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Zunächst die Kolonialherren, dann die Industrienationen: Stets definierten die Mächtigen, was Entwicklung bedeutet. Nun stellen aufstrebende Länder aus dem Globalen Süden den Sinn und die Strukturen der internationalen Entwicklungspolitik infrage.

Vor gut einem Jahr haben Brasilien, China, Indien, Russland und Südafrika eine neue Entwicklungsbank ins Leben gerufen. Die New Development Bank (NDB) mit Sitz in Shanghai soll Ländern des Globalen Südens günstige Kredite für Entwicklungsvorhaben gewähren und ihre Finanzlage stabilisieren. Damit verbunden ist der politische Versuch, eine Alternative zur Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zu schaffen. Beide gelten als Pfeiler eines entwicklungspolitischen Regimes, das laut seinen Kritikern seit 1945 dazu beigetragen hat, die politische und ökonomische Macht der westlichen Industrienationen in der Welt zu stabilisieren und – zum Teil auf Kosten der Entwicklungs- und Schwellenländer – auszuweiten.

Die Gründung der New Development Bank stellt einen Kristallisationspunkt der Auseinandersetzungen über Sinn, Ziele und Strukturen von Entwicklungspolitik dar. Kann sie Wirtschaftswachstum hervorbringen und damit den Lebensstandard erhöhen? Oder wäre es sinnvoller, eine globale Umverteilung des Besitzes und der Ressourcen anzustreben? Kann Entwicklung zu Frieden und Sicherheit beitragen oder verstärkt sie eher Ungleichheiten und Konflikte? Und was bedeutet „Entwicklung“ eigentlich? Um die unterschiedlichen Antworten auf  diese Fragen besser zu verstehen, bietet sich ein Rückblick in die Geschichte der Entwicklungspolitik an.

Zukunftsgerichtete Perspektive

Der Aufstieg des Begriffs „Entwicklung“, wie er der traditionellen Entwicklungspolitik zugrunde liegt, wird meist mit der europäischen Aufklärung im 18. und frühen 19. Jahrhundert verbunden. Die göttliche Vorsehung wurde nicht mehr, wie zuvor, als Erklärung für Armut und Elend allgemein akzeptiert; stattdessen setzte sich der Glaube an menschliche Vernunft, Rationalität und Fortschritt durch. Damit wuchs das Vertrauen in die Fähigkeit, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklungen zu beeinflussen und zu steuern. Wenn die Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Verhaltens erst einmal verstanden wären, könnten soziale Ordnungen so geplant werden, dass sie die Probleme der Vergangenheit und Gegenwart hinter sich ließen, lautete die zentrale Annahme. Charakteristisch für dieses Denken war eine lineare Perspektive, die für die Zukunft einen Idealzustand vorsah. Mit „Entwicklung“ waren sowohl ein zeitlicher Verlauf als auch eine Verbesserung der Lebensverhältnisse gemeint.

Die zukunftsgerichtete Perspektive blieb bis weit über das Zeitalter der Aufklärung hinaus erhalten, Vertreter unterschiedlicher Denkrichtungen nahmen sie auf. Viele von ihnen dachten „Entwicklung“ in Stationen oder Phasen. Karl Marx (1818-1883) etwa deutete verschiedene Stufen sozioökonomischer Entwicklung als historische Gesetzmäßigkeit. Die Verfechter des Liberalismus erhofften sich von der Ausweitung kapitalistischer Wirtschaftsformen neben finanziellen Vorteilen eine über den Handel zunehmend integrierte Welt. Viele Zeitgenossen im 19. und frühen 20. Jahrhundert teilten die Ansicht, dass die moderne Wissenschaft und Technik die erhofften Entwicklungen beschleunigen könnten.

Tatsächlich trugen der Telegraf und das Telefon, Dampfschiffe und Flugzeuge dazu bei, dass weit entfernte Regionen bald wachsende Aufmerksamkeit erhielten. Angesichts der raschen Fortschritte in der medizinischen, naturwissenschaftlichen und technischen Forschung schien es möglich, die in der Heimat oder in anderen Gegenden der Welt erkannten Probleme zu lösen – sei es Epidemien vorzubeugen, die Wasserversorgung durch Kanäle zu sichern oder Brücken und Straßen zu bauen, um Verkehr und Handel zu fördern.

Wissenschaft und Technik nahmen eine entscheidende Rolle in einem Denken ein, das sich nicht mit dem Bestehenden zufriedengab, sondern auf geplante und zielgerichtete Veränderung setzte. Dass dieses Denken nicht notwendig demokratisch oder philanthropisch ausgerichtet war, machen der europäische und amerikanische Kolonialismus und Imperialismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts deutlich: Kolonialpolitiker argumentierten, man müsse die vermeintlich rückständigen Gesellschaften entwickeln, weil sie aus eigener Kraft dazu nicht in der Lage seien. Die sogenannte Zivilisierungsmission – also die Annahme, die eigene Gesellschaft sei überlegen und habe die Pflicht, andere Kulturen an die eigenen Ideale anzupassen – diente wesentlich dazu, die Fremdherrschaft und die Ausbeutung der kolonisierten Gesellschaften zu legitimieren.

Viele Zeitgenossen fühlten sich auch deshalb überlegen, weil sie meinten, jene Methoden zu kennen, die Entwicklung aus ihrer Sicht überhaupt erst möglich machten. Welcher Art diese Entwicklung sein sollte, definierten die Kolonialherren zumeist im Sinne der politischen, strategischen und wirtschaftlichen Interessen der eigenen Nation. Damit unterschied sich das koloniale Entwicklungsdenken deutlich von heutigen Erwartungen an die Entwicklungspolitik, die sich mit Schlagworten wie Zusammenarbeit, Dialog und Partnerschaftlichkeit verbinden.

Die Idee, eine Gesellschaft oder Region zu entwickeln, war jedoch nicht allein mit kolonialen Interessen verknüpft. In jedem Land und auf jedem Kontinent fanden sich Gegenden, die aus Sicht der städtischen Eliten rückständig erschienen: sei es von der Ostküste aus gesehen der Süden der Vereinigten Staaten, aus der Sicht Mailands Süditalien oder von Moskau aus betrachtet Zentralasien. Es existierten unterschiedliche Normen von Entwicklung, die meist von der Perspektive einer Metropole und dem Selbstverständnis ihrer Bewohner abgeleitet wurden.

Mit der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zunehmenden Praxis, Finanz-, Wirtschafts- und Bevölkerungsdaten zu erheben und miteinander zu vergleichen, schärfte sich das Bewusstsein für solche Unterschiede. In der Mitte des 20. Jahrhunderts stieg die Wirtschaftswissenschaft zur sozialwissenschaftlichen Leitdisziplin auf und spezialisierte sich auf quantitative Analysen. Ökonomen definierten Entwicklung nun vor allem anhand volkswirtschaftlicher Ziffern, die sie auf nationaler Ebene erhoben. Es setzte sich ein Verständnis von Entwicklungspolitik durch, das darauf zielte, die Wirtschaftsleistung einer Nation zu erhöhen, wenn sie im regionalen oder internationalen Vergleich als zu gering eingestuft wurde. Das galt vor allem für Länder, die vorwiegend von der Landwirtschaft lebten und auf den Export von billigen Rohstoffen und den Import von teuren Industrieprodukten angewiesen waren.

Die Ökonomen Raúl Prebisch (1901-1986) und Hans W. Singer (1910-2006) kritisierten bereits Ende der 1940er Jahre, dass sich die Handelsbedingungen für diese Länder zunehmend verschlechterten, weil sie keine Chance hätten, sich zu industrialisieren, und dass ihre wirtschaftliche Entwicklung dadurch beeinträchtigt würde.

André Gunder Frank (1929-2005) spitzte dieses Argument Ende der 1960er Jahre zu. Er erklärte, die Industrienationen hätten die ärmeren Länder gezielt in einen Zustand der Unterentwicklung geführt und dort gehalten. Inspiriert war seine These von der „Entwicklung der Unterentwicklung“ von einem marxistischen Blick auf den Ausbeutungsmechanismus des Kapitalismus. Aus dieser Sicht trafen die reichen Länder Entscheidungen von globaler Reichweite und legten die Handelsbedingungen fest, während die armen Nationen ungehört und damit auch unfähig blieben, ihre Lage zu ändern. Die internationale Entwicklungspolitik westlicher Regierungen und Organisationen hatte somit vor allem den Zweck, das bestehende System zu festigen, anstatt das ökonomische und politische Ungleichgewicht zu verringern.

Vom Kalten Krieg definiert

Insbesondere die US-amerikanische Regierung galt in den Augen von Kritikern als treibende Kraft hinter einer Politik, die internationale Organisationen wie den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank nutzte, um ihre strategischen und wirtschaftlichen Ziele voranzutreiben. Diese Ziele waren zu einem hohen Grad vom Kalten Krieg definiert, in dem die USA mit der Sowjetunion um globale Hegemonie konkurrierten und den Einfluss des Gegners zu begrenzen suchten. Um Unterstützung in den Ländern der sogenannten Dritten Welt zu erhalten, insbesondere in den ehemaligen Kolonien, nutzten Washington und Moskau die Entwicklungspolitik als diplomatisches Instrument. Beide Seiten investierten im Rahmen der Entwicklungshilfe in den 1950er Jahren erhebliche Summen in Asien; die neuen Nationen auf dem afrikanischen Kontinent erhielten dann im folgenden Jahrzehnt wachsende Aufmerksamkeit.

Ebenfalls in den 1960er Jahren beteiligten sich zahlreiche lateinamerikanische Länder an der sogenannten Allianz für Fortschritt. Dieses Entwicklungsprogramm, das die USA, die Weltbank und die Regierungen Lateinamerikas gemeinsam finanzierten, setzte auf öffentliche Investitionen, um die Infrastruktur auszubauen und die Industrialisierung voranzutreiben. Es ging unter anderem auf die Einschätzung von Ökonomen wie Singer und Prebisch zurück, dass die Länder des Südens unterentwickelt blieben, solange sie sich nicht industrialisierten. Die Vereinigten Staaten hofften, mit Hilfe von wirtschaftlichem Wachstum die Armut zu verringern und damit das Interesse der Menschen in Lateinamerika an sozialistischen und kommunistischen Ideen zurückzudrängen.

Ähnlich nutzte die Sowjetunion Entwicklungsprojekte in zahlreichen Ländern, um Wohlwollen für ihre politischen Ziele zu wecken und Verbündete zu gewinnen. Viele Regierungen in der sogenannten Dritten Welt erkannten in den strategischen Interessen der Supermächte und ihrer Verbündeter die Möglichkeit, sich politischen und finanziellen Einfluss und Zugriff auf wirtschaftliche Ressourcen zu sichern. So wurde die Entwicklungspolitik von mehreren Seiten instrumentalisiert; ihre konkreten Ziele – die Steigerung der Wirtschaftsleistung, die Verringerung der Armut, die Verbesserung der Lebensbedingungen – gerieten dabei häufig in den Hintergrund. Die Zweckentfremdung der Entwicklungspolitik, aber auch die Begrenzung von „Entwicklung“ auf Wirtschaftswachstum kam in den späten 1960er und 1970er Jahren zunehmend in die Kritik. Zu Beginn ihrer Unabhängigkeit waren viele arme Länder wirtschaftlich gewachsen und hatten Gesundheitsversorgung, Bildung und Infrastruktur deutlich ausgebaut. Doch der Verfall der Rohstoffpreise, innenpolitische Krisen sowie die Auswirkungen regionaler Konflikte und des Kalten Krieges führten zu Stagnation, wachsendem Unmut der Bevölkerung, zu Unruhen und Putschversuchen.

Im Laufe der 1970er Jahre kamen in Afrika und Lateinamerika vermehrt autoritäre Regierungen an die Macht, die von einer oder der anderen Supermacht gestützt wurden. Der optimistische Glaube internationaler Entwicklungsexperten und nationaler Planungsgremien, Entwicklung lasse sich mit Hilfe geschickter Planung herbeiführen, ging nach und nach verloren.

Die Industrienationen fühlten sich bedroht

Zwar gelang es Vertretern des globalen Südens, ihre Forderung nach einer gerechteren Verteilung der globalen Ressourcen und besseren Handelsbedingungen in Gremien wie der United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) gegenüber den Industrienationen zu artikulieren. Doch diese verweigerten sich deren Anliegen. Sie sahen ihre Privilegien bedroht und fühlten sich von den Auswirkungen der Ölkrise 1973 in der Wahrnehmung bestätigt, dass ihr Wohlstand vom Zugang zu günstigen Rohstoffen abhing.

Angesichts der weltweiten Rezession gewannen nun Stimmen an Einfluss, die Entwicklungspolitik für eine Vergeudung von Steuergeld hielten. Die Kritik war zum Teil mit der Forderung verbunden, die staatliche Entwicklungshilfe zu reduzieren und mehr auf das Engagement privater Investoren zu setzen. Diese Position schlug sich in den 1980er und 1990er Jahren in den Strukturanpassungsprogrammen der Weltbank und des IWF nieder, die Kreditempfängern den Abbau staatlicher Subventionen, die Privatisierung von Staatsbetrieben und die Deregulierung der Märkte vorschrieben.

Vor allem in den 1990er Jahren wurden Aspekte wie gute Regierungsführung, Menschenrechte und Geschlechterfragen wichtiger. Das Verständnis von Entwicklung wurde somit komplexer und reichte über ökonomische Fragen hinaus. Seit den 1970er Jahren hatten vor allem nichtstaatliche Organisationen (NGOs) neue Wege in der Entwicklungspraxis erprobt. Sie vertraten die Ansicht, dass es notwendig sei, die Menschen vor Ort nach ihren Bedürfnissen zu fragen und sie aktiv in dezentral organisierte Projekte einzubeziehen. Im Gegensatz zu den von Experten geleiteten Großprojekten der Vergangenheit sollte es nun in erster Linie darum gehen, die menschlichen Grundbedürfnisse (basic human needs) wie Ernährung, Gesundheit, Bildung und Arbeit zu befriedigen. Erst wenn diese erfüllt seien, besäßen die Menschen die nötige Freiheit, um ihre eigene Entwicklung voranzutreiben und damit zur Entwicklung der Gesellschaft insgesamt beizutragen, betonte der Entwicklungsökonom und Philosoph Amartya Sen.
Graswurzelprojekte waren weniger aufwendig und erforderten flexiblere Strukturen als größere Vorhaben. Damit boten sie sich für die NGOs an, die finanziell und administrativ nicht mit nationalen Regierungen und internationalen Organisationen konkurrieren konnten. Diese Arbeitsteilung weist darauf hin, dass Entwicklungspolitik stets auch ein Geschäft war, das Arbeitsplätze, Gewinnaussichten und Karrieren bot.

Autorin

Corinna R. Unger

ist Professorin für Moderne Euro­päische Geschichte an der Jacobs University Bremen und forscht zur Geschichte der Entwicklungspolitik.
Seit ihrer Entstehung haben sich Ideen von Entwicklung und die davon abgeleiteten Konzepte von Entwicklungspolitik mehrfach gewandelt. Entwicklungspolitische Ziele sind keine feste, abstrakte Größe, sondern jeweils abhängig von der politischen und wirtschaftlichen Situation der beteiligten Länder, von den ideologischen und wissenschaftlichen Annahmen der Experten, von philosophischen und strategischen Überlegungen. Wie das Beispiel der New Development Bank zeigt, verändern sich die politischen Strukturen, die die internationale Entwicklungspolitik prägen. Neue Akteure kommen hinzu und stellen etablierte Muster und Prioritäten in Frage. Auf diese Weise wandelt sich auch die Form, in der Entwicklungspolitik gedacht und praktiziert wird.

Gegenüber den vielfältigen Verschiebungen in der Entwicklungspolitik, die sich über die Jahrzehnte beobachten lassen, ist ein Aspekt jedoch auffallend stabil: die Annahme, dass Entwicklung zu mehr Wachstum und Wohlstand führt. Zwar wird seit Jahren über die Notwendigkeit „nachhaltiger“ Entwicklungspolitik gesprochen; die geplanten Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen sind das jüngste Beispiel. Doch die ökonomisch geprägte Wachstumsorientierung scheint davon weitgehend unbeeinträchtigt weiterzubestehen. Wie realistisch diese Orientierung angesichts von Klimawandel, Flüchtlingsbewegungen und wachsender wirtschaftlicher Ungleichheit ist, wird sich in Zukunft zeigen müssen.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2015: Entwicklung - wohin?
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