Kampf um den „roten Korridor“

Seit Jahren versucht die indische Regierung den Aufstand maoistischer Rebellen im Osten des Subkontinents mit militärischer und paramilitärischer Gewalt niederzuschlagen. Bislang ohne Erfolg. Im Mai hat sie den Hindu-Mönch Swami Agnivesh als Vermittler für Friedensgespräche eingesetzt. Doch seit dem Tod des maoistischen Unterhändlers Chemkuri Rajkumar liegen die Verhandlungen auf Eis.

Von Santosh Kumar

Swami Agnivesh hat eine schwierige Aufgabe. Der 60-jährige Hindu-Mönch soll seit dem vergangenen Mai im Konflikt zwischen der indischen Zentralregierung und den maoistischen Rebellen im Land, den Naxaliten, vermitteln. Seine Kontaktaufnahme zur Führung der Maoisten verlief zunächst erfolgreich. Doch dann erlitten seine Bemühungen um Friedensgespräche einen herben Rückschlag: Der Unterhändler der Maoisten, Chemkuri Rajkumar, der am 1. Juli in Begleitung eines Journalisten zu seinen Genossen unterwegs war, um ihnen Agniveshs Friedensplan zu erläutern, wurde von Polizisten umgebracht. Die Polizei habe die beiden am Bahnhof von Nagpur festgenommen und verschleppt, berichtet Swami Agnivesh. „Sie ließ verlauten, der Maoisten-Chef hätte sie angegriffen und die Polizisten hätten ihn in Notwehr erschossen.“ Seitdem sind die Verhandlungen zum Stillstand gekommen.

Vieles deute darauf hin, dass dieses Feuergefecht inszeniert wurde, sagt Swami Agnivesh: „Der Autopsie-Bericht straft die Polizei Lügen. Darin steht, die tödliche Kugel sei aus nicht mehr als 7,5 cm Entfernung abgefeuert worden. Ist das während eines Schusswechsels möglich? Die indische Zentralregierung und die Polizei von Andhra Pradesh sind der Öffentlichkeit eine Erklärung schuldig.“ Doch beide verweigern sich bislang. Agnivesh, einer der wenigen Geistlichen in Indien, die offen auf der politischen Bühne agieren, will nun eine richterliche Untersuchung des Vorfalls erreichen.

Für Premierminister Manmohan Singh ist die maoistische Guerilla die „größte innenpolitische Bedrohung“. Im vergangenen Herbst hat die Regierung deshalb die Offensive „Operation Greenhunt“ gestartet. Tausende Polizisten, Paramilitärs und Bürgermilizen machen im zentralindischen Dschungel Jagd auf einige tausend bewaffnete Polit-Abenteurer, die sich nach einem Bauernaufstand „Naxaliten“ nennen: In dem kleinen Ort Naxalbari im Norden Bengalens organisierten Kommunisten 1967 einen Aufstand von Pächtern und Landlosen gegen die Feudalherren. Grundbesitzer wurden ermordet, ihr Land unter den Armen verteilt. Die Landesregierung schlug den Aufstand nieder. Die Kommunisten gingen in den Untergrund und träumten davon, nach dem Vorbild Mao Tse-tungs einen Bauernaufstand zu organisieren, der in einen gewaltsamen Umsturz der staatlichen Ordnung münden sollte. Während Tausende von Aktivisten und Sympathisanten verhaftet oder erschossen wurden, überlebten kleine maoistische Zellen im Untergrund. In den 1970er Jahren erstarkten sie im südindischen Staat Andhra Pradesh, verübten Anschläge auf Politiker und Sicherheitskräfte und zogen sich anschließend in dichte Wälder zurück. Im Jahr 2004 schlossen sich mehrere Splittergruppen zur „Communist Party of India (Maoist)“ zusammen.

Sie konnte ihren Einfluss rasch ausweiten und hält heute nach Geheimdienstberichten rund 20.000 Männer und Frauen unter Waffen. In den Wald- und Bergregionen des östlichen Indien, den ärmsten und am wenigsten entwickelten Regionen des Riesenlandes, haben sie einen „roten Korridor“ geschaffen, der von der Grenze zu Nepal bis ins südliche Andhra Pradesh reicht. In den Dörfern der dort lebenden Adivasi, der Nachkommen der indischen Urbevölkerung, finden sie Unterschlupf und Unterstützung.

Der zentralindische Unionsstaat Chattisgarh gilt ebenfalls als eine Hochburg der Maoisten. In den ausgedehnten Teakwäldern im südlichen Landesteil Bastar gibt es nur verstreut liegende Dörfer der Adivasi-Völker Gond, Madia, Koya und anderer. Doch in der Erde lagern wertvolle Bodenschätze, einige der ergiebigsten Eisenerzlager Indiens sowie Diamanten und Kohle.

Das Gebiet wurde jahrzehntelang von der Regierung vernachlässigt, es gibt kaum Schulen, Krankenhäuser, geschweige denn moderne Kommunikationsmittel. Der größte Teil der Bevölkerung ist bettelarm, unterernährt, kaum gebildet und häufig gezwungen, mit sklavenähnlicher Lohnarbeit ein Überleben zu sichern. Der Ruf der Maoisten nach „Befreiung“ trifft hier auf offene Ohren. Allerdings brauchten die linken Guerillas rund zwanzig Jahre, um mit erfolgreichen Kampagnen für höhere Löhne und für mehr Rechte zur Nutzung des Waldes das Vertrauen der Adivasi zu erringen.

Die Landesregierung von Chattisgarh, die von der konservativen Hindu-Partei BJP geführt wird, führt seit 2005 einen konzertierten Feldzug gegen die Naxaliten. Der Name der Kampagne, Salwa Judum, bedeutet Friedenskampagne in der Adivasi-Sprache Gondi. Die Polizei formt mithilfe junger Adivasi Söldnertruppen, die im Kampf gegen die Maoisten Dörfer durchsuchen, Verdächtige aufspüren, Furcht und Terror verbreiten und Dorfbewohner einschüchtern. Hunderttausende Adivasi wurden aus ihren Dörfern vertrieben und in bewachten Lagern am Rand der wenigen Straßen eingepfercht.

Ein 2006 erlassenes Sicherheitsgesetz soll helfen, den Gewaltkonflikt zwischen Maoisten und Sicherheitskräften zu verschleiern. Laut dem Gesetz drohen Kritikern und kritischen Journalisten Haftstrafen bis zu sechs Jahren, wenn sie die militärischen Aktionen der Regierung kritisieren oder Kontakt zu den Maoisten aufnehmen.

Beide Seiten sparen nicht mit Grausamkeiten. Maoisten überfielen am 6. April dieses Jahres im Distrikt Bastar einen Suchtrupp und ermordeten 76 Paramilitärs. Am 17. Mai sprengten sie ebenfalls in Bastar einen Überlandbus in die Luft. Neben 11 Paramilitärs starben auch 25 Zivilisten. Beide Attentate riefen heftige Proteste hervor, auch aus den Reihen der Zivilgesellschaft. „Anfang Mai veranstalteten wir dort, im Kernland des Maoistenaufstandes, einen Friedensmarsch“, berichtet der Friedensaktivist Swami Agnivesh, der auch Träger des Alternativen Nobelpreises ist. „Dieser Marsch richtete sich gegen die Gewalttaten der Maoisten. Aber wir verurteilten auch die Gewalt, die der Staat durch seine Operation Green Hunt sät. Wir forderten beide Seiten auf, die Gewalt einzustellen. Gewalt gebiert nur weitere Gewalt.“

Das drakonische, von indischen Menschenrechtlern heftig kritisierte Sicherheitsgesetz führt dazu, dass unabhängige Berichterstatter nur selten die Kampfzone von Bastar besuchen. Für ausländische Korrespondenten ist sie tabu. Die renommierte Schriftstellerin Arundhati Roy hat aber Anfang dieses Jahres auf Schleichwegen die Dschungelcamps der Maoisten besucht und anschließend einen langen Essay veröffentlicht. Darin schildert sie zahlreiche Begegnungen mit Guerillas, etwa mit den drei Schwestern Sukhiari, Sukdai und Sukkali aus dem Narayanpur-Distrikt. Seit zwölf Jahren sind sie Mitglieder der maoistischen Frauenorganisation, der Krantikari Adivasi Mahila Sangathan, die ungefähr 90.000 Mitglieder zählt. Die Dorfbewohner verlassen sich auf sie, wenn sie es mit der Polizei zu tun haben. „Die Polizei kommt in Gruppen von zwei- bis dreihundert Mann. Sie stehlen alles, Schmuck, Hühnchen, Schweine, Töpfe und Pfannen, Pfeile und Bogen“, sagt Sukkali, „sie lassen uns nicht mal ein Messer!“

Ihr Haus im Dorf Innar ist schon zweimal ausgebrannt worden, einmal vom Naga-Battallion, einer Kampfeinheit, die aus Angehörigen des Naga-Volkes im indischen Nordosten rekrutiert ist, dann von den Paramilitärs der Central Reserve Police Force (CRPF). Sukhiari ist verhaftet worden und hat sieben Monate in Jagdalpur im Gefängnis gesessen. „Einmal haben sie das ganze Dorf mitgenommen mit der Behauptung, alle unsere Männer seien Naxaliten.“ Sukhiari folgte ihnen zusammen mit den Frauen und Kindern des Dorfes. Sie umzingelten die Polizeistation und blieben so lange, bis die Männer freigelassen wurden.

In diesem schmutzigen Krieg bringt die Zivilbevölkerung die meisten Opfer. Bis vor kurzem lebten die Stammesangehörigen nach den uralten Regeln ihrer Vorfahren, isoliert im dichten Dschungel, von staatlicher Verwaltung und der technischen Moderne weitgehend unberührt. Heute sind viele ihrer Dörfer verlassen oder niedergebrannt. Die Menschen hausen in schmutzigen Lagern zusammengepfercht, unter Polizeischutz, aber ohne Einkommen und ohne Zukunft.

Und ein Ende der Gewalt ist nicht abzusehen. Der Einsatz moderner Technik und hunderttausender Sicherheitskräfte hat bislang noch keine nennenswerten Erfolge gebracht. „Bisher musste die Regierung einen Rückschlag nach dem anderen einstecken“, bilanziert Swami Agnivesh. „Immer mehr Sicherheitskräfte kommen ums Leben. Die Maoisten aber verstecken sich in unwegsamen Bergregionen und verüben Attentate auf Guerilla-Art. Sie leben unerkannt im Untergrund. Man kann niemandem am Gesicht ablesen, ob er Maoist ist oder nicht. Keine Seite kann diesen Konflikt für sich entscheiden.“

Auch in Neu-Delhi glaubt kaum jemand, der Konflikt könne mit militärischen Mitteln allein gewonnen werden. Die Regierung will daher in den von Maoisten „infizierten“ Gebieten verstärkte Anstrengungen zur Entwicklung unternehmen – Straßen, Schulen und Krankenhäuser bauen, die Menschen in Arbeit bringen und Sozialprogramme umsetzen. So könnten die Entfremdung der Bürger vom Staat gemildert und die Menschen zur Zusammenarbeit mit den Behörden motiviert werden, hofft man. Doch mehr Geld und neue Projekte allein werden nicht reichen. Die Maoisten sprengen zum Beispiel immer wieder Schulen in die Luft, nicht weil sie die Bildung der Bevölkerung verhindern wollen, sondern weil paramilitärische Einheiten Schulgebäude gerne als Unterkünfte requirieren.

„Die Regierung steckt in einer Zwickmühle“, erklärt Swami Agnivesh. Ihre Strategie, die Berggebiete zu entwickeln, sei gescheitert. Mit der Vergabe von Bergbaulizenzen habe man zahlungskräftige Konzerne anlocken wollen, die für die nötige Entwicklung sorgen. Aber bis heute gebe es dort keine nennenswerte Infrastruktur. Agnivesh: „Die Menschen leiden natürlich darunter und schließen sich den Maoisten an. Die Regierung muss diese Gebiete also wirtschaftlich entwickeln, aber das ist ohne einen Frieden mit der Guerilla nicht möglich. Und einen solchen Frieden wird es nur über Verhandlungen geben.“

Während die Regierung darauf besteht, dass die Maoisten der Gewalt abschwören und mindestens 72 Stunden lang ihre Waffen ruhen lassen, bevor Gespräche beginnen können, machen die Kommunisten eine richterliche Untersuchung des Todes von Chemkuri Rajkumar zur Vorbedingung. Swami Agnivesh will den Fall nun vor das oberste Gericht des Landes bringen: „Wir werden nicht länger auf die Regierung warten, sondern selbst das Gericht anrufen.“ Vom Erfolg seiner Strategie ist er überzeugt. „Falls das Gericht eine Untersuchung anordnet, werden die Maoisten zu Gesprächen zur Verfügung stehen, das hat mir einer ihrer Führer versichert“, unterstreicht der Hindu-Mönch.

Santosh Kumar ist freier Journalist in Indien und schreibt auch für ausländische Medien.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2010: Arabische Welt: Umworben und umkämpft
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