Hinter der farbenfrohen Flickendecke ragen vier Köpfe hervor. Sie verharren kurz, dann setzt sich der Menschenzug trippelnd in Bewegung. „Null Korruption! Null Bürokratie!“, ruft der erste in der Reihe. Die Gefolgschaft applaudiert. „Ich werde mein eigenes Gehalt kürzen und die Gehälter der Minister halbieren!“ Dieses Mal klatscht niemand, die Gesichter werden lang. Dann bleibt es erst einmal still, bis Elke Schuster sagt: „Evo Morales, Dein Einsatz.“
In einem Hinterhaus in Berlin-Kreuzberg proben die Schauspieler der Berliner Compagnie den Einzug des frischgebackenen bolivianischen Präsidenten in seinen Palast. Schuster führt die Regie bei dem neuen Theaterstück des Ensembles. Dessen Titel spielt auf ein altes, andines Sprichwort an: Peru und Bolivien werden oft als „Bettler auf dem goldenen Thron“ bezeichnet. Denn die Länder sind reich an Rohstoffen, die sie jedoch nie reich, sondern eher zum Opfer von Ausbeutung gemacht haben.
„Wir wollen zeigen, wie der Gegenentwurf zum neoliberalen Entwicklungsbegriff aussehen kann“, sagt Helma Fries und rückt ihre dunkelblaue Seidenbluse zurecht. Seitdem mit Morales erstmals ein Indigener an der Spitze des Staates steht, herrsche in Bolivien Skepsis gegenüber den westlichen, konsum- und wachstumsorientierten Vorstellungen von Entwicklung. Fries hat das Stück geschrieben und verkörpert Evo Morales. Sie hat die Berliner Compagnie 1982 mitgegründet – damals noch als Gerhard Fries. Das politische Tourneetheater befasst sich seitdem mit Themen wie den Arbeiteraufständen bei Daimler in Südafrika oder Billiglohnarbeit in der südostasiatischen Bekleidungsindustrie.
In diesem Jahr ist die Wahl auf Bolivien gefallen. „Der Bettler auf dem goldenen Thron“ ist ein hochpolitisches Stück. Der rote Faden ist die neuere Geschichte des Landes. Erzählt wird von gewerkschaftlichem Widerstand, ausbeuterischen Konzernen, Wasserprivatisierung und dem politischen Handeln Morales’, der das Land auf seine Art aus der Armut befreien will. Wegweisend dafür – und für das Stück – ist das indigene Konzept des „Vivir Bien“, das seit 2009 in der bolivianischen Verfassung verankert ist. In den Andenländern ist mit dem „Guten Leben“ das Zusammenleben aller in Harmonie mit der Natur gemeint; es stützt sich auf Werte wie Gemeinschaft und Solidarität.
Das Bühnenbild der Berliner Compagnie spiegelt diese Idee wider. „Daran haben mehr als 100 Menschen mitgearbeitet“, sagt Regisseurin Schuster und zeigt auf das Tuch, hinter dem die Schauspieler zuvor entlangmarschiert waren. Das Kunstwerk aus hunderten, zusammengenähten Stoff-Quadraten hängt an der Decke des Probenraums und teilt die Bühne in zwei Hälften. Im Vordergrund steht ein rostiges Ölfass, das die Erdölvorkommen symbolisieren soll.
CIA-Agent in der Botschaft
Doch in den ersten Szenen dient die Tonne erst einmal als Büro der US-amerikanischen Botschaft, die laut Skript vom Geheimdienst CIA gesteuert wird. Die bolivianischen Beamten kuschen, Morales ordnet die Räumung des Büros an. Erneut schreitet Schuster ein. Es müsse noch deutlicher werden, dass die Minister mehr Angst vor dem amerikanischen Geheimdienst haben als vor ihrem eigenen Präsidenten.
Ein CIA-Agent in der Botschaft: Es klingt ein wenig verschwörungstheoretisch, was auf der Bühne gespielt und debattiert wird. Doch wie die meisten Szenen im Stück spitzt auch diese eine wahre Begebenheit aus der Geschichte Boliviens zu. In diesem Fall die von Morales 2013 angedrohte Räumung der US-Botschaft und den tatsächlichen Hinauswurf der Entwicklungsagentur USAid, die laut dem Präsidenten politische statt sozialer Ziele verfolgt hatte.
Wie sich das schauspielerisch gut darstellen lässt, wird in Berlin-Kreuzberg detailreich besprochen. Immer wieder springt Elke Schuster auf und macht vor, wie genau sich Hände bewegen, Köpfe senken und Stimmen erheben sollten. Die Sache ist ihr und den anderen wichtig. Alles soll perfekt sitzen. Vor allem soll das Stück gleichzeitig unterhalten und zum Nachdenken anregen. „Wir haben immerhin einen entwicklungspolitischen Bildungsauftrag“, sagt Fries. Genug Erfahrung mit politischem Theater haben sie: Die Berliner Compagnie hat schon knapp 30 Stücke produziert, jeweils unterstützt von staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen wie dem Evangelischen Entwicklungsdienst.
Auf den Tischen im Probenraum stapelt sich die Lektüre über Südamerika. Schuster ist die einzige aus dem Ensemble, die schon einmal in La Paz war, allerdings vor Morales’ Amtszeit. Die Schauspielerin Angelika Warning etwa hat sich vor den Proben kaum mit der bolivianischen Politik auseinandergesetzt. Sie spielt unter anderem die Gewerkschafterin Domitila Chungara, die sich in den 1970er Jahren für die Rechte der Bergarbeiter eingesetzt und gegen die Diktatur gekämpft hatte. Dabei habe sie viel gelernt, sagt sie, das schätze sie an ihrem Beruf.
Für Drehbuch-Autorin Fries waren vor allem Gespräche mit Hilfsorganisationen und Journalisten in Bolivien hilfreich, um den richtigen Ton für das Stück zu finden. Gefördert wird es vom Entwicklungsministerium, dessen ehemaliger Chef Dirk Niebel allerdings nicht gut wegkommt. Fries hat ihm eine kritische Szene gewidmet, die auf seinen Staatsbesuch im November 2010 zurückgeht. Damals hatte er dem linken Präsidenten Morales als Gastgeschenk ein Berliner Mauerstück in die Hand gedrückt – „als Erinnerung an die Überwindung von 40 Jahren sozialistischer Diktatur“. Eine Herabwürdigung von Morales’ Politik, findet Fries.
Dennoch betont sie, dass der indigene Präsident in ihrem Stück keinesfalls als Held dargestellt wird. So werde unter anderem der umstrittene Straßenbau durch den Tipnis-Nationalpark thematisiert, der in den vergangenen Jahren immer wieder Proteste auslöste. Nicht nur Umweltschützer stehen der widersprüchlichen Politik der bolivianischen Regierung kritisch gegenüber: Einerseits hat sich Morales das „Vivir Bien“ auf die Fahne geschrieben. Andererseits hat er jüngst den Abbau von Rohstoffen in Naturschutzgebieten erlaubt.
Autorin
Hanna Pütz
hat bei „welt-sichten“ volontiert und ist jetzt Online-Redakteurin bei „Aktion Deutschland Hilft“ in Bonn.Deutschland könne von Bolivien lernen, heißt es im Programmheft. „Und zwar, dass Widerstand etwas bewirkt“, sagt Regisseurin Schuster. Und dass das „Vivir Bien“ auch in einer westlichen Gesellschaft als Chance wahrgenommen werden könnte. Eins zu eins sei das Konzept hier zwar nicht umsetzbar. Dennoch lasse sich bereits ein Wandel erkennen, zum Beispiel in der Degrowth-Bewegung.
Ein Theaterstück kann die politische Wirklichkeit eines Landes nie vollständig abbilden – doch Fries ist überzeugt: „Die Bühne kann ein emotionales Feuer entfachen.“ Und vielleicht wirke sich das auch auf das Handeln der Zuschauer aus. In jedem Falle zeigt „Der Bettler auf dem goldenen Thron“, wie politisches Theater funktionieren kann. Nämlich ganz im Sinne des „Vivir Bien“: als vielfältiges Gemeinschaftswerk, das das Publikum bereichert.
www.berlinercompagnie.de
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