Deutschland Anfang 2016 ist in drei Lager geteilt: die Optimisten, die Hasserfüllten und die Skeptiker. Wochenlang war über die ersten beiden Gruppen geschrieben, über ein helles und ein dunkles Deutschland sinniert worden. Inzwischen ist klar, dass es dazwischen noch eine Gruppe gibt: jene, die nie zu einer Pegida-Demonstration gehen würden, sich aber sorgen, dass Angela Merkel sich verhoben hat. Wir schaffen das! Schaffen wir das wirklich?
Nach dem Sommer der Hilfsbereitschaft befindet sich das Land im Gefühlskater. Die Jubelrufe an den Bahnhöfen sind verhallt. Dort warten inzwischen mehr und mehr Bundespolizisten auf die Geflüchteten. Der Stimmungsumschwung hat auch mit der paternalistischen Haltung zu tun, die in der Helferstimmung lag. Wer viel erwartet und enttäuscht wird, verbittert irgendwann. Wie die Migrationsströme steuern und die Außengrenzen schützen – das sind die Fragen, die jetzt bewegen. Kein Wunder. Wo von „Strömen“ geredet wird, ist ein Denken in Begriffen wie „Eindämmen“ nicht weit. Und die Flüchtlingslager brennen wieder, in steigender Zahl. Erinnerungen an die 1990er Jahre werden wach.
Inzwischen hat auch das Thema „unsere Werte“ wieder Hochkonjunktur. Ich frage mich, von welchen Werten genau, von welchem „uns“ gesprochen wird. Die Sorge um „unsere Werte“ ist für mich Ausdruck eines Hilferufs in einer komplexer werdenden Welt – ob es nun darum geht, sich mit der Fremdheit der Geflüchteten oder mit vermeintlichen Parallelgesellschaften auseinanderzusetzen oder seit der Silvesternacht von Köln patriarchalische Frauenbilder abzuwehren. Persönlich ist mein wichtigster Wert die Freiheit. Im Extremfall verstoßen Extremisten dagegen – im Alltag mein Gegenüber durch rassistisches Verhalten oder Denken, etwa durch die pauschale Be- oder Verurteilung bestimmter Gruppen. Auch die Fähigkeit zu differenzieren ist ein wichtiger Wert. Er ist die Grundlage des Rechtsstaats.
Mein Wertekanon ist vielfältig
Viel wird derzeit über Integration geredet. Über die Idee der CSU zum Beispiel, die Flüchtlinge auf die „deutsche Leitkultur“ verpflichten will. Früher bezog sich diese Debatte hauptsächlich auf Zuwanderer und ihre Nachkommen, etwa aus der Türkei oder Italien, auf die sogenannten Gastarbeiter. Jetzt geht es um die Neuankömmlinge aus Syrien, Afghanistan oder um die Eritreer der nächsten Generation. Der Tenor ist gleich geblieben. Wer will und Deutsch lernt, wer sich anstrengt und anpasst, soll eine faire Chance in Deutschland bekommen. Oder besser gesagt: kann dafür kämpfen, eine solche Chance zu bekommen. Denn genau das bedeutet es für viele Einwandererkinder.
Viele von ihnen leben eine „hybride Kultur“, wie es in der Sozialwissenschaft heißt: Sie fühlen sich mehreren kulturellen Räumen zugehörig. Und sie zählen zu einer Generation, die sich selbstbestimmte Namen gibt. Sie sind die Schwarzen, die Neuen Deutschen, die People of Colour Generation, und sie fordern Verständnis dafür, dass noch nie alle Deutschen weiß waren und dass „unsere Werte“ neu überdacht werden müssen. Auch mein Werteverständnis wurde geprägt von der Erziehung einer christlich-deutschen Mutter und eines muslimisch-ghanaischen Vaters. Mein Wertekanon ist vielfältig. Das ist ein Gewinn. Ihn anderen zu vermitteln, kostet allerdings nicht selten Kraft.
Nicht ohne Grund haben sich deshalb die Kinder meiner Generation zusammengetan. Sie schreiben, performen oder bloggen über unser gesellschaftliches Verständnis, um unseren Wertevorstellungen in „unserer“ Gesellschaft Ausdruck zu verleihen. Es geht um die Kopftuch-Frage, um das vermeintliche Integrationsdefizit, die Nationalhymne bei der WM nicht mitzusingen, um rassistische Wörter in Kinderbüchern, diskriminierende Polizeikontrollen oder die Frage nach den Grenzen von Satire. Diese Kinder „mit Migrationshintergrund“, die nicht länger so genannt werden wollen, verhandeln jetzt mit. Sie sind Deutschlands Kinder und Zukunft: aufgewachsen mit oder ohne deutschen Pass, als binationale und „Optionskinder“, die sich mit spätestens 23 Jahren für oder gegen die deutsche Staatsbürgerschaft entscheiden müssen, als Langzeitgeduldete oder irgendwann als die Nachkommen der jetzt neu dazukommenden Geflüchteten. Kein Wunder, dass diejenigen, die die Political Correctness hassen oder für die der Verlust deutscher Werte kein Ende zu nehmen scheint, sich in die Enge gedrängt fühlen.
Integration bedeutet, Absolutheitsansprüche aufzugeben
Es ist Zeit, anzuerkennen, dass „wir“ noch um einiges heterogener in Deutschland sind, als vielen bewusst ist. Wir sind religiös und atheistisch. Wir sind arm und reich, ohne Schulabschluss oder mit Hochschulbildung. Wir sind deutsch – mit und ohne Zuwanderungsgeschichte. Wir sind Ausländer. Wir entsprechen körperlich oder geistig der gesellschaftlichen Norm oder nicht. Wir leben heterosexuell und gleichgeschlechtlich, leben zweigeschlechtlich oder transsexuell. All das sind wir. Wir sind nicht einheitlich, wir leben verschiedene Leben in unterschiedlichen Milieus – in vielen Parallelgesellschaften.
Für mich ist deshalb die Grundlage der Integration die Pluralität. Integration ist nicht nur ein Vorgang, bei dem die Neuen zu den Alteingesessenen hinzukommen. Integration bedeutet, Absolutheitsansprüche aufzugeben, für alle gesellschaftlichen Gruppen. Drehen wir die Perspektive um: Was muss eine Gesellschaft leisten, um integrieren zu können? Sie muss verstehen, dass sich dazu alle Seiten anstrengen müssen. Dass es Engagement und Bereitschaft braucht, Menschen offen zu begegnen, ihre Geschichten zu akzeptieren und dabei die eigene nicht zu vergessen.
Autorin
Hadija Haruna-Oelker
Jahrgang 1980, lebt und arbeitet als Autorin, Redakteurin und Moderatorin in Frankfurt am Main. Ihre Schwerpunkte sind Jugend und Soziales, Migration und Rassismusforschung.Dazu muss eine integrierende Gesellschaft bereit sein, sich von Idealvorstellungen zu verabschieden und „die Widersprüche der Wirklichkeit auszuhalten und mit dem eigenen Unvermögen konfrontiert zu bleiben“, wie Bundespräsident Gustav Heinemann das Grundproblem „der Deutschen“ einst beschrieb. Das auszuhandeln, geht nicht ohne Konflikte und Frustrationen. Doch haben wir jahrelange Erfahrung mit Zuwanderung gemacht.
So braucht unsere Gesellschaft auch den Glauben an ihre eigene Kraft und den Mut, Fehler zu machen. Es braucht mehr Empathie und muss nicht immer gleich alles glatt laufen. Oder wie die Journalistin Dunja Hayali es in ihrer Dankesrede bei der Verleihung der Goldenen Kamera in der Kategorie „Beste Information“ Anfang Februar ausdrückte: „Wahrheit braucht einfach Zeit.“ Wie sinnvoll wäre es, endlich an gemeinsamen Werten zu arbeiten und sich dabei zu fragen, in welcher Welt wir gemeinsam in Deutschland leben wollen. Beginnen wir mit dem Verbindenden – ohne Angst, denn die „fressen bekanntlich Seele auf“. Denn sollten die erstarkenden Ressentiments gegen muslimisches Leben weiter wachsen, dann wird uns das nachhaltig schaden. Dann hätten wir aus unserer Geschichte so gar nichts gelernt.
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