Wenn Grübeln zum Zwang wird

Depression und Armut
An Depressionen leiden Arme öfter als Wohlhabende – und bei ihnen werden sie selten behandelt. Neue Formen der Therapie müssen an das
wirtschaftliche und kulturelle Umfeld angepasst werden.

Die Armen der Welt, ob sie in städtischen Elendsvierteln oder in abgelegenen ländlichen Regionen leben, brauchen in erster Linie Nahrung, sauberes Wasser und Basismedikamente. Vor diesem Hintergrund erscheint es unangebracht, die seelische Gesundheit in Entwicklungsländern zu einem vordringlichen Anliegen zu machen. Doch psychische Erkrankungen kommen nicht nur in den Industrienationen vor: Depressionen etwa sind in armen Ländern weit verbreitet. Sie verursachen nicht nur seelisches Leid, sondern auch volkswirtschaftliche Kosten. Denn sie beeinträchtigen die Fähigkeit der Menschen, ihren Alltag in den Griff zu bekommen, Geld zu verdienen und ihre Familie zu versorgen.

Die Behandlung von Depressionen in Entwicklungsländern steigert denn auch erwiesenermaßen die wirtschaftliche Produktivität, insbesondere bei den am meisten benachteiligten Menschen. Laut einer Studie in Uganda verbesserte eine Gruppen­therapie für depressive Frauen ihre Fähigkeit, wirtschaftlich aktiv zu werden; in Indien konnten Patienten nach einer Behandlung an mehr Tagen ihrer Arbeit nachgehen als zuvor.

Depressionen sind laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die „weltweit führende Ursache für Behinderungen“. Rund 350 Millionen Menschen leiden darunter, vor allem die Armen. Eine Meta-Analyse der katholischen Universität Löwen (Belgien) von 56 epidemiologischen Studien ergab, dass überall die Wahrscheinlichkeit, an einer schweren Depression zu erkranken, unter den sozial und wirtschaftlich Schwächsten um ein Vielfaches höher lag als bei den Wohlhabenden. In Entwicklungsländern werden Depressionen und psychische Erkrankungen durch Konflikte, extreme Armut und andere Krisen verschlimmert. In Uganda etwa, wo es häufig zu Unruhen kommt und Aids weit verbreitet ist, sind zwischen 21 und 25 Prozent der Bevölkerung depressiv; weltweit liegt die Erkrankungsrate bei zehn Prozent.

Sechs Psychiater für eine Bevölkerung von zwölf Millionen

Die große Mehrheit der psychisch Kranken wird nicht behandelt – in Entwicklungsländern sind es mehr als 80 Prozent. Das hat vor allem zwei Ursachen. Erstens manifestieren sich psychische Erkrankungen in den verschiedenen Kulturen auf unterschiedliche Weise. Ihre Therapie im ugandischen Kampala erfordert andere Methoden als in Princeton, New Jersey. Und zweitens fehlen in armen Ländern psychologische Fachkräfte. In Ländern mit hohem Einkommen kommen 10,5 Psychiater auf 100.000 Personen, in Ländern mit niedrigem Einkommen liegt der Durchschnitt bei 0,06. In ganz Ruanda praktizieren sechs Psychiater bei einer Bevölkerung von fast zwölf Millionen, in Ghana sind es zwölf für 26 Millionen Ghanaer. In staatlichen Gesundheitseinrichtungen und ländlichen Gebieten arbeiten durchschnittlich sogar noch weniger dieser Fachärzte.

In den vergangenen Jahren haben Forscher im Bereich der psychischen Gesundheit weltweit begonnen, Behandlungspakete zu entwickeln, die beide Schwierigkeiten berücksichtigen: die kulturelle Angemessenheit von Therapien und die Arbeit in einem Umfeld, in dem nur wenige Mittel zur Verfügung stehen. So wie Ärzte einen individuellen Behandlungsplan für jeden Patienten aufstellen, passen die Wissenschaftler nun ihre Screening-Instrumente und ihre Therapien an spezifische kulturelle Umfelder an und ziehen sozioökonomische Risikofaktoren in Rechnung. In Simbabwe etwa gibt es das Programm „Friendship Bench“ (Freundschaftsbank) zur Behandlung von Kufungisisa, was in der Sprache Shona „zu viel nachdenken“ bedeutet – ein Zustand, den man im Westen als Depression bezeichnen würde. Im Laufe von sechs Therapiesitzungen helfen Laien Patienten dabei, Lösungen für ihre psychosozialen und finanziellen Probleme zu finden, Bewältigungsstrategien für ihre Angst zu entwickeln und sich an Aktivitäten zu beteiligen, die ihre Genesung unterstützen.

Diejenigen, die an Kufungisisa leiden, unterscheiden sich von Patienten im Westen insofern, da sie selten emotionale, sondern vielmehr körperliche Symptome wie Erschöpfung und Kopfschmerzen zeigen und diese häufig auf übernatürliche Einflüsse sowie soziale und wirtschaftliche Stressfaktoren zurückführen. Solche kulturellen Vorstellungen sind in einen Symptomfragebogen für Patienten in Simbabwe eingeflossen, der es Ärzten ermöglicht, Depressionen genauer zu erkennen.

Symptome von Kufungisisa

Ein Team von Gesundheitsfachkräften und interdisziplinären Forschern von der Columbia University und der Johns Hopkins University untersuchte 2002 und 2003 in Uganda die Erscheinungsformen depressiver Symptome. Sie wollten eine Grundlage schaffen, um eine evidenzbasierte Behandlung für psychische Gesundheit zu adaptieren und zu testen. Dabei stellten sie fest, dass depressive Symptome als „y’okwetchawa“ und „okwekubaziga“ beschrieben wurden, was in der lokalen Sprache Luganda so viel wie „Selbstverachtung“ und „Selbstmitleid“ bedeutet.

Laut ihren Untersuchungen zählten zu den besonderen Auslösern von Depressionen in diesen Gemeinschaften zwischenmenschliche Probleme, vor allem solche, die durch die Aidsepidemie bedingt sind. Dazu gehören der Verlust von geliebten Menschen, der Verlust der Unterstützung von Freunden und der Familie und der Verlust der Arbeit. Die Patienten gaben an, dass die schlimmsten Folgen der depressiven Symptome mit ihrer Unfähigkeit zu tun hätten, sich aktiv in ihre Gemeinschaft einzubringen, sich wirtschaftlich zu betätigen und für andere zu sorgen.

Das Forschungsteam entschied sich daher zur Einführung und Anpassung einer Behandlung, die zwischenmenschliche Probleme angeht, im Gegensatz zur im Westen weit verbreiteten kognitiven Verhaltenstherapie, die sich darauf konzentriert, negative Denkmuster und Gewohnheiten zu ändern. Auf diese Weise könnten Gesundheitsfachkräfte direkt bei den lokalen Vorstellungen, Auslösern und Folgen von psychischen Erkrankungen ansetzen. Die ausschließliche Anwendung von westlichen Diagnosekriterien hätte zur Folge, dass viele dieser Patienten in Uganda übersehen oder fortgeschickt würden.

Programme zur Behandlung psychischer Krankheiten müssen nicht nur die Kultur, sondern auch lokale Risikofaktoren berücksichtigen. In Simbabwe stellten Wissenschaftler fest, dass Patienten, die hungern und in finanzieller Unsicherheit, eher eine Depression entwickeln und länger daran leiden. Darüber hinaus haben viele Kufungisisa-Patienten Aids, was weitere soziale und wirtschaftliche Belastungen mit sich bringt. Das Forschungsteam erweiterte deshalb das Therapieprogramm der „Friendship Bench“ um eine „Maßnahme zur Verhaltensaktivierung“. Damit können sich HIV-positive Patientinnen an einem Einkommen schaffenden Projekt wie der Herstellung und dem Verkauf von Handtaschen beteiligen. Das erfüllt einen doppelten Zweck: Es verringert die Geldnot, die möglicherweise das Gesundwerden verhindert, und verleiht inneren Auftrieb, der die Genesung verstärkt.

Wenn es darum geht, Behandlungen in einem an Ressourcen armen Umfeld anzubieten, besteht die Aufgabe allerdings darin, genügend Ärzte zu finden, die Patienten beraten und behandeln. In Ghana können zwölf Psychiater einem Land mit fast 26 Millionen Einwohnern keine angemessene Versorgung bieten. Die Antwort auf das Problem könnte der Einsatz gut geschulter Laien sein. Verschiedene Studien zeigen, dass dieses System funktioniert. Die Laien werden ihren Kenntnissen und Fertigkeiten entsprechend mit einem Teil der Behandlung betraut. Jeder kann für die Beratung geschult werden, Medikamente dürfen jedoch nur approbierte Ärzte verschreiben.

Mehrere Studien haben die Wirksamkeit dieses mehrstufigen Systems der psychischen Gesundheitsfürsorge in Entwicklungsländern belegt. So wird das Programm „Friendship Bench“ in Simbabwe in erster Linie von Laien verwirklicht, obwohl es von Psychiatern und Psychologen beaufsichtigt wird. Es basiert auf dem Erfolg der Programme, die in einer großangelegten Untersuchung in Indien evaluiert wurden. Bei diesen Therapieangeboten wurden Laien darin geschult, Patienten zu betreuen und über Angst, Depression und Psychotherapie aufzuklären. Hausärzte und Psychiater übernahmen die Diagnose und verschrieben die Medikamente, vor allem bei Patienten mit ernsteren Erkrankungen.

Autoren

Catherine Thomas

forscht an der Princeton University und am Busara Center for Behavioral Economics in Nairobi, Kenia.

Johannes Haushofer

ist Dozent für Psychologie und Public Affairs an der Princeton University.

Die Studie zeigte, dass die Intervention sowohl bei der Behandlung von Depressionen als auch bei der Steigerung der Produktivität wirksam war: Bei Patienten in der Therapiegruppe fielen vier bis fünf krankheitsbedingte „Arbeitsunfähigkeitstage“ oder Arbeitsausfalltage weniger pro Monat an. In einem anderen Programm in Uganda – „StrongMinds“ – erzielten Laien mit einer Gruppentherapie bemerkenswerte Erfolge. Die Teilnehmer konnten sich zum Teil aus der Arbeitslosigkeit befreien, sich beruflich selbstständig machen und mehr Geld zurücklegen. 

Die Mehrheit der Entwicklungsländer ist im Bereich der psychischen Gesundheit jedoch nach wie vor unterversorgt. Der nächste Schritt besteht darin, zu ermitteln, wie diese Versorgung schnell ausgeweitet werden kann, damit nicht nur ein paar Tausend, sondern Millionen Menschen erreicht werden. Neben dem Einsatz von Laienhelfern im klinischen Umfeld sind gemeinschaftsbasierte Lösungen vielversprechend. „StrongMinds“ in Uganda etwa hat das Ziel, Laien zu schulen, damit sie anschließend andere in Beratungstechniken anleiten können. Das Programm stärkt Gemeinschaften, indem es ihnen die Fähigkeiten vermittelt, ihren eigenen Bedarf an Hilfe zu decken. Solche Behandlungsmodelle bedeuten nicht, dass psychologische Fachkräfte überflüssig wären – sie werden dringend gebraucht, vor allem in den ärmsten Teilen der Welt. Doch mit Hilfe dieser Modelle können die Experten mehr Menschen erreichen.

Ob mit gemeinschaftsbasierten Modellen oder im Rahmen von stärker formalisierten Gesundheitssystemen: Die psychische Gesundheitsvorsorge in Entwicklungsländern kommt dem Einzelnen ebenso zugute wie der gesamten Gesellschaft. Sie ist also nicht nur eine humanitäre Frage, sondern auch ein entscheidender Faktor, um die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes zu fördern.

Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner.
Der Text ist zuerst in Foreign Policy erschienen.

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erschienen in Ausgabe 7 / 2015: Den Frieden fördern, nicht den Krieg
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