Nun warnen viele, der Alte Kontinent stehe im Brennpunkt eines Ansturms von Flüchtlingen und Armutsmigranten. Das ist einer von vielen verbreiteten Irrtümern über Migration.
Schlichte Rezepte haben Konjunktur: Populisten in Europa verlangen, die Landesgrenzen dicht zu machen. Manche Regierungen sprechen vornehmer von der Sicherung der Außengrenzen. Ergänzend oder als Alternative heißt es, man müsse den Migrationsdruck verringern. Dazu solle man in armen Ländern Entwicklung fördern, besonders in Afrika mit seiner jungen und stark wachsenden Bevölkerung, sagt etwa der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller. In der Debatte treten Annahmen über Migration zutage, die näherer Überprüfung nicht standhalten.
Kommen die meisten Flüchtlinge nach Europa?
Keineswegs. Richtig ist, dass mehr Menschen infolge von Kriegen von ihrem Wohnort vertrieben worden sind als je zuvor: Laut dem Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen hat die Zahl 2015 die Grenze von 60 Millionen überschritten. Schätzungsweise 38 Millionen leben aber weiter im eigenen Staat – also in Ländern wie Syrien, dem Südsudan und Zentralafrika, von denen die meisten arm sind, von Kämpfen zerrissen oder beides. Ins Ausland geflüchtet waren Mitte 2015 etwa 20 Millionen Menschen, manche bereits vor langer Zeit – so die Palästinenser, die im Zuge der Gründung Israels geflohen sind und mit ihren Nachkommen nun fünf Millionen zählen. Die meisten Flüchtlinge haben in Nachbarländern der Kriegsschauplätze Aufnahme gefunden. Die sind dadurch wesentlich mehr belastet als die Staaten Europas, zumal im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl und ihrem Wohlstand. Und ein Teil dieser Flüchtlinge zieht, da die Lebensverhältnisse im Gastland desolat sind, nach Europa weiter.
Suchen immer mehr Menschen ihr Glück in Auswanderung?
Nein. Zwar hat die Zahl der Migranten – definiert als Menschen, die mindestens ein Jahr außerhalb ihres Geburtslandes leben – laut Schätzungen der Vereinten Nationen zugenommen: Von etwa 92 Millionen 1960 auf 172 Millionen 2000 und 244 Millionen 2015. Flüchtlinge sind davon heute grob ein Zehntel. Es gehören auch im Ausland Studierende dazu oder Fachkräfte, die Konzerne ins Ausland schicken. Aber nicht nur die Zahl der Migranten wächst, sondern auch die Bevölkerung. Der Anteil der Migranten an der Weltbevölkerung liegt heute ungefähr so hoch wie 1960: bei 3,3 Prozent. Bis 1990 ist er leicht gesunken, dann wieder gestiegen. Ein Teil des Anstiegs hat nicht mit der Bewegung von Menschen über Grenzen zu tun, sondern mit der Schaffung neuer Grenzen: Die Aufteilung der UdSSR machte Sowjetbürger, die zum Beispiel in Kasachstan oder Litauen geboren waren und in Russland blieben, und umgekehrt Russen, die in den neuen Staaten blieben, zu Migranten. In geringerem Ausmaß geschah das Gleiche bei der Teilung Jugoslawiens und zuletzt des Sudan. Der Anteil der Weltbevölkerung, der sich ins Ausland aufmacht, ist überschaubar und wächst kaum.
Aber im Norden leben doch mehr Migranten als früher?
Das stimmt. Denn die Muster der weltweiten Wanderungsbewegungen haben sich verändert. Fünf große Trends hat das von Hein de Haas geleitete Projekt über Bestimmungsfaktoren der Migration an der Universität Oxford aufgezeigt: Erstens ist Westeuropa, von wo in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch viele nach Amerika oder Australien ausgewandert waren, nach dem Zweiten Weltkrieg zur Einwanderungsregion geworden. Im Zuge der Dekolonisierung kamen Menschen aus den früheren Kolonien in Nordafrika, Südasien und Indonesien in die „Mutterländer“ Frankreich, Großbritannien beziehungsweise Niederlande. Deutschland holte im Zuge des Wirtschaftswunders „Gastarbeiter“ aus Südeuropa und der Türkei. Auf den Fall des Eisernen Vorhangs folgte ab den 1990er Jahren eine starke Wanderung von Ost- nach Westeuropa.
Zweitens wandelte sich Lateinamerika von einer Einwanderungs- zu einer Abwanderungsregion. Ein Grund ist, dass der Subkontinent bis in die 1990er Jahre ökonomisch wieder gegenüber dem Norden zurückgefallen ist. Drittens blieben Nordamerika und Australien klassische Zuwanderungsregionen, doch die Migranten kommen nun aus Lateinamerika sowie aus Süd- und Südostasien. Viertens traten Länder wie die Philippinen, Marokko oder Indien als neue Quellen von Migranten auf. Und fünftens sind die reichen Ölstaaten am Persischen Golf seit den 1990er Jahren zu einem der größten Anziehungspunkte für Migranten geworden, vor allem aus Asien.
So kommen Migranten heute aus mehr Ländern des Südens als früher und gehen in weniger Aufnahmeländer, vorzugsweise reiche. Dort ist der Anteil von Migranten an der Bevölkerung höher als in armen und er steigt. Im Schnitt liegt der Anteil jetzt bei 13 Prozent mit großen Unterschieden von Land zu Land (siehe Grafik). Nach Europa kommen aus mehr Herkunftsregionen jeweils kleinere Gruppen.
Kommen vor allem die Armen zu uns?
Nein. Außer im Fall der früheren Kolonialmächte stammt die Mehrheit der Zugewanderten in Europa aus anderen Ländern dieses Kontinents. Und die Mehrheit der überregionalen Migranten weltweit kommt aus Ländern mit mittlerem Einkommen. Wie viele sich wo neu auf den Weg gemacht haben, hat das Wittgenstein Center in Wien aus Daten über den Bestand an Migranten in jedem Land errechnet. Danach ist seit 1990 die Abwanderung aus Afrika viel langsamer gewachsen als aus Südasien. In den fünf Jahren von 2005 bis 2010 haben Afrika rund 3,3 Millionen Migranten verlassen; aus Lateinamerika, wo halb so viele Menschen leben, waren es 5,4 Millionen und 8,5 Millionen aus Südasien, das anderthalb Mal so viele Einwohner hat wie Afrika. Die größten überregionalen Migrationsströme gehen heute von Südasien in die Golfstaaten und von Mittelamerika in die USA. Grob die Hälfte der Afrikaner, die ins Ausland gehen, bleibt auf dem Kontinent – viel mehr als bei Lateinamerika und Südasien.
Zudem kommen Migranten aus dem Süden in aller Regel nicht aus armen Schichten ihres Heimatlandes. Wer hungert oder im Elend lebt, hat kaum Chancen, nach Europa zu gelangen. In den Norden gehen die, die dazu die nötigen Mittel haben: Geld und eine gewisse Bildung. Wichtig ist auch ein Netzwerk von Landsleuten oder Verwandten im Zielland, das beim Start hilft. Viele Migranten gehen in Länder und Städte, wo bereits Landsleute sind.
Werden das Bevölkerungswachstum und Umweltkrisen mehr Süd-Nord-Wanderung bringen?
Nicht unbedingt. Experten rechnen damit, dass in Zukunft mehr Menschen infolge von Umweltkrisen ihre Lebensgrundlage verlieren. Ein großer Teil der Opfer dürfte jedoch im eigenen Land oder in Nachbarländern bleiben. Bei Naturkatastrophen ist das bisher die Regel – schon weil den Betroffenen die Mittel für den Weg in reiche Länder fehlen. Auch schleichende Katastrophen infolge des Klimawandels dürften in erster Linie Wanderung im Land oder der Region auslösen, etwa von Bangladesch nach Indien. Das Bevölkerungswachstum wiederum bestimmt, wie viele junge Menschen aus einem Gebiet abwandern können, aber es sagt allein nichts darüber, wo sie das tun. Entscheidend dafür sind politische Stabilität und wirtschaftliche und soziale Entwicklung. „Aus den Golfstaaten, wo die Bevölkerung stark wächst, wandert niemand ab, wohl aber aus Osteuropa, wo sie schrumpft“, sagt Hein de Haas, der nun Professor in Amsterdam ist.
Lässt sich Abwanderung mit Entwicklung bremsen?
Nur langfristig. Kurz- und mittelfristig kann man auf Fluchtursachen einwirken, indem man Kriege beendet und Geflohene unterstützt. Aber die Arbeitsmigration nimmt zunächst zu, wenn sich sehr arme Länder entwickeln: Auf dem Land werden Arbeitskräfte freigesetzt, die Verstädterung wird beschleunigt, die Gesellschaft mobiler. Menschen verlieren alte Lebensgrundlagen, haben aber neue Chancen, bessere zu finden. Mit der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur, dem Bildungsniveau und den Einkommen verbessern sich die Möglichkeiten, ins Ausland zu gehen oder einen Familienangehörigen zur Arbeit in den Norden zu schicken. Wenn später der Wohlstand weiter zunimmt, sinkt die Abwanderung wieder und wandelt sich in Zuwanderung. Diesen sogenannten Migrationsübergang haben Südeuropa und dann Osteuropa nach der Aufnahme in die Europäische Union durchlaufen und inzwischen auch die Türkei: Dort wandern nun mehr Menschen zu als ab, erklärt de Haas – Flüchtlinge nicht mitgerechnet.
Wenn Subsahara-Afrika sich schneller entwickelt, dürfte also die Abwanderung zunächst wachsen. Man muss aber deshalb keinen Ansturm auf Europa fürchten. Die Zuwanderung aus anderen Regionen dürfte sinken. „Vermutlich wird sich nicht die Zahl, sondern die Herkunft der Migranten in Westeuropa ändern: vielleicht weniger Türken und Osteuropäer und mehr Afrikaner“, sagt de Haas. Zudem dürften neue Länder zum Ziel von Migranten werden – etwa China, wenn es politisch und wirtschaftlich stabil bleibt. Schon heute gehen Migranten aus Asien und selbst Afrika dorthin.
Kann man Migration mit Grenzzäunen aufhalten?
Das können demokratische und wirtschaftlich offene Staaten nur sehr begrenzt. Zum einen wacht die Justiz über Schutzrechte von Flüchtlingen oder das Recht auf Familiennachzug. Zum anderen behindern Grenzkontrollen den Außenhandel, weshalb mächtige Lobby-Gruppen aus der Wirtschaft dagegen arbeiten. Das Ergebnis ist eine widersprüchliche Politik. Das von Hein de Haas geleitete Projekt hat statistisch untersucht, wie viele Änderungen von Zuwanderungsregeln in europäischen und anderen Zielländern liberal oder restriktiv waren. Ergebnis: Die Regeln für Einreise, Aufenthalt und Integration sind ständig gelockert worden – besonders für Studierende und qualifizierte Migranten. Gleichzeitig wurden die Grenzkontrollen verschärft, um unerwünschte Gäste auszufiltern. Seit den 1990er Jahren wurden zudem die Regeln für Ausweisungen schärfer.
Grenzkontrollen in Demokratien können Zuwanderung erschweren, aber nicht verhindern. Migranten finden dann andere Wege – notfalls mit Schleusern. Und der gegenwärtige Ansturm von Flüchtlingen lenkt davon ab, dass irreguläre Migranten meist legal einreisen: Laut einer Untersuchung der Internationalen Organisation für Migration von Mitte 2015 waren neun von zehn afrikanischen Migranten in Spanien mit Visum eingereist und dann abgetaucht – genauso wie Mitte der 1990er Jahre die große Mehrheit der „irregulären“ Mexikaner in den USA. Da sind Grenzkontrollen nutzlos. Sie können sogar kontraproduktiv sein: Wer befürchten muss, nach einer Ausreise nicht zurück zu dürfen, bleibt im Gastland und holt seine Familie nach, statt sie im Heimatland zu besuchen. Dieser Effekt hatten zum Beispiel der Anwerbestopp für türkische Gastarbeiter in Deutschland und die Befestigung der US-Grenze zu Mexiko. Grenzbarrieren sind oft, wie der Politologe Peter Andreas in den 1990er Jahren für die USA feststellte, innenpolitisches Theater: Sie besänftigen fremdenfeindliche Strömungen und nähren Schleuser, ohne die Zahl der Migranten erheblich zu verringern.
Soll man die Schleuser bekämpfen?
Das ist Unfug – selbst wenn man davon absieht, dass die meisten Migranten legal einreisen. Schleuser zu bekämpfen, macht informelle Einreisen schwieriger und teurer und damit das Schleusen lukrativer. Das wird aber Migranten nicht aufhalten, die längst sogar Lebensgefahr in Kauf nehmen, um ihre Chance im Norden zu suchen. Es ändert nichts an den Gründen der Arbeitsmigration – etwa der Nachfrage nach billiger Schwarzarbeit im Norden. Und erst recht ändert es nichts an Fluchtursachen. Wer sollte unter dem Bombardement in Aleppo ausharren, weil in der Ägäis Schleuser bekämpft werden?
Schrecken Einschränkungen der Sozialleistungen und des Asylrechts Migranten ab?
Das ist unwahrscheinlich. Ob Flüchtlinge zurückgehen, hängt davon ab, ob der Krieg in ihrer Heimat endet; so ist die Mehrheit der Bosnier, die nach Westeuropa geflohen waren, nach dem Frieden von Dayton 1995 zurückgekehrt. Aber Frieden ist in Syrien, dem Irak und Afghanistan nicht in Sicht, Flüchtlinge von dort können nicht zurück. Ihnen Hilfen zu kürzen und den Zugang zu Asyl zu erschweren, führt vor allem dazu, dass EU-Staaten um die schärfsten Regeln wetteifern und sich Flüchtlinge gegenseitig zuschieben. Auch gegen Migration hilft Knauserigkeit wenig. Migranten suchen sich ihre Ziele nach Jobchancen und den Netzwerken aus, auf die sie zurückgreifen können. Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass Sozialleistungen ein Kriterium sind, erklärt de Haas. Sonst würden nicht so viele in die USA und nach Großbritannien gehen, wo die Sozialsicherung schlecht ist.
Gefährdet zu viel Zuwanderung den sozialen Zusammenhalt und die Demokratie?
Die Frage ist offen. Die Antwort wird sich unter anderem daran ablesen lassen, ob der Aufschwung von Populismus und Fremdenfeindschaft anhält. Eine intelligente Verteidigung der These liefert der niederländische Soziologe und Journalist Paul Scheffer. Er betont, dass Migration einen doppelten Verlust bedeutet: Zuwanderer lassen ihre gewohnte Lebenswelt zurück und verändern unwiderruflich die der Eingesessenen. Man müsse nun neue staatsbürgerliche Gemeinschaften unter Einschluss der Zuwanderer aufbauen und die damit verbundenen Konflikte und kulturellen Spannungen austragen.
Doch kann das nur gelingen, wenn man die Zuwanderung bremst und Grenzen schließt? Dagegen spricht: Der Verlust an Gemeinsinn und demokratischer Mitbestimmung in Europa, den Scheffer beklagt, geht nicht in erster Linie auf Zuwanderung zurück. Größeren Einfluss haben Fehlentwicklungen wie wachsende soziale Ungleichheit, die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und die Privatisierung und Verödung öffentlicher Räume. Sie begünstigen auch irreguläre Zuwanderung und erschweren es, Migranten zu integrieren. Wer aber gegen diese Fehlentwicklungen angehen will, muss sich mit einflussreichen Teilen der eigenen Bevölkerung anlegen. Zäune zu bauen, erscheint erst einmal leichter.
Karikaturen: Wolfgang Ammer
ZUM WEITERLESEN
Mathias Czaika und Hein de Haas:
The Globalization of Migration: Has the World Become More Migratory?
International Migration Review vol. 28 no. 2 (2014)
Paul Scheffer:
Die Eingewanderten
Toleranz in einer grenzenlosen Welt.
Carl Hanser Verlag, München 2016 (Neuausgabe), 536 S., 22,90 Euro
UN-Daten zum Bestand an Migranten weltweit.
Daten des Wittgenstein Center über Wanderungsbewegungen.
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