Dialog mit beschränkter Wirkung

Jemen
Im Jemen debattieren Abgesandte aller Regionen und Bevölkerungsgruppen über die Neuordnung des Landes. Dieser Nationale Dialog gilt als Modell für einen friedlichen Übergang zur Demokratie im Nahen Osten. Doch diese Ansicht ist voreilig.

Kann der politische Übergangsprozess im Jemen als Vorbild für den postrevolutionären Wandel in anderen Ländern der arabischen Welt dienen? Ja, erklärt der Kolumnist Thomas L. Friedman in einem Artikel mit dem Titel „The Yemeni Way“ vom Mai dieses Jahres in der „New York Times“. Andere teilen diese Einschätzung: Bereits im März 2012 schlug Außenminister Guido Westerwelle den jemenitischen Weg als mögliche Lösung für den Konflikt in Syrien vor. Beide beziehen sich vor allem auf den sogenannten Nationalen Dialog. Er ist 2011 nach zehn Monate andauernden Protesten der Opposition gegen den langjährigen Präsidenten Ali Abdallah Salih ins Leben gerufen worden, um gemeinsam mit allen Konfliktparteien auf friedliche Weise einen neuen Jemen zu schaffen.

Der Nationale Dialog ist ein zentraler Bestandteil des 2011 vom Golfkooperationsrat (GKR) ausgehandelten Übergangsprozesses, auch bekannt als die GKR-Initiative. Die Vereinbarung unterzeichnete Präsident Salih im November 2011 – im Gegenzug erhielt er Immunität für sich und seine Familie. Das Dokument enthält einen Plan für einen zweijährigen Übergangsprozess unter der Führung des ehemaligen Vizepräsidenten Abd Rabbuh Mansur Hadi. Er wurde im Februar 2012 durch eine Wahl legitimiert, bei der er gemäß Übergangsplan als einziger Kandidat angetreten war.

Autorin

Marie-Christine Heinze

ist Islamwissenschaftlerin an der Universität Bonn. Sie leitet ein von der Volkswagenstiftung gefördertes Projekt der Universität und des Yemen Polling Center zum Arabischen Frühling im Jemen.

Unterstützt wird Hadi von einer Übergangsregierung der Nationalen Einheit. Sie besteht je zur Hälfte aus Vertretern der ehemaligen Regierungspartei Allgemeiner Volkskongress (AVK) und der früheren Oppositionskoalition Parteien des Gemeinsamen Treffens (PGT). Zu letzterer gehören auch die beiden größten und einflussreichen Oppositionsparteien des Landes: die Islah-Partei (Islah heißt Reform), in der sich Muslimbrüder ebenso finden wie Stammesrepräsentanten, Geschäftsmänner und konservative Salafis; und die Jemenitische Sozialistische Partei (JSP), die ihre Wurzeln im Südjemen vor 1990 hat, als dieser ein eigenständiger sozialistischer Staat war. Hadi gehört dem AVK an, hat sich jedoch im vergangen Jahr zunehmend der Islah-Partei angenähert, um sich Unterstützung gegen den weiter von Salih dominierten AVK zu sichern.

Auch ein Umbau der Sicherheitskräfte ist im Übergangsprozess vorgesehen. Diese sind gespalten, seit sich 2011 Teile der Armee auf die Seite der Demonstrierenden stellten. Präsident Hadi hat bereits wichtige Entscheidungen getroffen, die Salihs Einfluss auf die Sicherheitskräfte geschwächt haben – vor allem durch die Versetzung mit ihm verwandter Offiziere. Unter anderem wurde sein Sohn Ahmed Ali, der das Oberkommando über die Republikanischen Garden hatte, zum neuen Botschafter in den Vereinigten Arabischen Emiraten ernannt. Zudem arbeiten Komitees im Innen- und im Verteidigungsministerium derzeit an einer Reform der ihnen unterstellten Polizei beziehungsweise des Militärs. Diese Reformen sind jedoch auch von Entscheidungen abhängig, die parallel im Nationalen Dialog getroffen werden sollen.

Komitees arbeiten an Reformen der Polizei und des Militärs

Erst in den kommenden Monaten wird sich entscheiden, wie das neue politische System des Jemen aussehen wird. Im Nationalen Dialog debattieren seit März 2013 im Mövenpick-Hotel in der Hauptstadt Sanaa 565 Teilnehmer aus allen Gouvernements und verschiedenen Parteien und Interessensgruppen in neun Komitees über die Zukunft des Landes. Die Komitees sind thematisch strukturiert und erarbeiten Vorschläge und Leitlinien für Sicherheit und Militär, nachhaltige Entwicklung, Rechte und Freiheiten, gute Regierungsführung, Strafverfolgung im Übergangsprozess (transitional justice) und nationale Versöhnung sowie Minderheiten und Unabhängigkeit der Institutionen. Verhandelt wird auch über die drei besonders heiklen Themen Staatsaufbau (hier ist derzeit eine Föderation mit fünf bis sieben Regionen im Gespräch) sowie Lösung der „südlichen Frage“ und des Konfliktes im nördlichen Gouvernement Saada.

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Die Lösung des Konfliktes in Saada ist dabei wohl das geringste Problem, da sich die dort politisch und militärisch vorherrschenden Huthi-Rebellen an dem politischen Dialog beteiligen. Ende August entschuldigte sich zudem die Übergangsregierung im Namen früherer Regierungen öffentlich für die sechs sogenannten Saada-Kriege 2004-2011 zwischen dem Regime Salih und den schiitischen Huthis, die sich diskriminiert gefühlt hatten. Die Übergangsregierung versprach, dass so etwas nie wieder geschehen werde; das hat den Weg für eine politische Lösung geebnet. Dies liegt jedoch auch daran, dass die Huthi-Rebellen das Gouvernement Saada längst militärisch und politisch kontrollieren und ihre Kontrolle aller Voraussicht nach in einem föderalen Staat werden ausbauen können. Sie streben aber nicht, wie große Teile der Bewegung im Süden, einen eigenen Staat an.

Einen Plan B gibt es nicht

Vor allem die südliche Frage stellt den Nationalen Dialog vor eine schwierige Aufgabe. Ein Großteil der Bevölkerung des Südjemen ist inzwischen für eine vollständige Loslösung vom Norden des Landes. Im Süden spricht man hier von „Befreiung“. Man unterstellt den Nordjemeniten eine grundsätzliche Unfähigkeit zu demokratischem Handeln und möchte die eigenen Geschicke lieber wieder selbst in die Hand nehmen. Dass die südjemenitische Geschichte vor der Vereinigung mit dem Norden 1990 nicht unbedingt auf friedliche demokratische Aushandlungsprozesse verweisen kann, wird hier gerne vergessen. Auch haben die Anführer der „Südlichen Bewegung“, die sich untereinander uneinig sind, bislang kein Konzept für ein unabhängiges Südarabien vorgelegt.

Dennoch ist das Misstrauen der Südjemeniten gegenüber dem Übergangsprozess nachvollziehbar. In der jetzigen Regierung sitzen die alten nordjemenitischen Eliten, und Präsident Hadi stammt zwar aus dem Süden, wird wegen seiner vielen Dienstjahre im Norden unter Ali Abdallah Salih jedoch als Teil der nordjemenitischen Gruppe wahrgenommen. Hadi hat zudem notwendige Schritte verpasst, um dem tief sitzenden Misstrauen der Südjemeniten gegenüber der nordjemenitischen Art der Regierungsführung, die bislang von Korruption und Mangel an Rechtsstaatlichkeit geprägt war, entgegen zu wirken und dem Nationalen Dialog Legitimität im Süden zu verschaffen.

Daher haben sich die südjemenitischen Delegierten Mitte August, kurz vor dem offiziellen Ende des Nationalen Dialogs am 18. September, aus diesem zurückgezogen. Auch eine Entschuldigung der Regierung für den Krieg des Nordens gegen den Süden 1994 und die daraus folgende „ungerechte Behandlung des Südens“ unter Salih konnte die südjemenitischen Delegierten nicht an den Verhandlungstisch zurückführen. Ohne eine Beteiligung des Südens aber scheitert der Nationale Dialog und damit der Übergangsprozess im Jemen, denn einen Plan B gibt es nicht.

Mühsam ist es dem UN-Sonderbeauftragten am 9. September gelungen, die Vertreter des Südens zurück an den Verhandlungstisch zu bewegen. Im Gegenzug musste die Regierung einen 1,2 Milliarden US-Dollar schweren Topf zur Entschädigung der nach dem Bürgerkrieg 1994 aus der Armee entlassenen Südjemeniten einrichten. Dies war lange eine der zentralen Forderungen der Südlichen Bewegung. Darüber hinaus ordnete Präsident Hadi an, 600 nach 1994 zwangsentlassene Armeeoffiziere und 200 Offiziere der Polizei wieder in den Dienst aufzunehmen. Schließlich wurde ein Unterkomitee im Nationalen Dialog eingerichtet, in dem acht nordjemenitische Repräsentanten mit acht südjemenitischen Delegierten direkt verhandeln. Alle weiteren Entscheidungen im Rahmen des Nationalen Dialogs, die den Süden betreffen könnten, wurden ausgesetzt. So war eine Woche vor dem offiziellen Ende des Dialogs klar, dass er nicht wie vorgesehen am 18. September beendet werden würde.

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Die politische Zukunft des Landes wird jedoch auch nach dem Nationalen Dialog lange unklar bleiben. Die dort entwickelten Lösungsansätze sind nicht bindend, sondern lediglich Richtlinien für eine im Anschluss auszuarbeitende Verfassung. Auch eine Einigung im Komitee zur Südfrage wird nur dann die Forderungen nach Unabhängigkeit vom Norden verstummen lassen, wenn zentrale Punkte tatsächlich Eingang in die Verfassung sowie die praktische Politik finden. Hierzu zählt unter anderem ein Referendum über eine mögliche Sezession nach den nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Es hat sich zudem gezeigt, dass Präsident Hadi nicht immer den im Nationalen Dialog erarbeiteten Empfehlungen folgt, sondern auch eigenmächtig Entscheidungen trifft. Für Regierungsmitglieder scheint der Nationale Dialog oft nur ein Forum zu sein, das bereits gefällten Entscheidungen Legitimität verschaffen soll. Der Zeitplan der GKR-Übergangsinitiative mit einem Verfassungsreferendum im Oktober und Neuwahlen 2014 wird sich mit Sicherheit nicht einhalten lassen. Damit verliert der Übergangsprozess auch im Norden weiter an Legitimität.

In Ministerien werden Empfehlungen aus dem Nationalen Dialog kaum registriert

Obwohl er von der internationalen Gemeinschaft als Beispiel friedlicher Konfliktlösung gefeiert wird, ist der Nationale Dialog nur ein Faktor in einem potenziell explosiven Machtspiel der politischen Eliten im Lande. Während im Mövenpick-Hotel in Sanaa die Delegierten diskutieren, findet auf Regierungsebene ein Machtkampf um Posten und Einfluss statt. Die den Parteien AVK und Islah untergeordneten Ministerien blockieren sich gegenseitig und einige Islah-Minister haben die Gelegenheit genutzt, in ihren Ministerien AVK-nahe Mitarbeiter durch Mitglieder der eigenen Partei zu ersetzen. In einigen Ministerien werden die Empfehlungen aus dem Nationalen Dialog darüber hinaus kaum zur Kenntnis genommen – hier arbeitet man lieber an eigenen, zum Teil widersprüchlichen Visionen.

Außerhalb des Regierungsapparates wird der Stellungskrieg um die zukünftige Macht im Lande auch mit Waffengewalt ausgetragen. Seit Monaten werden Anschläge auf Stromleitungen verübt, zentrale Verbindungsstraßen gekappt, Jemeniten und Ausländer entführt und hochrangige Militärs erschossen. Als Täter werden oft al-Qaida oder die al-Qaida nahestehenden Ansar al-Sharia identifiziert, oft bereits kurz nach Bekanntwerden des Anschlags. Auch auf Mitglieder der Südlichen Unabhängigkeitsbewegung wird gefeuert, und täglich werden kleine Scharmützel zwischen Rebellen, Milizen oder Stammesleuten ausgetragen – insbesondere zwischen Huthi-Rebellen und Islah-nahen Milizen. Es geht darum, die eigene Machtbasis zu festigen. In Vorbereitung auf das Ende des Nationalen Dialogs hatten sich bereits Anfang September viele bewaffnete Stammesleute in der Hauptstadt eingefunden, um den Interessen der eigenen Gruppe wenn nötig auch gewaltsam Nachdruck zu verleihen.

Was also bleibt von Friedmans „Yemeni way“ als Vorbild für andere Länder des arabischen Herbstes? Die jemenitische unabhängige Jugend zumindest hat für Friedmans Diagnose nur Hohn und Spott übrig. In einer beißenden Antwort in der „Huffington Post“ wirft die Journalistin und Aktivistin Atiaf al-Wazir der internationalen Gemeinschaft vor, den Jemeniten halbseidene Lösungen aufgezwungen zu haben. Dem Ausland gehe es weniger um eine wirkliche Demokratisierung als allein um Stabilität und die Vermeidung eines gewaltsamen Konfliktes. Die Immunität für Salih, die Ein-Kandidat-Wahl Hadis zum neuen Präsidenten und das starre Festhalten am vorgegebenen Zeitplan zeigten, dass man die Jemeniten nicht für demokratiefähig halte. Sie gingen außerdem auf Kosten eines Dialogs, der die Bevölkerung wirklich mit einbeziehe. Voreilige Erfolgsdiagnosen wie die von Friedman seien daher nicht angebracht. Der Erfolg des Nationalen Dialogs müsse nicht an der Verabschiedung von Komitee-Berichten, einer neuen Verfassung und erfolgreichen Wahlen 2014 gemessen werden, sondern daran, inwiefern es den Jemeniten gelinge, einen neuen Gesellschaftsvertrag zwischen der Bevölkerung und den Eliten auszuhandeln. Immerhin habe aber die Beteiligung der Jugend am Nationalen Dialog zu einer neuen Kultur des Dialogs der Konfliktparteien untereinander geführt, schreibt al-Wazir in einem Bericht der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ob diese neue politische Kultur auch außerhalb des Mövenpick-Hotels und über das Ende der Konferenz hinaus Bestand haben wird, ist derzeit jedoch völlig offen.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2013: Landrechte: Auf unsicherem Boden
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