„Eine Schule der Kriminalität“

Zum Thema
Kinder im Knast
In den 20 Jahren seines Bestehens hat der Verein Kinderrechte Afrika Zehntausende inhaftierte Mädchen und Jungen in acht afrikanischen Ländern unterstützt. Der Vorsitzende Horst Buchmann erzählt, wie es in den Gefängnissen zugeht, und warum man den Staat trotzdem nicht auf die Anklagebank setzen sollte.

Herr Buchmann, welcher Ihrer Gefängnisbesuche hat Sie besonders beeindruckt?
Die Mutter-Theresa-Schwestern haben mich 1995 in das Gefängnis von Conakry in Guinea mitgenommen. Viele Häftlinge im hinteren Trakt sahen aus wie uralte Greise – ohne Haare, ohne Zähne, eine faltige schlaffe Haut. Ich fragte einen, wie alt er sei, und er sagte 16. Ich habe dann versucht, seine Familie im Senegal zu kontaktieren, doch als ich am nächsten Tag wieder kam, war er tot. Das hat mich sehr bewegt und war der Anstoß für unser Engagement in Guinea.

Warum werden die Kinder inhaftiert?
Das sind oft eher Lappalien. Kleine Diebstähle wie Mangos, Zigaretten, ein Huhn, in jüngster Zeit zunehmend Handys. Dann sind es Veruntreuungen, anvertrautes Geld oder Waren wurden nicht zurückgegeben, sowie Streit mit Körperverletzung. Mädchen werden vor allem in muslimischen Ländern wegen Abtreibung eingesperrt. Zu Beginn unserer Arbeit war schätzungsweise die Hälfte der inhaftierten Kinder unschuldig. Viele waren noch nicht einmal strafmündig. In Kamerun habe ich erlebt, dass Acht- bis Zwölfjährige wegen Diebstahl auf einer Polizeistation festgehalten wurden und dann im Gefängnis landeten. Erwachsene hatten sie bei Einbrüchen benutzt, weil sie sich durch die engen Fenster zwängen konnten. Heute sitzt dort, wo unsere Partner in Kamerun arbeiten, kein Kind unter 14 Jahren mehr im Gefängnis.

Wie leben die Kinder im Gefängnis?
Als wir vor 20 Jahren mit unserer Arbeit im Senegal, in Mali, der Elfenbeinküste und in Zaire begonnen haben, waren Gefängnisse so etwas wie geschlossene Welten, geprägt von Elend, Gewalt, Terror. Sie waren eine Schule der Kriminalität. Die Kinder waren zum Teil mehrere Jahre inhaftiert, ohne je einem Richter vorgeführt zu werden. Akten existierten nicht oder waren nicht auffindbar. Die Gefängnisse waren völlig überfüllt, die hygienischen Bedingungen katastrophal. Viele Kinder waren von  Durchfall, Krätze und Malaria geplagt. Sie wurden schikaniert, sexuell missbraucht, versklavt und mussten sich denen unterordnen, die Privilegien hatten. Es gab nur ein einziges Gefängnis, in dem Kinder von Erwachsenen getrennt waren. Inzwischen sind sie in den meisten Gefängnissen, in denen wir uns engagieren, getrennt untergebracht.

Wie helfen Sie sonst?
Wir versuchen, menschenwürdige Haftbedingungen herzustellen,  mit Hilfe von Sanitär- und Hygienemaßnahmen, Durchlüftung, Schlafmatten, Gesundheitsfürsorge, Beschäftigungs-therapie und Alphabetisierungsprogrammen. Die Kinder erhalten regelmäßig einen Rechtsbeistand und wir finden oft auch Haftalternativen für sie.

Was wäre eine Haftalternative?
Unsere Partner arbeiten eng mit Polizeistationen zusammen. Manchmal kann eine Haftstrafe durch einen Täter-Opfer-Ausgleich verhindert werden, wenn es gelingt, die Eltern mit ins Boot holen, um den Schaden wiedergutzumachen. Wir haben schnell gelernt, dass wir auch präventiv arbeiten müssen und nicht warten dürfen, bis die Kinder schon im Gefängnis sind.

Wie bekommen Sie mit, wenn ein Kind festgenommen worden ist?
Unsere lokalen Mitarbeiter besuchen regelmäßig die Polizeistationen vor Ort, manchmal täglich. Außerdem beteiligen sich geschulte Ehrenamtliche aus der Zivilgesellschaft. Die Polizei in den Ländern, in denen wir arbeiten, ist zunehmend  kooperativ und signalisiert unseren Partnern oft umgehend, wenn Minderjährige festgenommen worden sind.

Wie läuft die Zusammenarbeit mit staatlichen Kräften sonst?
Die Grundlage sind Abkommen mit den Justizministerien. Man darf den Staat nicht wegen Kinderrechtsverletzungen auf die Anklagebank setzen, sonst schließen sich die Gefängnistore und wir kommen nicht mehr an die Kinder ran. Der Staat hat das Gewaltmonopol, er ist der Garant für die Beachtung von Kinderrechten. Mit unseren Partnern haben wir etwa im Kongo, in der Elfenbeinküste, in Mali und Kamerun sämtliche nationalen Gesetze und internationale Rechtsnormen zusammengetragen, die für die Jugendstrafgerichtsbarkeit wichtig sind. Gemeinsam mit einheimischen Juristen haben wir sie analysiert und im Blick auf einen besseren Schutz von Kinderrechten und Empfehlungen ausgesprochen, gewonnen aus mehrjähriger Praxis. Sie wurden mit Zustimmung der zuständigen Ministerien veröffentlicht und landesweit an staatliche Institutionen und an Kinderrechtsaktivisten verteilt. Als Ergebnis dieser Arbeit sind in Mali, Togo und im Kongo auch Gesetzesänderungen für einen wirksameren Kinderschutz verabschiedet worden. Ein Hauptproblem ist aber nach wie vor, dass die Gesetze meist nur unzureichend angewendet werden.

An welche Grenzen stoßen Sie?
Ich hätte nicht gedacht, dass die Zusammenarbeit mit den Staaten so gut funktioniert. Aber manchmal geraten wir in ein Dilemma zwischen dem Kindeswohl und dem Prinzip, dass wir den Staat nicht aus seiner Verantwortung gegenüber den minderjährigen Häftlingen entlassen dürfen. Wir haben erlebt, dass  Kinder bei einem Gefängnisbesuch am Freitagnachmittag klagten, sie bekämen seit zwei Tagen nichts zu essen. Der Staat hatte die Rechnungen an den Lieferanten der Grundnahrungsmittel nicht bezahlt. Man weiß genau, dass man die Gefängnisverwaltung, und vor allem die Entscheider im Justizministerium, am Wochenende nicht erreicht und erst am Montag wieder gearbeitet wird. Inzwischen müssten die Kinder weiter hungern. Also organisierten unsere Partner Notrationen.

Arbeiten Sie auch mit einzelnen Sicherheitskräften?
Wir schulen Richter, Staatsanwälte, Gefängnispersonal und die Polizei. Das läuft sehr gut, aber es gibt auch Vorbehalte. Einige Polizisten haben noch Diktaturen erlebt, sie sind noch vom alten Schlag. Sie wurden während ihrer Ausbildung schwer geschleift und sind selbst Opfer von Gewalt. Sie kennen nur Repression, die Schutzfunktion der Polizei ist ihnen wenig vertraut. Aber es hilft sehr, sie zur Weiterbildung einzuladen, sie ernst zu nehmen, ihre Probleme anzuhören und sie dann als Partner für den Kinderschutz zu gewinnen.

Welche Rolle spielen die Eltern?
Gerade in muslimischen Ländern ist es für die Eltern eine große Schande, wenn ihr Kind im Gefängnis sitzt. Oft besuchen sie es dann nicht einmal. Außerdem ist es leider vielen Eltern  fast egal, was mit ihrem Kind passiert. Sie sagen, dem geschieht es recht, und wir haben ein Problem und einen Esser weniger. Sie übernehmen keine Verantwortung für ihr Kind. Das ist derzeit eines der größten Probleme, mit dem unsere Partner und die Justiz kämpfen.

Das Gespräch führte Gesine Kauffmann.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2015: Entwicklung - wohin?
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