„Der Regierung auf die Finger schauen“

Gespräch mit Peter Niggli
Nach 17 Jahren an der Spitze von Alliance Sud, der Arbeitsgemeinschaft der sechs großen Schweizer Hilfswerke, geht Peter Niggli in den Ruhestand. Der Journalist, Lokalpolitiker und Globalisierungskritiker erzählt von politischen Kämpfen und wirft einen kritischen Blick auf Gegenwart und Zukunft der Entwicklungshilfe. Er beklagt das Schwinden der Solidarität mit den Armen.

Herr Niggli, lassen Sie uns einen Blick zurück werfen auf Ihre Anfänge bei Alliance Sud.
Im Sommer 1998 war gerade der russische Kapitalmarkt zusammengebrochen, ein großer amerikanischer Hedge Fonds geplatzt. Es war das Ende der asiatischen Finanzkrise. Ein heißer Moment, in dem alle Zentralbanken nochmals viel Geld einschießen mussten, damit es nicht zum Kollaps kam. Aus der angelsächsischen Welt kam die erste breit abgestützte Globalisierungskritik. Ende 1999 war die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO in Seattle, bei der der Westen seine zweite Liberalisierungswelle durchsetzen wollte. Meine erste Aufgabe war es, unsere Position und unser Engagement zu definieren.

War Alliance Sud dafür gerüstet?
Die Verhandlungen in der WTO zwan­­gen uns zu überlegen, wie wir die Globalisierung analysieren und verstehen wollten und wie wir uns politisch einmischen könnten. Wir mussten herausfinden, wer unser politischer Gegner war. Das verlängerte Sprachrohr der Regierung zu sein, kam nicht in Frage. Dieser interne Prozess schärfte das Profil von Alliance Sud. Wir sahen klarer, wofür wir stehen, was die Widersprüche und welches die Konfliktlinien sind, die wir bearbeiten wollen.

Welche Erfolge sind Ihnen wichtig?
Wir haben Ende der 1990er Jahre dazu beigetragen die Beitrittsinitiative der Schweiz zu den Vereinten Nationen zu retten. Sie wäre beinahe an zu wenigen Unterschriften gescheitert. Dann kamen die Millenniumsentwicklungsziele und in Ziel acht die Erhöhung der Mittel für die Entwicklungshilfe. Die „Weltwoche“ und die „Neue Zürcher Zeitung“ wetterten kampagnenartig dagegen, behaupteten, das Geld verpuffe, fließe in die falschen Taschen und hemme die Entwicklung. Wir konzipierten in diesem Klima die 0,7-Prozent-Kampagne. Sie mündete im Kompromiss, dass die Schweiz 0,5 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungshilfe zur Verfügung stellt. Der Bund erhöhte das Budget der realen Entwicklungshilfe nach und nach. Dieses Jahr erreichen wir das Ziel dank der Krise voraussichtlich.

Gleichzeitig sind die Mittel für Entwicklungshilfe stark unter Druck.
Ja. Wir haben etwas gewonnen. Und wenn man etwas gewinnt, arbeiten die Verlierer unermüdlich daran, ihre Niederlage rückgängig zu machen. Laut den Richtlinien der OECD darf bei der öffentlichen Entwicklungshilfe vieles mitgezählt werden, das damit eigentlich gar nichts zu tun hat. Bei uns sind das Kosten für die Flüchtlinge, was 15 bis 20 Prozent ausmacht. Der Bundesrat bedient sich seit 2015 für die immer höheren Asylkosten aus der Entwicklungshilfe. Das Bundesamt für Umwelt will die internationalen Klimaverpflichtungen aus dem Budget der staatlichen Entwicklungsagenturen finanzieren. Es geht hier – allein für die Schweiz – um 400 Millionen bis 1,4 Milliarden Franken im Jahr, je nach Finanzierungsschlüssel. Da kommen große Streitereien auf uns zu. Die Klimafinanzierung ist richtig, aber man kann nicht Entwicklungshilfe durch Klimaschutz ersetzen. Die Aufnahme von Flüchtlingen ist auch richtig. Dass dies aber als Entwicklungshilfe gilt, ist ein fauler Beschluss der OECD.

Täuscht der Eindruck oder kommt auch die Solidarität mit den Ärmsten unter Druck?
Den größten Druck auf die Solidarität machen die westlichen Regierungen selbst. Wenn man beginnt, den Sozialstaat zu beschneiden und abzubauen, dann verschwindet das Verständnis der Menschen dafür, dass man noch Geld für die Ärmsten im Ausland bereitstellt. Zudem sprechen die westlichen Regierungen Entwicklungsländern ihren Status ab und reden vom afrikanischen Mittelstand. Das sind Menschen, die zwischen zwei bis vier Dollar pro Tag verdienen. Das vermittelt bei uns einen völlig falschen Eindruck davon, was Armut und Ungleichheit bedeuten. Und es senkt die Bereitschaft, als privilegiertes reiches Land den Armen in armen Ländern zu helfen.

Ist Kritik an der Entwicklungshilfe unerwünscht?
Ich habe mich während der 0,7-Prozent-Kampagne intensiv mit der Kritik an der Entwicklungshilfe auseinandergesetzt, die Tausende von universitären Studien füllt. Ich glaube, vieles davon stimmt auch irgendwie. Nur: Die meisten Kritiker fassen den Platz der Entwicklungshilfe falsch auf. Sie sehen nicht, dass sie ein Instrument der Außenpolitik ist und die Gelder entsprechend eingesetzt werden. Meist wurde die Entwicklungshilfe zur Förderung der eigenen Interessen benutzt, seien es politische, geopolitische, militärische oder wirtschaftliche. Oft war und ist die Entwicklungshilfe das Schmiergeld für die Willigkeit der unterstützten Staaten.

Wie hat diese Auseinandersetzung mit der Kritik Ihr Bild der Entwicklungshilfe beeinflusst?
Ich denke, dass noch immer viel Blödsinn passieren kann. Und es hat mir gezeigt, dass es die wichtigste Aufgabe der Zivilgesellschaft ist, ihrer Regierung auf die Finger zu schauen, was sie mit ihrem Geld macht. Die Schweiz hat den Vorteil, ein politisch und militärisch machtloser Kleinstaat zu sein. Wir hatten nie eine expansive Außenpolitik, wir hatten nie Kolonien. Es konnte sich kein Filz zwischen Kolonialverwaltung und Schweizer Unternehmen entwickeln, der heute wegen der interessanten Ressourcen geschützt werden müsste. Deshalb war und ist die Autonomie relativ groß, die Entwicklungshilfe für das einzusetzen, wofür sie gedacht ist, also die armen Länder zu fördern.

Was braucht es, damit die Welt besser wird?
Die geplanten Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen geben fast alle Antworten auf die anstehenden Probleme, auch wenn sie oft vage formuliert sind. Es bräuchte ein neues Handelsregime, die WTO-Verträge müssten revidiert werden. Man muss weg kommen vom Geflecht der bi- und multilateralen Freihandelsverträge und es braucht eine starke Korrektur zugunsten der Entwicklungsländer. Was man machen müsste, wissen und debattieren wir seit Jahren. Wir kommen aber nicht vorwärts, weil diejenigen, die davon profitieren, es nicht wollen. Gleiches gilt bei den Finanzmärkten und beim Klimaschutz.

Was war der Antrieb für Ihr En­gagement?
Seit 1968 wollte ich begreifen, wie die Welt läuft. Je älter ich wurde, desto mehr merkte ich, wie wenig ich weiß. Die 17 Jahre bei Alliance Sud waren ein Schub nach vorne. Ich durfte mich professionell damit beschäftigen. Das ist eine große Freude, denn die Welt ist unerschöpflich. Am befriedigendsten war, wenn ich aufgrund unseres Wissens strategisch und politisch planen konnte. Ich kann nicht sagen, dass wir unglaublichen Erfolg hatten. Aber wir hatten ab und zu ein Erfölgli, ein kleineres oder ein größeres. Hinzu kommt, dass Alliance Sud eine erfreuliche politische Gruppe ist. Wir konnten einen Stil von Zusammenarbeit, von politischer Arbeit entwickeln, der befriedigend ist. Und wenn man so etwas inspirieren, anleiten und vorwärts bringen kann, macht das Freude, und nicht müde.

Was wird man künftig von Peter Niggli hören?
Seit zwei Jahren werde ich nach meinen Projekten nach der Pensionierung gefragt. Ich suche keine Projekte. Ich kann sehr gut sein, ohne zu arbeiten. Ich will meine Freundschaften pflegen, lesen, wieder in Zürich leben. Ich werde bei den Hilfswerken Fastenopfer und Helvetas im Vorstand sein und so in der Szene einen Fuß drin haben. Aber zum ersten Mal, seit ich 19 war, ist die Zukunft völlig offen. Das hat man selten im Leben.

Das Gespräch führten Rebecca Vermot und Theodora Peter.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2015: Entwicklung - wohin?
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