vielen Studien untersucht, wie Ungleichheit auf eine Gesellschaft sowie auf die seelische und körperliche Gesundheit wirkt. Demnach wird Ungleichheit von denen, die in der Gesellschaft unten stehen, oft als strukturelle Gewalt empfunden. Und darauf antworten Männer, die laut UNODC vier von fünf Morden verüben, zuweilen mit Frustration und Aggression. Sie haben das Gefühl, die Gesellschaft stellt sich gegen sie und bietet ihnen keine Möglichkeit, aus eigener Kraft voranzukommen. Zugleich sehen sie, dass andere immer wohlhabender werden, und fühlen sich  gedemütigt.

Die Gewalt richtet sich aber nicht gegen die oberen Zehntausend. Überall auf der Welt stammen sowohl Täter als auch Opfer von Gewaltkriminalität vor allem aus den unteren sozialen Schichten. Auch dafür hat Wilkinson eine Erklärung: Konflikte werden vor allem zwischen Gleichgestellten ausgetragen, die in der sozialen Rangordnung miteinander konkurrieren. Mit anderen Worten: Der arbeitslose Jugendliche weiß zwar, dass der Bankmanager viel besser dran ist als er selbst. Aber Stress bereitet ihm sein Nachbar, der ihm seine Position im Viertel streitig machen könnte. Und an den kommt er auch ran, nicht jedoch an den Bankmanager.

3. Je ärmer ein Stadtviertel, desto höher die Kriminalität

Oft ist das so und hat mit Wilkinsons Befunden zur Wirkung von Ungleichheit zu tun. Sehr eindrucksvoll hat das die Journalistin Katherine Boo in ihrem Buch „Behind the Beautiful Forevers“ über das Leben in einem Slum am Rande der indischen Metropole Mumbai beschrieben. Boo schildert das Viertel Annawadi als eine Art Unterstadt, in der die Menschen buchstäblich vom und im Müll der Schönen und Reichen leben. Das führt aber nicht dazu, dass die Leute zusammenhalten und aufbegehren gegen diese Missstände. Stattdessen geben sie sich gegenseitig Schuld an ihrem Schicksal und lassen keine Gelegenheit aus, sich zu übervorteilen und zu quälen.

Im Kontrast dazu stehen romantische Schilderungen vom Slum, in dem die Armen weitgehend friedlich und solidarisch zusammenleben. Es gibt beides, und wie hoch die Kriminalität in einem Stadtviertel ist, hängt von seiner Struktur und seiner Geschichte ab. Studien aus Südafrika haben gezeigt, dass nicht die Armut, sondern die soziale Stabilität entscheidend ist: Am meisten Kriminalität herrscht in Townships, in denen ständig Menschen zu- und wieder wegziehen. Wo hingegen die Einwohnerschaft stabiler ist, gibt es weniger Gewalt. Untersuchungen in den Slums in der kenianischen Hauptstadt Nairobi kommen zu ähnlichen Ergebnissen.

Auf ein anderes Problem weist Muzammal Hoque von der Organisation Action for Social Development hin, die sich in Bangladesch für die Rechte von Slumbewohnern einsetzt: Demnach verstecken Gangster sich selbst oder Drogen in den Armenvierteln der Hauptstadt Dhaka, weil sie dort niemand kennt. Und selbst wenn sie enttarnt werden, sagten die Leute nichts, weil sie es ohnehin nicht ändern könnten.

4. Harte Strafen schrecken Verbrecher ab

Das ist falsch. Auch wenn es immer wieder gern behauptet wird, besonders von Politikern, die damit zeigen wollen, dass sie etwas gegen Kriminalität tun. Viele Untersuchungen aus aller Welt haben aber gezeigt, dass es keinen signifikanten Zusammenhang gibt zwischen der Kriminalitätsrate und der Bestrafung von Einbrechern, Gaunern oder Mördern. Der Kriminologe Helmut Kury zeigt das an der sogenannten „3 Strikes“-Regelung: In einigen US-amerikanischen Bundesstaaten, vor allem in Kalifornien, werden Straftäter beim dritten Vergehen extrem hart bestraft, selbst wenn es sich nur um ein Bagatelldelikt gehandelt hat. Laut Kury sind Gewaltverbrechen in den kalifornischen Städten, die die Regelung besonders konsequent anwenden, nicht stärker zurückgegangen als in anderen Gemeinden.

Und wie wirkt die härteste aller Strafen, die Todesstrafe? Laut Kury zeigen Daten aus den 1990er Jahren, dass die Mordrate in US-Bundesstaaten mit Todesstrafe sogar höher ist als in den Staaten ohne Todesstrafe. Andere Untersuchungen kommen zum gegenteiligen Ergebnis: Demnach schreckt die Todesstrafe sehr wohl potenzielle Täter ab und hilft Gewaltverbrechen zu verhindern.

Das Institut für Kriminologie an der Universität Heidelberg ist vor einigen Jahren der Frage nachgegangen, wie derart unterschiedliche Befunde zustande kommen. Das Fazit lautet: Es kommt darauf an, wer die Untersuchung durchführt. Ökonomen bescheinigen der Todesstrafe häufiger eine präventive Wirkung, während Soziologen und Kriminologen zur gegenteiligen Schlussfolgerung neigen. Die Heidelberger Forscher erklären das mit dem Einfluss der unterschiedlichen Handlungstheorien und Menschenbilder, die den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zugrunde liegen.

5. Mehr Sicherheit durch Kameras

Man kennt das Bild aus Science-Fiction-Filmen oder Spionagethrillern: Da sitzen Polizisten oder Geheimdienstleute in ihrer Zentrale vor meterhohen Videowänden. Über Kameras, Satelliten und Drohnen können sie jederzeit Live-Bilder aus jeder Ecke einer Stadt oder sogar eines ganzen Landes empfangen und auf diesem Weg Gangster jagen und Verbrechen verhindern. Bringt die totale Überwachung totale Sicherheit? Bisherige Studienergebnisse, etwa aus der Berliner U-Bahn oder aus London, sprechen nicht dafür: Demnach hat die Installation von Kameras nicht dazu beigetragen, dass die Kriminalität sinkt.
 
Befürworter von mehr Überwachung argumentieren deshalb oft nicht mehr mit der Prävention, sondern mit der Aufklärung von Verbrechen. Tatsächlich sind die Befunde hier weniger klar: Es gibt etliche Beispiele dafür, dass Täter mithilfe von Videobildern dingfest gemacht werden konnten. Allerdings weiß niemand, wie viele von ihnen die Polizei früher oder später auch auf anderem Wege erwischt hätte.  

Dass Kameras in U-Bahn-Stationen, Parkhäusern oder auf öffentlichen Plätzen das Sicherheitsgefühl der Bürger erhöhen, ist nicht eindeutig belegt. Wenn überhaupt, dann wirkt das nur kurzzeitig, sagt der Hamburger Sozialforscher Nils Zurawski, der sich seit vielen Jahren mit Überwachung und Sicherheit beschäftigt. Das gute Gefühl lässt spätestens dann nach, wenn die Leute merken, dass auch auf überwachten Plätzen Hilfe nicht schneller kommt als anderswo. Computerspezialisten und Sicherheitsbehörden basteln an einer vermeintlichen Lösung für dieses Problem, die allerdings eher düster stimmt: Computerprogramme, die selbstständig „verdächtiges“ Verhalten erkennen und Alarm schlagen.

6. Weniger Schusswaffen = weniger Gewaltkriminalität

Stimmt nicht. Zumindest behauptet das die Initiative „Gun Facts“. Auf deren Website findet sich eine Grafik, nach der in den USA die Mordrate seit Mitte der 1990er Jahre stark zurückgegangen ist, während die Zahl der Handfeuerwaffen im selben Zeitraum gestiegen ist. Allerdings macht der Betreiber der Website kein Hehl daraus, dass er Gewehre und Pistolen einfach gut findet. Dennoch: Es ist tatsächlich nicht eindeutig, wie die Verfügbarkeit von Schusswaffen auf die Kriminalitätsrate wirkt. In Serbien gibt es laut der von der Universität Sydney betriebenen Datenbank „GunPolicy“ mehr als 75 Schusswaffen pro 100 Einwohner, in Brasilien nur acht. Trotzdem ist die Mordrate in Serbien mit nur 1,4 pro 100.000 Einwohner viel niedriger als in Brasilien, wo sie bei 26,4 liegt.

Wie bei der Frage nach der Wirkung der Todesstrafe gilt auch für die Debatte über Waffen: Die Wissenschaft kommt zu Ergebnissen, die sich teilweise widersprechen. Eine Studie aus US-amerikanischen Großstädten sagt, die Verfügbarkeit von Pistolen und Gewehren hat mehr Gewaltkriminalität zur Folge. Eine zweite Studie mit Daten aus mehreren Kontinenten schränkt das ein und kommt zum Schluss, es hängt vom gesellschaftlichen Kontext ab. Eine dritte, ebenfalls länderübergreifende Untersuchung zieht genau das wieder in Zweifel: Waffen verschärfen Kriminalität, überall und unabhängig von anderen Umständen wie Kultur, Geschichte oder Politik.

Laut „GunPolicy“ sind weltweit fast 900 Millionen Pistolen, Gewehre und andere tragbare Schusswaffen im Umlauf, drei Viertel davon im Besitz von Zivilisten. Der gesunde Menschenverstand sagt: Gäbe es weniger Waffen, wäre die Welt friedlicher. Der legale internationale Handel mit Kleinwaffen beträgt rund acht Milliarden US-Dollar jährlich. Wie viele sinnvolle Programme zur Vorbeugung von Kriminalität könnte man damit bezahlen?

7. Je mehr Polizei, desto weniger Kriminalität

Gute Nachricht aus Accra: In Ghanas Hauptstadt geht die Kriminalität zurück, meldete die örtliche Polizei im vergangenen Jahr – und kündigte an, ihre Präsenz weiter zu erhöhen und neue Dienststellen einzurichten.

Die ghanaischen Behörden haben die richtigen Schlüsse gezogen: Es bringt nämlich etwas, wenn die Polizei sich in der Öffentlichkeit blicken lässt und auf Streife geht. Keinen Unterschied hingegen macht die Polizeidichte allein, also die Zahl der Polizisten und Polizistinnen pro Einwohner. Laut einer Studie aus deutschen Großstädten steht sie in keinem Zusammenhang zur Kriminalitätsrate und zum Sicherheitsgefühl der Einwohner.

Die Beamten müssen auf die Straße. Sie müssen sowohl den friedlichen Bürgern und Bürgerinnen als auch den potenziellen Gaunern zeigen: Wir sind da. Das wirkt sich dann günstig auf die Kriminalitätsrate aus, wenn die Schutzleute tatsächlich Schutz versprechen, statt selbst Angst und Unsicherheit zu verbreiten, etwa durch grobes und rücksichtsloses Auftreten. Aus dieser Erkenntnis heraus wurde in den 1990er Jahren in den USA ein neues Modell bürgernaher Polizeiarbeit entwickelt, das sogenannte „community policing“. Dabei arbeitet die Polizei in den Stadtvierteln eng mit anderen wichtigen Kräften zusammen, etwa mit Sozialarbeitern, Schulen oder Krankenhäusern. Das Ziel: Kriminalität nicht nur bekämpfen und Verbrecher bestrafen, sondern Vertrauen zur Polizei herstellen, Verbrechen vorbeugen und helfen, die Ursachen abzustellen.

„Community policing“ wird heute überall auf der Welt ausprobiert. Auch in der Entwicklungszusammenarbeit wird damit in vielen Ländern experimentiert. Dort ist es besonders nützlich, denn gerade in ärmeren Ländern mit schwachen politischen Institutionen oder in autoritär regierten Staaten machen die Leute oft schlechte Erfahrungen mit der Polizei. Dort sind die Beamten oft korrupt und ein Werkzeug der politischen Repression. Oder sie machen mit Gaunern gemeinsame Sache.

In Entwicklungsprojekten wird auch häufig mit informellen Schutzleuten aus der Nachbarschaft gearbeitet: Im Idealfall unterstützen sie die Polizei und wirken als Bindeglied zu den Einwohnern im Viertel; wenn es jedoch schlecht läuft, wachsen sie sich zu Bürgerwehren aus, die das Gesetz selbst in die Hand nehmen.

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erschienen in Ausgabe 7 / 2016: Sicherheit: Manchmal hilft die Polizei
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