"Wichtig ist, was nicht passiert"

Datenvisualisierung
Der Ökonom Max Roser dokumentiert den Wandel der Welt mit Zahlen und Statistiken. Im Interview erklärt er, warum ihn der Blick in die Vergangenheit optimistisch stimmt und wieso wir mehr auf Grafiken als auf Geschichten hören sollten.

In New York geht es diese Woche um neue Entwicklungsziele für die kommenden 15 Jahre. Mit Ihrem Projekt „Our World in Data“ schauen Sie teils auf viel langfristigere Veränderungen. Welche Perspektive ergibt sich, wenn man den Blick weitet? 
Wir unterschätzen oft, wie grausam, elend und ungesund das Leben in der Vergangenheit war. Und wenn man sich dessen nicht bewusst ist, dann sieht man auch nicht, wo sich die Welt hinbewegt und wie die langfristigen Trends verlaufen. Natürlich ist nicht alles wunderbar in Ordnung und es gibt keinen Grund, sich selbstgefällig auf die Schulter zu klopfen. Aber es ist wichtig zu sehen, wo wir herkommen – und die Richtung der Veränderung zu kennen.

Und die zeigt immer bergauf?
Nicht in allen Bereichen. Aber grundsätzlich ja.

Aber was sagt uns, dass es auch so weiter geht?
Da gibt es keinen Automatismus. Die Veränderungen, die das Leben angenehmer und länger gemacht haben, sind historisch innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums passiert. Davor hat sich über Jahrtrausende hinweg wenig getan. Man kann also nicht annehmen, dass sich die positive Entwicklung einfach weiterdreht. Aber in einigen Punkten bin ich optimistisch, zum Beispiel was die Bildung von jungen Leuten rund um die Welt angeht. Die Rate der Analphabeten ist überall gesunken und die Bildung hat sich etwa in vielen Regionen Afrikas und im Nahen Osten verbessert. Wenn diese junge Generation die Dinge in die Hand nimmt, bin ich optimistisch.

Aber vieles geht doch zu langsam, beispielsweise die Hungerbekämpfung. Oder ergibt sich diese Wahrnehmung, weil sehr ehrgeizige Ziele gesetzt werden, die innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeit erreicht werden sollen, etwa den Hunger und die Armut bis 2030 zu beseitigen?
Das war auch schon bei den Millenniumszielen so. Es gab sehr überzeugende Fortschritte, beispielsweise im Gesundheitsbereich. Aber es gab auch sehr ambitionierte Ziele, die nicht erreicht wurden und deshalb als Niederlage angesehen werden. Die negativen Ergebnisse wiegen in der Wahrnehmung dann oft stärker. Das zweite Millenniumsziel war Grundschuldbildung für alle Kinder weltweit. Länder wie Deutschland haben dafür mehrere Jahrzehnte gebraucht. Dass dieses Ziel nicht überall innerhalb von fünfzehn Jahren erreicht wurde, ist wenig überraschend. Wir sollten das aber nicht nur als Niederlage sehen – sondern anerkennen, dass mehr Kinder denn je in die Schule gehen und die junge Generation rund um die Erde sehr viel besser gebildet ist als die ältere.

Stellen die Entwicklungsorganisationen die Situation zu negativ dar?
Es wäre sicher sinnvoll, die Erfolge stärker zu betonen. Weil sie zeigen, dass die Arbeit Früchte trägt. Zum Beispiel in Afrika. Dort geht es in vielen Ländern voran, die Wirtschaft wächst, die Gesundheitsversorgung wird besser. Wenn nur die negativen Aspekte im Vordergrund stehen, ist es leicht, zynisch zu werden und zu sagen, das bringt eh alles nichts.  

Also mehr Erfolgsgeschichten erzählen?
Der Punkt ist gerade, dass man keine Storys erzählen, sondern statistische Daten abbilden sollte. Auch im Journalismus liegt der Fokus zu sehr auf einzelnen Personen. Aber diese Geschichten helfen nicht zu verstehen, wie sich die Welt verändert. Wenn man Menschen fragt, ob die Gewalt in ihrer Nachbarschaft abnimmt, sagen fast alle, es sei in diesem Jahr schlimmer als im Vorjahr. Aber in vielen entwickelten Ländern sinkt die Zahl der Morde und Gewalttaten seit Jahren. Das zeigt, dass wir als intuitive Statistiker oft daneben liegen. Und wenn es uns schon nicht gelingt, die Realität in unserer Nachbarschaft zu erfassen, dann ist es erst recht schwer, eine Idee davon zu bekommen, wie sich ein weit entferntes Land verändert.

Aber kann man mit bloßen Zahlen gegen die Flut der Bilder von Krieg, Armut und Flucht ankommen, die oft eine ganz andere Sprache sprechen? Sind das nicht die viel stärkeren Eindrücke?
Das stimmt wohl. Aber deshalb brauchen wir ja die Statistiken, um ein umfassenderes Bild gesellschaftlicher Veränderung zu bekommen. Oft sind die größten Fortschritte gerade dann erreicht, wenn etwas nicht passiert: wenn es keinen Mord oder keine Hungersnot gibt, Kinder nicht an Malaria sterben. Statistiken können das sichtbar machen. Deshalb müssen wir die vorhandenen Daten möglichst verständlich darstellen. 

Gerade bei Grafiken und Statistiken ist doch die Gefahr groß, dass Dinge verzerrt oder vereinfacht dargestellt werden.
Natürlich haben Statistiken Grenzen. Und ich beschreibe bei meinem Projekt bei jedem Thema, wie verlässlich die empirischen Daten sind. Aber die Veränderungen sind in vielen Bereichen sehr viel größer als die Unsicherheit, mit der die Daten behaftet sind. 

Auf welcher Datengrundlage beschreiben Sie denn Entwicklungen, die weiter als 50 Jahre zurückgehen?
Bis in die 1960er-Jahre zurück gibt es viele Statistiken der Organisationen der Vereinten Nationen oder der Weltbank. Für alles, was davor passiert ist, bediene ich mich vor allem aus dem weiten Feld der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Da gibt es Erkenntnisse zur Nahrungsversorgung oder den Todesursachen in früheren Zeiten. Aufgrund dieser historischen Quellen kann man ein Bild von der damaligen Lebenssituation gewinnen.  

Der deutsche Ökonom Max Roser arbeitet an der Universität Oxford am Institute of New Economic Thinking. Mit seinem Projekt „Our world in Data“ versucht er, langfristige Entwicklungen mit Datenvisualisierungen abzubilden.

Das Gespräch führte Sebastian Drescher.

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