„In Europa ist das Führungsversagen katastrophal“

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François Crépeau ist Professor für Völkerrecht an der McGill-Universität in Montreal (Kanada) und seit 2011 Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zu den Menschenrechten von Migranten.
Grenzpolitik
Dass reiche Länder ihre Grenzen abschotten, ist sinnlos und unmenschlich, sagt François Crépeau, der UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte von Migranten. Die Lösung der Krise? Europa sollte über sechs Jahre jährlich eine halbe Million syrische Flüchtlinge aufnehmen.

Europa will den Zustrom von Flüchtlingen und Migranten verringern. Ist die Schließung der nationalen oder europäischen Grenzen eine Option?
Das hat in den vergangenen 50 Jahren noch nie funktioniert. Die meisten Grenzen auf der Welt sind durchlässig – eine Ausnahme ist Nordkorea. Man kann Grenzen schließen, indem man alle zehn Meter einen Soldaten mit Schießbefehl hinstellt. Aber so funktionieren Demokratien nicht. Und hier wird territoriale Souveränität falsch verstanden, als bedeute sie, niemanden auf das eigene Territorium zu lassen, den man dort nicht haben will. Aber sie bedeutet, dass man wissen sollte, wer über die Grenze kommt. Mit der Verbotspolitik drängen wir viele Migranten in die Hände von Schleuserringen. Die helfen ihnen über die Grenze, ohne dass Behörden davon erfahren. Der Versuch, Grenzkontrollen zu verschärfen, hat dafür gesorgt, dass Staaten die Kontrolle über ihre Grenzen verlieren. Wir schießen uns ins eigene Knie.

Geht es nur darum, zu wissen wer kommt – nicht auch auszuwählen, wer kommen darf?
Die Idee, auszuwählen, wer kommen darf, ist erst zwei Jahrhunderte alt. Hier kann man zwischen Flüchtlingen und anderen Migranten unterscheiden. Flüchtlinge müssen ihr Land verlassen und können nicht legal zurückgeschickt werden – im Unterschied zu Überlebensmigranten, die ihre Familie in der Heimat nicht ernähren können. Beide werden aber weiter kommen, ob wir wollen oder nicht; außer wenn wir auf sie schießen. Und dann würden wir in den meisten europäischen Ländern große Probleme mit den Gerichten bekommen. Deshalb wollen wir, dass das außerhalb unserer Grenzen passiert.

Wollen Sie sagen, wir bitten zum Beispiel die Türkei oder Marokko, auf Flüchtlinge zu schießen?
Wir wollen, dass sie Flüchtlinge mit allen Mitteln stoppen, so lange es diskret geschieht. Genau das passiert bereits. In Marokko wurden Tausende Menschen festgenommen, und Hunderte wurden in der Wüste nahe der algerischen Grenze abgeladen. Viele sind verdurstet. Europa hat das zurückhaltend kritisiert, aber zynisch gesagt wird es als gute Abschreckung angesehen. An vielen Grenzen weltweit wird Gewalt angewendet. Wir sind bereit, dabei Verluste hinzunehmen. Wenn es für Asylsuchende eine Fähre zwischen der Türkei und Lesbos gäbe, würde dort niemand sterben. Wenn wir den Hunderttausenden syrischen Flüchtlingen der vergangenen drei Jahren ein Visum für 200 Euro angeboten hätten, hätten die meisten bezahlt und den europäischen Staaten damit Millionen Euro eingebracht. Und die Flüchtlinge hätten Schutz bekommen. Stattdessen nehmen wir es hin, dass Schleuser sie herbringen und Menschen ihr Leben verlieren.

Ist es eine Lösung, Flüchtlingslager außerhalb von Europa zu schaffen, etwa in Nordafrika?
Wenn Flüchtlinge dort wirklich beschützt werden, ist das eine gute Sache. Wenn sie aber eher wie ein Gefangenenlager sind, das die Abschiebung zurück nach Hause oder in ein anderes Land vorbereitet, sind sie Teil des Problems, nicht der Lösung. Weder Flüchtlinge noch Migranten werden sich einsperren lassen. Wer seine Familie vor Gewalt oder Armut schützen will, der überwindet die meisten Hindernisse. 

Die Motive von Flüchtlingen und Arbeitsmigranten scheinen sich zu vermischen. Müssen wir die Unterscheidung zwischen beiden Gruppen überdenken? Nein. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und das Protokoll von 1967 bieten einen guten Schutzmechanismus insbesondere für Flüchtlinge, trotz aller Mängel. Würden wir die Konvention neu aushandeln, dann würden die Staaten sich auf ein niedrigeres Schutzniveau einigen. Allerdings: Die Menschenrechte schützen alle, auch Flüchtlinge – und oft besser als die Flüchtlingskonvention. Laut der sollen Flüchtlinge zum Beispiel wie Staatsangehörige Zugang zu Grundschulen haben, aber das gilt nicht für weiterführende Schulen. Dagegen hat unter der UN-Kinderrechtskonvention jedes Kind das Recht auf Bildung; in manchen Ländern gilt das bis zum 16. oder 18. Lebensjahr.

Die Genfer Konvention definiert Flüchtlinge als Personen, die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe verfolgt werden. Fallen darunter alle Zivilisten, die vor Krieg fliehen?
Im Krieg gehört jeder für irgendwen zur falschen Gruppe, deshalb fliehen die Menschen. Das ist die weite Auslegung, die Kanada und sehr häufig auch die USA vertreten haben. In Europa wurde das eher eingeschränkt gedeutet. In Deutschland und Frankreich galten Zivilisten in einem Bürgerkrieg nicht als Verfolgte. Das hat sich nach Prozessen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geändert. Es ist nun allgemein anerkannt, dass die breite Auslegung dem Schutzzweck der Konvention besser entspricht.

Europäische Politiker argumentieren, dass Flüchtlinge aus Syrien in Jordanien oder der Türkei sicher sind und deshalb, wenn sie nach Europa kommen, Wirtschaftsmigranten sind.
Was heißt „sicher” in einem Land, in dem du die Sprache nicht sprichst, keinen Zugang zum Arbeitsmarkt hast und deine Kinder nicht zur Schule gehen können? Wie können sie sich und ihren Kindern eine Zukunft sichern? 

Das gilt auch für viele Menschen außerhalb von Kriegen. Macht es Syrer, die aus der Türkei zu uns kommen, zu Flüchtlingen?
Sie sind immer noch syrische Flüchtlinge – ob in der Türkei oder in Deutschland. Man kann sie nur in die Türkei zurückschicken, wenn die sie wieder aufnimmt, was selten passiert. Und die Türkei hat 1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, ohne die internationale Gemeinschaft um Unterstützung zu bitten. Sie hat hier mit wenig Mitteln viel mehr getan als die meisten europäischen Länder. Außerdem wären die Kosten, um Hunderttausende Migranten zurückzusenden, kaum bezahlbar und es wäre ein logistischer Albtraum. Praktisch ist das keine Option.

Wie würden menschlichere und sinnvollere Regeln aussehen?
Für Flüchtlinge brauchen wir Umsiedlungen: Gemeinsam mit dem UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR wird festgestellt, wo Menschen nicht bleiben können. In Syrien wurden zum Beispiel sieben oder acht Millionen Menschen im eigenen Land oder in die Nachbarländer vertrieben. Insgesamt fast vier Millionen Syrer sind in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien. Das wissen wir schon seit fast fünf Jahren. Aber Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland haben wenig unternommen. Also dachten die Syrer irgendwann: Wenn uns niemand hilft, finden wir eben unseren eigenen Weg. Stattdessen könnte Europa anbieten, über sechs Jahre jährlich eine halbe Million syrische Flüchtlinge aus den Transitländern aufzunehmen. Das hört sich viel an, ist es aber nicht, wenn man die Zahl durch 28 europäische Länder mit 500 Millionen Einwohnern teilt. Für Deutschland wären das 80.000 Flüchtlinge pro Jahr, für die Schweiz 7000. Das könnten diese Länder leicht bewältigen. Für die Bootsflüchtlinge aus Vietnam haben wir es in den 1980er Jahren so gemacht. Wenn das Programm vorher angekündigt wird, werden viele Flüchtlinge nicht länger 25.000 Euro an Schleuser zahlen und ihr Leben sowie das ihrer Kinder aufs Spiel setzen. Europa könnte ihnen Visa ausstellen und Sicherheitschecks über mehrere Monate in der Türkei, Jordanien oder im Libanon durchführen statt wie jetzt an einem überfüllten Strand in Griechenland. 

Aber die Europäische Union (EU) scheint unfähig, sich darauf zu einigen. Sind nationale Maßnahmen die einzige verbleibende Möglichkeit?
Das ist in der Tat ein Problem. Mit solchen Maßnahmen kann man den Zustrom eine Weile verringern, aber es werden weiter Menschen kommen. Wenn das Leben im Herkunftsland derart schlecht ist, scheint alles, was auf dem Weg nach Europa oder in die USA passieren kann, besser. Die Flüchtlingskrise in Europa ist keine der Kapazität, sondern der politischen Führung. Deutschland und Schweden haben einen Weg gewiesen, doch leider ist ihnen niemand gefolgt. Jetzt sind beide überfordert und die anderen Länder leisten ihren Anteil nicht. Das Führungsversagen in Europa ist absolut katastrophal. Politiker ohne langfristige Vision sorgen sich nur um die nächsten Wahlen, und nationalistische und populistische Bewegungen treiben eine Anti-Einwanderungspolitik voran. Die ist in der Tat eine Form der Abschreckung: Es werden weniger Migranten in ein Land kommen, das ihre Rechte verletzt – sie werden sich andere Länder aussuchen. Ich will keine Untergangsstimmung verbreiten, aber da es keinen gemeinsamen Willen in Europa gibt, wird man künftig mehr nationalistische Wahlsiege, mehr Schleuserringe und mehr Tote im Mittelmeer erleben.

Macht es den Umgang mit Flüchtlingen schwieriger, dass gleichzeitig Arbeitsmigranten nach Europa kommen?
Europa braucht Migranten. Im April 2015 haben die Volkswagen- und die Siemens-Stiftung gefunden, dass Deutschland schnellstens Hunderttausende Migranten braucht, um den Fachkräftemangel zu beheben. Das hat Angela Merkels Entscheidung beeinflusst.

In Südeuropa herrscht aber hohe Arbeitslosigkeit.
Auf dem formalen Arbeitsmarkt. Daneben haben wir im globalen Norden Untergrund-Arbeitsmärkte akzeptiert, besonders in Wirtschaftszweigen mit niedrigen Gewinnraten: Landwirtschaft, Bauwesen, Gastgewerbe und Pflege. Auf den Tomatenfeldern in Süditalien zum Beispiel sind alle Arbeiter Migranten. Sie kommen, weil Tausende Arbeitgeber Schwarzarbeiter suchen, die sie ausbeuten können. Die Tomatenpflücker bekommen 20 Euro für einen Zehn-Stunden-Tag und haben keine Sozialversicherung. Aber von diesen 20 Euro können sie zwei oder drei an ihre Familien zu Hause schicken. Dafür akzeptieren sie die Bedingungen. Solange der Preis für Tomaten zu niedrig ist, um den Pflückern menschenwürdige Löhne zu zahlen, müssen wir akzeptieren, dass es dort illegale Migranten gibt. 

Wie könnte man Arbeitsmigration besser regeln?
Indem man den illegalen Arbeitsmarkt beseitigt und jedem erlaubt zu kommen, um Arbeit zu suchen. Wer eine Stelle findet, wird offiziell angestellt und erhält eine Arbeitserlaubnis. Wer nichts findet, wird woanders hingehen. Migranten gehen nirgends hin, wo es keine Arbeitsplätze gibt. Ich spreche hier nicht von ungeprüften utopischen Modellen: In den 1950er und 1960er Jahren ist Europa genauso verfahren. Damals kamen Millionen von Nordafrikanern und Türken, alle mit Papieren. Sie suchten einen Job, und wenn sie einen gefunden hatten, änderten sie ihr Visum in eine Arbeitserlaubnis. Das ist ein viel effizienteres System als das, was wir jetzt haben.

Wird dadurch die Zuwanderung nicht noch steigen?
Nur am Anfang, langfristig jedoch nicht. Man kann intelligente Visa für Menschen auf Arbeitssuche entwickeln. Man lässt sie zum Beispiel über fünf Jahre für drei Monate pro Jahr nach Europa. Wenn sie keinen Job finden, ziehen sie entweder weiter oder gehen zurück nach Hause – sonst können sie nicht legal wiederkommen. Ähnlich war es jahrzehntelang zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten: Wenn es Arbeitsplätze in den USA gab, kamen Mexikaner; in einer Rezession gingen sie nach Hause zurück. Nur wenn man an der Grenze Barrieren baut, bleiben Menschen auch während einer Krise aus Angst, später nicht wieder zurückkehren zu können.

Müsste man auch Arbeitgeber, die Menschen schwarz beschäftigen, strenger kontrollieren und bestrafen?
Ja. Leider will kein Politiker Schaden in den Wirtschaftssektoren anrichten, die auf Migranten angewiesen sind. Die Richtlinie über Arbeitgebersanktionen wird in keinem EU-Land angewendet. Wenn sich Migranten beschweren, ruft der Arbeitgeber die Migrationsbehörde an, und sie werden ausgewiesen. Deshalb sollte die Arbeitsaufsicht nichts mit der Einwanderungskontrolle zu tun haben. Statt die Ausbeutung illegaler Migranten zu akzeptieren, müssen wir ernsthaft darüber reden, wie wir Wirtschaftszweige mit niedrigen Gewinnmargen stützen können, damit sie auch ohne Ausbeutung wettbewerbsfähig werden. Wir subventionieren die Luftfahrt oder die Pharmakologie, aber nicht Branchen, in denen Menschen ausgebeutet werden. Der Grund ist: Migranten beschweren sich nicht. Sie haben Angst, in die Heimat zurückgeschickt zu werden.

Ist das Grundproblem, dass Migranten im Gastland keine politischen Rechte haben?
Auf lange Sicht ist es das größte Problem, dass Migranten keine Stimme auf der politischen Bühne haben. Die meisten benachteiligten Gruppen haben ihre Rechte dank ihrer politischen Stimme erkämpft. Frauen haben ihr Stimmrecht durchgesetzt und es dann genutzt, damit diskriminierende Gesetze geändert wurden. Auf lange Sicht müssen wir die Verknüpfung zwischen Staatsbürgerschaft und Wahlrecht überdenken und Stimmrechte mit dem Aufenthaltsort verknüpfen. In Europa wollte man Migranten  ein Stimmrecht auf kommunaler Ebene geben. Das liegt derzeit auf Eis. Aber es ist der Weg der Zukunft.

Das Gespräch führte Bernd Ludermann.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2016: Flucht und Migration: Dahin, wo es besser ist
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