Zerstrittene Kampfgenossen

Krieg im Jemen
Der Krieg im Jemen erscheint wie ein Kampf zwischen Schiiten und Sunniten und zwischen dem Norden und dem Süden des Landes. Doch der Schein trügt: Beide Lager sind tief gespalten.

Nach dem „Arabischen Frühling“ des Jahres 2011 galt der Übergangsprozess im Jemen eine Zeit lang als Modellfall. Doch der von den Vereinten Nationen (UN) unterstützte Prozess entgleiste 2014. Nun ist das Land im Krieg, seit März 2015 spielt sich dort eine große Militärintervention Saudi-Arabiens und seiner Verbündeten ab. Mit Unterstützung der UN wollen die Saudis den im Sommer 2014 von den Huthi-Milizen entmachteten Präsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi wieder einsetzen und den iranischen Einfluss im Jemen zurückdrängen. Das nimmt wenig Rücksicht auf die Dynamik der Kräfte im Land. Der Jemen ist durch ein kompliziertes Geflecht von Konflikten und Feindschaften gekennzeichnet. In einer solchen Situation greift die Staatengemeinschaft gern zu Erklärungsmustern, nach denen sich zwei Seiten gegenüberstehen wie Nordjemen-Südjemen und Sunniten-Schiiten. Doch das droht das Land noch tiefer in den Krieg zu stürzen.

Der Auftakt des Krieges war die abenteuerliche Flucht des Übergangspräsidenten Hadi aus der Hauptstadt Sanaa nach Aden im Süden des Landes. Hadi, der angesichts des Vorrückens der Huthi-Rebellen sein Amt nicht mehr ausüben konnte, hatte im Januar 2015 seinen Rücktritt erklärt und war von der „schiitischen Miliz“ der Huthi in Sanaa unter Hausarrest gestellt worden. Ende Februar nutzte er die Unaufmerksamkeit seiner Bewacher, entkam durch eine Geheimtür aus seinem Palast und gelangte in die ehemalige Hauptstadt des Südjemen, aus dem er stammt.

In Aden bekräftigte Hadi, er sei weiter der nach der Verfassung legitime Präsident des gesamten Landes. Er widerrief seinen Rücktritt und erklärte Aden zur provisorischen Hauptstadt. Von dort aus wollte er die Rückeroberung des Jemen organisieren. Seine Strategie veranlasste die Huthi, weiter nach Süden vorzudringen, erst Tais einzunehmen und dann auf Aden zu marschieren. Schließlich musste Hadi aus dem Land fliehen. Er fand Zuflucht in Saudi-Arabien und forderte Riad auf, seine Macht militärisch wiederherzustellen.

Die politisch-religiöse Bewegung der Huthi ist unter den Zaiditen entstanden, jenem Zweig der Schia, der praktisch nur im Jemen vorkommt. Anders als die Mehrheit der Zwölfer-Schiiten, die insbesondere im Iran vorherrschen und zwölf Imame (Nachfolger des Propheten als Führer der Muslime) anerkennen, akzeptieren die Zaiditen nur fünf Imame. Die Huthi-Bewegung begann ihren Aufstand 2004 und hat im Laufe der Jahre an Popularität wie an Störpotenzial gewonnen. Seit Sommer 2014 konnte sie die Regierung Hadi unter Druck setzen, die Kontrolle über die Hauptstadt übernehmen, die Entlassung des Premierministers erreichen und damit einen nicht erklärten Staatsstreich durchführen.

Das war nur möglich aufgrund eines Zweckbündnisses zwischen den Huthi und dem früheren Präsidenten Ali Abdullah Saleh. Ihn hatten Proteste der Bevölkerung 2011 aus dem Amt gedrängt, doch ein großer Teil des Sicherheitsapparates hielt ihm weiter die Treue, allen voran die Republikanische Garde. Saleh und die Huthi hatten sich von 2004 bis 2010 in der Provinz Saada einen blutigen Krieg geliefert. Das Bündnis dieser früheren Gegner bot nun beiden Gelegenheit zur Rache an einem gemeinsamen Feind: der Partei al-Islah, dem jemenitischen Zweig der Muslimbrüder, die dem Präsidenten Hadi verbunden ist.

Die Huthi sind keine Marionetten Teherans

Die Machtübernahme der Huthi wurde weithin als Machtgewinn des Iran interpretiert. Hadi und die Saudis werfen Teheran vor, die „schiitischen Rebellen“ mit Geld, Waffen und Beratern zu unterstützen. Ohne Zweifel hat die Islamische Republik ihre Hand im Spiel, aber sie prägt das Muster des Konflikts nicht. Die Huthi sind keine Marionetten Teherans, sondern eine autonome Kraft mit eigener Geschichte; das Selbstverständnis der Zaiditen unterscheidet sich deutlich vom Zwölfer-Schiitentum des Iran. Der Iran begnügt sich mit Provokationen und hat kein vitales Interesse, sich stärker im Jemen zu engagieren oder die Huthi zu unterstützen.

Auch die zweite Konfliktpartei ist nicht homogen. Hadi stammt zwar aus Abyan, einem Ort 40 Kilometer östlich von Aden, aber sein politisches Ansehen im Süden ist gering. Der Jemen war bis 1990 geteilt: Der Nordjemen mit der Hauptstadt Sanaa orientierte sich via Saudi-Arabien an der westlichen Welt, während der Südjemen mit der Hauptstadt Aden die einzige sozialistische Republik der arabischen Welt darstellte. Von der Vereinigung 1990 profitierte vor allem der Norden mit seiner deutlich größeren Bevölkerung. Ein Bürgerkrieg im Jahr 1994 besiegelte die Herrschaft des Nordens über den Süden.

Die Bevölkerung des früheren Südjemen, die mehrheitlich die Zweiteilung des Landes favorisiert, hat nicht vergessen, dass Hadi während seiner Amtszeit als Präsident seit Anfang 2012 die Unabhängigkeitsbewegung des Südens unterdrückte und dass er 1994 als Verteidigungsminister Aden militärisch angreifen ließ. Zudem bestehen Spannungen zwischen Hadi und einem der wichtigsten Führer der Unabhängigkeitsbewegung des Südens, Ali Salim al-Bidh, die auf blutige Machtkämpfe im Jahr 1986 zurückgehen.

Trotz seines schwachen Rückhalts im Jemen hat Hadi weiter die Unterstützung der Staatengemeinschaft. Der UN-Sicherheitsrat hat zwar die saudische Intervention nicht ausdrücklich gebilligt, sieht aber in Hadi den legitimen Präsidenten des Jemen und gibt die Schuld am Konflikt allein den Huthi. Eine Mitte April 2015 verabschiedete UN-Resolution fordert diese auf, die Waffen niederzulegen und ihre Positionen zu räumen. Die sehr einseitige Resolution diente als Basis für Verhandlungsappelle und eine Friedenskonferenz Mitte Mai in Riad, allerdings ohne Huthi-Vertreter. In ihrer Orientierungslosigkeit haben sich die UN und die beteiligten Mächte für ein Lager entschieden und favorisieren eine Lesart des Konflikts, die nur einen Teil der Wahrheit abbildet. Mitte Juni begannen in Genf Gespräche, an denen Vertreter beider Konfliktparteien teilnahmen, sie sind aber bereits zusammengebrochen.

Hadis Übersiedlung nach Aden und das darauf folgende aggressive Vorgehen der Huthi haben diese Stadt in den Konflikt hineingezogen. Und sie haben zu einer Polarisierung geführt entlang der Gegensätze Nordjemen-Südjemen und Schiiten-Sunniten. Aden war bis dahin weitgehend unberührt von den Machtkämpfen in der Hauptstadt Sanaa zwischen den Huthi, den Muslimbrüdern, den Anhängern von Saleh und den Unterstützern von Hadi.

Die Bevölkerung des Südens, die mehrheitlich für eine Abspaltung ihres Landesteils ist, fühlte sich nicht wirklich betroffen von den Angelegenheiten des Nordens und forderte vor allem ihre Unabhängigkeit. Doch nun hat Hadi die Gewalt mit nach Aden gebracht: Der Flughafen, der mitten in der Stadt liegt, war Mitte März Schauplatz von Kämpfen zwischen Anhängern und Gegnern Hadis, und der Präsidentenpalast wurde von Kampfflugzeugen aus Sanaa bombardiert. Die Piloten waren vermutlich Offiziere, die Saleh die Treue halten und mit den Huthi verbündet sind. Vor diesem Hintergrund findet die Militärintervention, die eine Koalition aus zehn Staaten unter Führung Saudi-Arabiens und mit Unterstützung der USA und europäischer Länder führt, bei Gegnern der Huthi Anklang. Sehr viele Einwohner des Südens begrüßen das entschlossene Vorgehen des neuen saudischen Königs Salman und seines Sohnes, des Verteidigungsministers, gegen „das Krebsgeschwür der Huthi“ und seine iranischen Förderer.

Vereinfachte Deutungsmuster

Diese Neukonfiguration hat dem komplexen Konflikt simple Deutungsmuster übergestülpt, historisch-geographische und konfessionelle. Dass die Huthi zu den Schiiten gehören, dass ihnen immer wieder vorgeworfen wird, Unterstützung aus dem Iran zu beziehen, und dass sie mit den Muslimbrüdern von al-Islah rivalisieren – das verleiht dem Konflikt eine konfessionelle Färbung. Der Norden ist vom Zaidismus geprägt; er lehnt das Sunnitentum ab, das im Jemen vorherrscht, aber in Sanaa und dessen Umgebung in der Minderheit ist. Im März wurde der Huthi-Intellektuelle Abdul Karim al Khaiwani ermordet, zwei Tage später wurde ein Anschlag auf zwei Moscheen der Zaiditen in Sanaa verübt. Zu dem Anschlag mit mehr als 150 Todesopfern bekannte sich der bis dahin im Jemen nicht in Erscheinung getretene Islamische Staat. Das alles hat die konfessionelle Polarisierung weiter verstärkt.

Umgekehrt hat das Vordringen der Huthi in den sunnitischen Gebieten des früheren Nordjemen, insbesondere in Tais, schon vor der Militärintervention der Saudis für großen Unmut gesorgt. Und im Süden leben ausschließlich Sunniten. Es könnte scheinen, dass Hadi diese Identität verkörpert, zu deren Kernpunkten die Ablehnung der Huthi-Rebellion und damit der Schiiten, aber auch des Nordens insgesamt gehört.

Hinzu kommt, dass Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP) das stärkste Bollwerk gegen den Vormarsch der Huthi und damit objektiv ein Verbündeter der Saudis ist. Al-Qaida hat sich mit den Stämmen in der Grenzregion zwischen dem Norden und Süden verbündet, vor allem in den Provinzen al-Baida‘, Mar‘ib, ad-Dali‘ und der Region Yafi. Die Gegnerschaft zu den Huthi, ausgeweitet auf die Schiiten generell, fördert den Zusammenhalt.

Die Entwicklung seit März 2015 hat auch die Teilung des Landes, die vom Süden seit Jahren gefordert wird, praktisch bestätigt: Sanaa und seine Umgebung sind unter der Herrschaft der Huthi vom Rest des Landes abgekoppelt und von der Welt isoliert, abgesehen vom Iran. Die Luftangriffe haben aber den Rückhalt der Huthi in der Bevölkerung des Nordens nur gestärkt. Inzwischen scheint klar, dass Hadi niemals die Herzen der Einwohner von Sanaa und des Hochlandes, wo mehr als die Hälfte der Jemeniten leben, zurückerobern wird.

Wenn damit die Aussicht auf einen einheitlichen jemenitischen Staat auch in weite Ferne rückt, ist doch keineswegs sicher, dass die Zersplitterung wirklich zu dem führt, was sich die Sezessionisten im Süden erhoffen. Tatsächlich verschärft sie auch die inneren Spaltungen in der Bewegung des Südens. Im März 2015 boten die Huthi Ali Salem al-Bidh einen Diplomatenpass an, der es dem Führer der Unabhängigkeitsbewegung und ehemaligen Präsidenten des Südjemen ermöglicht hätte, nach mehr als zwei Jahrzehnten im Exil (in denen er vom Iran unterstützt wurde) in sein Heimatland zurückzukehren.

Der Süden ist gespalten durch die historischen Rivalitäten zwischen den Stämmen der Provinzen Abyan und ad-Dali‘ (im Norden von Aden). Die Provinz Hadramaut im Südosten geht wiederum einen eigenen Weg, sie setzt vor allem auf ihre Handelsbeziehungen zu den Golfstaaten. In Hadramaut interessiert man sich nicht allzu sehr für das, was sich zwischen Sanaa und Aden abspielt.

Auch das Lager der Huthi, das der Wunsch nach Rache an den sunnitischen Islamisten und ihren Verbündeten eint, ist nicht frei von inneren Spaltungen. Der Erfolg der Zaiditen-Milizen war nur mit Unterstützung ganzer Einheiten von Sicherheitskräften möglich, die dem 2011 gestürzten Präsidenten Saleh die Treue halten. Diese Allianz zwischen ihm und den Huthi hat sich zwar beim militärischen Vormarsch und gegen die Luftangriffe der Saudis bewährt, wird aber zwischen diesen alten Gegnern kaum von Dauer sein, zumal beide unterschiedliche Strategien verfolgen. So soll es Gerüchten zufolge wenige Tage vor Beginn der saudischen Offensive Verhandlungen zwischen Ahmed Ali, dem Sohn von Ali Abdallah Saleh, und Saudi-Arabien gegeben haben. Der Saleh-Clan soll angeboten haben, für seine Rückkehr an die Macht mit den Huthi zu brechen. Den Vorschlag haben die Saudis offenbar zurückgewiesen.

So bleibt Ali Abdallah Saleh, der in Sanaa festsitzt, nichts anderes übrig, als weiter auf die Huthi-Karte zu setzen. Für Ahmed Ali, der wahrscheinlich in den Vereinigten Arabischen Emiraten unter Hausarrest steht, gilt dies nicht. Auf seinem Posten als jemenitischer Botschafter in Abu Dhabi, auf den er 2012 unter Präsident Hadi berufen wurde, konnte Ahmed Ali bis zu seiner Entlassung 2015 wichtige Kontakte in der Region knüpfen. Er könnte durchaus eine Alternative darstellen.

Das Zweckbündnis, das sich zwischen Hadi und den Dschihadistengruppen wie Al-Qaida im gemeinsamen Kampf gegen die Huthi entwickelt, kann leicht dazu führen, dass die internationale Gemeinschaft dem geflohenen Präsidenten Hadi die Unterstützung entzieht. Und es unterstreicht, in welche Sackgasse die saudische Militärintervention führt. Die saudische Politik ist sehr kurzsichtig. Die völkerrechtliche und politische Legitimität der Militärintervention bleibt fraglich, auch wenn sie von mächtigen Verbündeten unterstützt wird.

Autor

Laurent Bonnefoy

ist Spezialist für Islamismus auf der arabischen Halbinsel. Er forscht am Centre National de la Recherche Scientifique in Paris und ist stell­vertretender Leiter des europäischen Forschungsprojekts „When Authori­tarianism Fails in the Arab World“.
Nicht fraglich ist jedoch ihre Erfolglosigkeit. Die Luftangriffe haben den Gegnern der Huthi keinen entscheidenden Vorteil gebracht. Zwei Monate nach dem Beginn der alliierten Offensive wird in Aden, das am 25. März 2015 kurz davorstand, in die Hände der „schiitischen Miliz“ zu fallen, immer noch heftig gekämpft, große Teile der Stadt sind zerstört. Dasselbe gilt für Tais, zudem sind Kämpfe an neuen Fronten aufgeflammt. Mukalla, die Hauptstadt der Provinz Hadramaut, wurde von Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel erobert. Hadi hat nach wie vor keine Aussichten, in das Land zurückzukehren, als dessen rechtmäßiger Herrscher er gilt. Sanaa bleibt fest in der Hand der Huthi und ihrer Verbündeten, die täglich auf saudisches Gebiet vordringen und sogar Raketen auf die 50 Kilometer jenseits der Grenze gelegene Stadt Nadschran abfeuern konnten.

Als Ergebnis der Intervention zeichnet sich das Gegenteil dessen ab, was die saudische Führung bezweckt. Mohammed bin Salman, dem kaum dreißigjährigen saudischen Verteidigungsminister, und seinem Vater, dem neuen König, drohen ein Schaden an Legitimität und Image. Gewiss, die weit reichenden Raketen der Huthi sind inzwischen zerstört. Doch der Preis sind eine schreckliche humanitäre Krise, fast zweitausend Tote und die dauerhafte Zerstörung des politischen Systems, der Infrastruktur und der Gesellschaft des Jemen. Diese Fehlkalkulation Saudi-Arabiens dürfte nicht nur den Jemen, sondern die gesamte Region teuer zu stehen kommen.

Aus dem Französischen von Thomas Wollermann.
 

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erschienen in Ausgabe 7 / 2015: Den Frieden fördern, nicht den Krieg
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