Calogero Ferrara zündet sich in seinem Büro im zweiten Stock des Justizgebäudes in Palermo einen Zigarillo an und zeigt uns seine 526-seitige Klageschrift gegen 24 afrikanische Menschenhändler. Der Mafia-Ankläger hat Mitte April auf einer Pressekonferenz einen außergewöhnlichen Erfolg im Kampf der italienischen Behörden gegen die illegale Einwanderung bekanntgegeben: Über Nacht haben seine Beamten auf Sizilien, in Mailand und in Rom eine Bande von Menschenschmugglern dingfest gemacht und 14 überwiegend aus Eritrea stammende Männer festgenommen.
Die Probleme, mit denen sich Ferrara herumschlagen muss, sind durch die geografische Lage Siziliens bedingt. Seit Tausenden Jahren kreuzen sich hier die Verkehrswege zwischen Europa, Afrika und dem Mittleren Osten. Die Kirchen mit ihren arabischen Kuppeln sowie die Straßenschilder auf Italienisch und Arabisch bezeugen, dass die Insel im Mittelmeer seit jeher kosmopolitisch geprägt ist. Migration wird hier als unaufhaltsam und auch wünschenswert betrachtet. Die Behörden sahen sich selbst angesichts dramatisch zunehmender Flüchtlingszahlen nicht zum Eingreifen genötigt – auch dann nicht, als das Massensterben begann.
Jetzt richten sich neue Hoffnungen auf die Intervention der prominenten italienischen Mafia-Ankläger. Seit dem Schiffsunglück 2013 vor Lampedusa, bei dem mehrere Hundert Flüchtlinge ertrunken sind, betrachten sie den Menschenhandel als eine Form des organisierten Verbrechens – und seine Bekämpfung als ihre Aufgabe. Ferrara begann bereits am Morgen nach dem Unglück, gegen die Menschenschmuggler zu ermitteln. Er beauftragte seine Beamten, die Überlebenden nach den Telefonnummern der Männer zu fragen, die sie auf das Boot verfrachtet hatten. Dann ließ er die Verbindungen abhören und verfolgte zusätzlich Anrufe bei anderen Nummern. So erhielt er ein Netz telefonischer Kontakte zwischen Tausenden Nummern in Afrika, Europa, dem Mittleren Osten, Asien und den USA.
Im Lauf von 18 Monaten zeichnete sein Team mehr als 30.000 Telefongespräche auf. Die Mitschnitte enthalten Hinweise auf mehrere transnationale Verbrechersyndikate, die zusammen um die sieben Milliarden US-Dollar jährlich einnehmen. Die Ermittler stießen auch auf den Mann, der einer der raffiniertesten und geschäftstüchtigsten Menschenhändler sein soll: Ermias Ghermay, ein Äthiopier, der in Libyen lebt. Ferrara nennt ihn einen „skrupellosen Verbrecher, der mit menschlicher Ware handelt, um Geld zu verdienen“.
Ghermays Organisation bietet Migranten, die von Zentralafrika über Libyen und Italien in ein weiteres Land gelangen wollen, sämtliche Dienstleistungen an – Transport, Unterkünfte und Verpflegung. Es sei ein kriminelles Geschäft wie kein anderes, erklärt der Staatsanwalt. Es gibt keine Namen, keinen Geschäftssitz, keine festen Mitarbeiter, und vor allem geht Ghermay keinerlei Risiko ein. „Drogenhändler verlieren mit der Ware auch ihr Geld“, sagt Ferrara. „Doch in diesem Geschäft wird im Voraus bezahlt. Auch wenn die Migranten später ertrinken, Ermias hat sein Geld bereits bekommen.“
Ghermays Kunden beschreiben ihn als untersetzten Mann um die 40. Er spricht mehrere Sprachen fließend, darunter Arabisch und Tigrinya, das im Norden Äthiopiens und in Eritrea gesprochen wird. Seit etwa zehn Jahren schmuggelt er Menschen, sein Geschäft betreibt er an der libyschen Küste, überwiegend in Tripolis oder weiter westlich im Hafen von Zuwara. Die Migrationspolitiker der Europäischen Union planen Angriffe auf Schmugglerschiffe – doch Ghermay sieht seine Holzkähne und Schlauchboote ohnehin als Wegwerfartikel. Wenn sie in Sizilien ankommen, sinken sie meistens oder werden beschlagnahmt.
Deshalb kauft er am liebsten die billigsten Boote, die sich gerade noch über Wasser halten. Damit seine Kunden nicht versuchen, ein besseres Schiff zu finden, soll er in Zuwara Lagerhallen gepachtet haben, in denen er sie zu Tausenden monatelang einsperrt, nachdem er ihnen ihre Handys abgenommen hat. Auf den Booten verstaut er die Migranten nach Herkunft und Rasse getrennt. Syrer bezahlen mehr und reisen auf dem Oberdeck; die Afrikaner, die meist weniger Geld haben, werden ohne Wasser und Nahrung unter Deck eingeschlossen.
Die meisten Menschenhändler wollen offenbar nicht mehr sein als ein Rädchen in einem großen Getriebe. Doch Ghermays Telefongespräche lassen laut Ferrara größere Ambitionen erkennen. Um einen regelmäßigen Nachschub an Migranten sicherzustellen, pflegt er Geschäftsverbindungen mit Menschenhändlern im Sudan, in Somalia, Nigeria und Eritrea, die ihre Ladung auf LKWs durch die Sahara transportieren. Auch in Europa knüpft er ständig neue Kontakte mit Schmugglern, nicht nur innerhalb der Auffanglager in Sizilien, Rom und Mailand, sondern auch in Berlin, Paris, Stockholm und London.
Die Geschäftspartner, die Ghermay seine „Colonels“ nennt, sind laut den Abhörprotokollen vor allem für zwei Dinge zuständig: Sie transportieren Menschen und Geld. Sie geben den Migranten aktuelle Informationen über die sichersten Reisewege und die Telefonnummer des Colonels, der für die nächste Etappe zuständig ist. Manche von Ghermays Colonels werben für sich und ihre Dienste auf Facebook und anderen Webseiten. Auch er selbst hat neuerdings sein Angebot erweitert. Zahlungskräftige Kunden vermittelt er an Leute, die ihnen echte Pässe und Visa beschaffen. Unterstützt wird er dabei von mindestens einem korrupten europäischen Botschafter in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Wer es sich leisten kann, bekommt sogar Flugreisen angeboten.
Menschenhändler mit sympathischer Ausstrahlung
Der Mafia-Jäger Ferrara meint, das Geheimnis von Ghermays Erfolgen liege wohl in seiner sympathischen Ausstrahlung. Er verwendet viel Zeit darauf, mit den Familien zu telefonieren, die für die Migration eines Verwandten bezahlen. Dabei versichert er ihnen, dass diesem nichts zustoßen wird, und erinnert sie taktvoll an ihre finanziellen Verpflichtungen – ein besonders heikles Thema. Viele eritreische Flüchtlinge sind Kinder, manchmal sogar Kleinkinder. In den äthiopischen Flüchtlingslagern versprechen die Schmuggler den Eltern, sie umsonst nach Europa zu bringen. Sie behaupten, dort werde einem unbegleiteten Minderjährigen automatisch Asyl gewährt und die ganze Familie könne später nachkommen.
Wenn die Schmuggler das Kind weggebracht haben, erfahren die Angehörigen, dass sie doch bezahlen müssen: rund 1800 US-Dollar für die Reise bis zum Mittelmeer und weitere 1800 Dollar für die Überfahrt. Bis das Geld eintrifft, wird das Kind in Ghermays Lagerhallen festgehalten. Dass er derart fragwürdige Transaktionen häufig erfolgreich abwickelt, liegt zum großen Teil an seinem Verhandlungsgeschick. „Er raubt ja niemanden aus“, sagt ein Polizeibeamter in Palermo, der seinen Namen nicht nennen möchte. „Er kann mit den Menschen umgehen und flößt ihnen Vertrauen ein. Je vertrauenswürdiger Ghermay wirkt, desto mehr Leute wenden sich an ihn.“
Sizilien ist bekanntlich ein Zentrum des organisierten Verbrechens. Dass Menschenhändler wie Ghermay hier Hunderte Millionen US-Dollar verdienen können, wirft die Frage auf, warum die Mafia das zulässt. Im Dezember 2014 haben Staatsanwälte in Rom die Antwort gefunden. Nachdem sie den mutmaßlichen Mafia-Boss Massimo Carminati und 36 weitere Mafiosi festgenommen hatten, wiesen sie in einer 1200 Seiten umfassenden Klageschrift nach, dass diese die Verwaltung Roms weitgehend unterwandert hatten. Im Zuge der gleichen Ermittlungen wurden Anfang Juni weitere 44 Personen festgenommen. Dabei stellte sich heraus, dass die Mafia Capitale, Carminatis römisches Verbrecherkartell, an der europäischen Flüchtlingskatastrophe mitverdient.
Zwar beteiligte sich die Mafia Capitale nicht unmittelbar am Menschenschmuggel. Doch sie riss die Aufträge für den Bau und die Verwaltung der Auffanglager an sich. Laut Anklageschrift leitete Carminatis engster Vertrauter, ein verurteilter Mörder namens Salvatore Buzzi, eine Kooperative, die Mahlzeiten und Sprachkurse für Migranten organisierte. Damit will Buzzi 45 Millionen US-Dollar eingenommen haben. Außerdem soll er fremdenfeindliche Übergriffe angezettelt haben: Auf diese Weise sollte die Regierung gezwungen werden, mehr Auffanglager zu bauen, in denen die Ausländer sicher untergebracht werden konnten.
Die Anwälte von Buzzi und Carminati bestritten die Vorwürfe. Doch die Ermittler hörten ein Gespräch ab, in dem Buzzi seinen Partner fragte: „Hast du überhaupt eine Ahnung davon, wie viel ich an den Einwanderern verdiene? Nicht einmal das Drogengeschäft bringt derart viel ein!“
Noch viel mehr als Buzzis Kooperative soll das Management des größten europäischen Flüchtlingslagers abgeworfen haben, das in Mineo im Osten Siziliens eingerichtet wurde. Ein Dreijahresvertrag über 110 Millionen US-Dollar versprach den Betreibern für die Unterbringung und Verpflegung von bis zu 4000 Migranten pro Person und Tag 32 Dollar.
Ein System der Korruption
Aus der Anklageschrift und aus unabhängigen Ermittlungen der Fahnder in Catania im Osten Siziliens geht hervor, dass das Abzockmanöver von einem Beamten namens Luca Odevaine organisiert wurde. Dank seiner diversen Ämter – als Stabschef des ehemaligen römischen Bürgermeisters Veltroni, Mitglied der Flüchtlingskommission beim Innenministerium und offizieller Berater für Flüchtlingsfragen in Mineo – konnte er alle für Migranten zuständigen Stellen im Sinne der Geschäftsinteressen der Mafia Capitale umfunktionieren. Abgehörte Telefonate belegen, wie Odevaine seinen Partnern Aufträge für den Bau und den Betrieb der Lager zuschanzte. Dann schickte er weit mehr Flüchtlinge dorthin, als sie aufnehmen konnten – vor allem nach Mineo. Wie die Staatsanwaltschaft feststellte, war das kein System der Flüchtlingshilfe, sondern ein „System der Korruption“.
Viele waren schockiert über den Umfang der Betrügereien und die Art, wie die Beteiligten eine der schlimmsten europäischen Krisen ausnutzten. Politiker wurden festgenommen. Ein ehemaliger Bürgermeister von Rom trat von seinen Parteiämtern zurück. Doch trotz zahlreicher Rücktritte, Verhaftungen und Verurteilungen bleibt die Frage: Wird der Zustrom nach Europa so schlecht gehandhabt und damit die Krise verschärft, weil die Flüchtlinge Geld einbringen und die Mafia samt ihren korrupten politischen Handlangern immer mehr kassiert, je mehr Migranten eintreffen?
Das Lager in Mineo besteht aus einer Ansammlung von gut 400 Backsteinhäusern inmitten einer weiten Talsohle. Früher war es eine US-amerikanische Militärbasis, und mit seinen bewachten Toren und Stacheldrahtzäunen macht es noch immer einen sehr wehrhaften Eindruck. Das Lager ist nicht an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden, und die meisten Migranten haben kein Geld. Doch tagsüber dürfen sie das Gelände verlassen, und viele spazieren auf den Landstraßen herum, die jetzt das Ende ihrer Welt darstellen – wie John aus Nigeria und Kadir aus Äthiopien.
John ist vor elf Monaten hier gelandet. Er hatte drei Jahre lang in Libyen gearbeitet, doch dann wurde es ihm dort zu gefährlich. Kadir ist schon seit zwei Jahren hier. Beiden sagte man bei ihrer Ankunft, sie bekämen binnen 35 Tagen Papiere, mit denen sie sich als Flüchtlinge und Asylbewerber ausweisen könnten. Beide wollten nach Deutschland weiterreisen. Doch aus den Wochen wurden Monate und Jahre, und im Lauf der Zeit haben sie erkannt: „Hier geht es ums Geschäft“, sagt John. „Und das Geschäft sind wir. Wir sind die Ware. Sie behalten uns hier, weil sie an uns verdienen.“
John sagt, er habe nicht mehr in einem Land leben wollen, in dem der Staat mit der organisierten Kriminalität zusammenarbeitet – deshalb sei er nach Europa gekommen. Doch hier bereichern sich die Betreiber des Lagers selbst an den zwei Euro Taschengeld, das die Migrantinnen und Migranten pro Tag erhalten. Anstelle von Bargeld bekommen sie Kredit auf einer Chipkarte, mit der sie nur in einem Geschäft im Lager oder in bestimmten Läden außerhalb bezahlen können. Das hört sich geringfügig an, doch das Monopol bringt rund drei Millionen Euro pro Jahr ein.
Riccardo Campochiaro aus Catania, der die Hilfsorganisation Centro Astalli als Anwalt unterstützt, bezeichnet das langfristige Festhalten der Migranten in Mineo als eine Art stationären Menschenhandel. Seine Kollegin Elvira Iovino fügt hinzu, die Bedingungen im Lager seien aufgrund der Überfüllung katastrophal. Und da die Migranten nicht legal arbeiten dürfen, gedeihen zwangsläufig illegale Aktivitäten wie Prostitution und Drogengeschäfte. Im Lager bieten Menschenhändler Ausreisemöglichkeiten nach Nordeuropa an und außerhalb Jobs als Erntehelfer für zehn Euro pro Tag. Und davon geschieht „nichts, aber auch gar nichts ohne das Wissen der Cosa Nostra“, sagt Elvira Iovino.
Nur die Migranten profitieren nicht
Jeder scheint von dem System zu profitieren, nur die Migranten nicht. Sie haben in der Hoffnung auf ein besseres Leben das Risiko, zu sterben, in Kauf genommen und ihren letzten Cent für eine Reise von Tausenden Kilometern ausgegeben, um dann in Mineo zu landen. Daran seien viele Menschen innerlich zerbrochen, meint John. Mindestens einer hat Selbstmord begangen. Es gab gewaltsame Proteste und gemeinsame Ausbruchsversuche.
Kadir hat Wüsten und Ozeane überquert, um ein freieres Leben zu führen. Seine Reise nach Norden dauerte über ein Jahr. Mit Lumpen am Leib und Flipflops an den Füßen war er zu Fuß unterwegs. Er nahm jede Strapaze in Kauf, um am Leben zu bleiben und das Geld für den nächsten Teil der Strecke zusammenzubringen. Dabei sah er viele Menschen sterben – in der Wüste, im Krieg in Libyen und auf dem Boot, das ihn übers Mittelmeer brachte. Doch als er schließlich ankam, war alles genauso wie zu Hause: Anständige und wehrlose Menschen werden von Kriminellen ausgebeutet.Jetzt weiß Kadir nicht mehr weiter. „Mein Leben ist genauso wertlos wie eh und je“, sagt er. „Wenn ich hier sterben soll, dann sterbe ich eben.“
Autoren
Alex Perry
ist Buchautor, Journalist und Redakteur bei der internationalen Ausgabe des Nachrichtenmagazins „Newsweek“. Dort ist der Beitrag im ungekürzten Original erschienen.Connie Agius
ist Journalistin. Sie arbeitet für „Newsweek“ und für internationale TV- und Radiosender wie Channel 4, Deutsche Welle und ABC.Während er erzählt, beginnt er zu weinen. Auch damals hat er geweint. „Als ich diese Schweinerei sah, Kinder zwischen 10 und 15 Jahren, die wir aus dem Meer zogen wie Thunfische…“ Margiotta atmet tief durch. Er will den europäischen Politikern etwas mitteilen. „Ihr sitzt herum und trefft Entscheidungen“, sagt er, „und ihr sagt, ihr seid zivilisiert. Aber wenn so etwas noch einmal geschieht, dann kommt selbst und schaut es euch an. Kommt und seht, wie es ist, wenn man einen Teppich von Menschen im Meer treiben sieht.“ Dann trocknet er sich die Augen und sagt: „Ich weine vor Wut.“
Aus dem Englischen von Anna Latz.
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