Neue Köpfe, alte Sitten

Südafrika steckt in der Krise und der Ruf nach einer neuen, sauberen Regierung wird lauter. Doch das allein wäre kein Ausweg aus der Misere – das Problem liegt tiefer.

Südafrika steht vor zahlreichen Problemen – allerdings nicht ganz so vielen, wie die Medien und so manche Kommentatoren glauben machen wollen. Viele Meinungsführer sind nämlich überzeugt, dass Südafrikas Demokratie scheitern wird, und übertreiben deshalb die derzeitige Krise. Doch selbst wenn man diese Übertreibung abzieht, gibt es in der Gesellschaft großen Korrekturbedarf. Aus der Sicht der meisten Südafrikaner krankt das Land daran, dass es sich zu sehr verändert hat. Doch ein Blick unter die Oberfläche zeigt, dass es sich noch nicht genug gewandelt hat.

Einige Schlüsselinstitutionen, die eine Demokratie für ihr Funktionieren benötigt, scheinen das Ziel von Angriffen zu sein, um sie zu schwächen. Das gilt besonders für die nationale Anklagebehörde, die für die Verfolgung von Straftaten zuständig ist, aber auch die Polizei ist betroffen. Hochrangige Mitarbeiter wurden bezichtigt, gegen Vorschriften verstoßen oder sich strafbar gemacht zu haben. Liberale Parteien und Interessengruppen haben Verfahren gegen die Regierung angestrengt, um einzelne Ernennungen anzufechten oder unter Beschuss stehende Amtsträger zu schützen.

Das südafrikanische Finanzamt SARS (South African Revenue Service), das Steuern und Zölle eintreibt und als erfolgreichste Behörde der Regierung gilt, wird von inneren Zerwürfnissen geplagt. Sie haben schon einige der erfahrensten Ermittler den Job gekostet. Der staatliche Energieversorger Eskom, aufgrund zahlreicher Stromausfälle in der Kritik, erlebt Konflikte im Vorstand und im gehobenen Management. Der nationale Rundfunk (South African Broadcasting Corporation) ist ebenfalls seit einiger Zeit Schauplatz heftiger interner Querelen.

Über die Ursachen sind sich die meisten Medien und Kommentatoren einig: Die Regierungspartei African National Congress (ANC) im Allgemeinen und Präsident Jacob Zuma im Besonderen versuchen, Institutionen zu schwächen, die ihre Macht begrenzen. Diese Interpretation besagt auch, dass sich die Demokratie in Südafrika zu stark gewandelt habe: Sie wird von gierigen Politikern missbraucht, die sich an die Macht klammern und damit das Land auf Abwege führen.

Wie häufig steckt in der gängigen Meinung ein Körnchen Wahrheit. Institutionen der Demokratie sind tatsächlich unter Beschuss geraten und manche Politiker in der Regierungspartei sehen ihr Amt in der Tat als Mittel, sich auf Kosten der Gesellschaft zu bereichern. Zugleich werden damit aber wichtige Aspekte der Realität verkannt. Berücksichtigt man sie, dann wird deutlich, dass die heutigen Probleme tief in der Vergangenheit des Landes wurzeln, das sich bei weitem noch nicht genug verändert hat.

Muster aus der Vergangenheit

Zwei Muster aus der Vergangenheit verbergen sich hinter den Versuchen, die Institutionen zu schwächen. Zum einen blieb Südafrika nach dem Ende der Apartheid 1994 zwar ein Bürgerkrieg zwischen den ethnischen Gruppen erspart. Doch Konflikte zwischen bewaffneten Kräften, die mit politischen Organisationen verbunden waren, sind ein wesentlicher Teil der südafrikanischen Geschichte. Auf allen Seiten war der Grat zwischen bewaffneter politischer Aktion und Kriminalität stets sehr schmal. Und einige dieser Verhaltensmuster sind in die Institutionen eingeschleppt worden, deren Aufgabe es ist, Verbrechen zu bekämpfen und die Bürger zu schützen – insbesondere die Polizei und den Sicherheitsapparat.

Fraktionskämpfe und Querelen sind weit verbreitet, wo Netzwerke um Macht rangeln – manchmal verfolgen sie politische Ziele, manchmal persönliches Gewinnstreben und manchmal beides. Da die Fraktionen sich heute an Spielregeln der Demokratie halten müssen und Konflikte nicht mehr mit Waffen austragen können, kommen verdeckte, manchmal heimtückische Mittel zum Einsatz: Gegner werden des Fehlverhaltens beschuldigt, um sie auszuschalten. Und so werden die Sicherheitskräfte und -einrichtungen von inneren Grabenkämpfen geschwächt, bei denen Rufmord an die Stelle echter Morde tritt. Das Problem mag dadurch verschärft werden, dass Präsident Zuma als früherer Leiter des ANC-Geheimdienstes den Sicherheitsbehörden nahe steht. Doch verursacht hat er es nicht.

Das zweite Verhaltensmuster findet sich in Wirtschaft und Gesellschaft. Bis 1994 wurde Südafrika von einem Club beherrscht, der ausschließlich aus Weißen bestand. Seit Einführung der Demokratie hat er sich neuen Mitgliedern geöffnet: Es wurden einige Schwarze zugelassen. Aber der Club ist immer noch exklusiv und viele Bürger stehen außerhalb. Das bedeutet nicht, wie manche Linke gerne sagen, dass alles gleich geblieben wäre. Die Aufnahme neuer Mitglieder macht einen großen Unterschied. Es gibt jetzt eine Schicht von schwarzen Geschäftsleuten und Selbstständigen, die vor 1994 kaum existierte. Sie hat das Leben von Millionen Menschen verändert.

Die neue politische Klasse

Nicht geändert hat sich jedoch, dass in Wirtschaft und Gesellschaft nur eine Minderheit Zugang zu Wohlstand hat und darüber entscheidet, was akzeptabel ist. Armut und Ungleichheit bestehen fort und auch viele Haltungen, die der Apartheid zugrunde lagen – nicht zuletzt die Vorstellung, dass eine kleine Gruppe von Leuten an der Spitze der Wirtschaft weiß, was für alle anderen gut ist. Die Wirtschaft ist nicht im Entferntesten so stark vom Wettbewerb geprägt, wie sie es sein sollte – es ist für Außenseiter noch immer schwierig, einen Fuß in die Tür zu bekommen. Auch die Art und Weise, wie Schwarze in die großen Unternehmen des Landes aufgenommen wurden, hat tendenziell die Kluft zwischen denen drinnen und jenen draußen verstärkt.

Es mangelt nicht an schwarzen Südafrikanern mit Geschäftssinn, aber nicht sie haben am meisten von den neuen Chancen profitiert. Stattdessen hat man politisch gut vernetzte Leute in die Vorstände der Unternehmen aufgenommen, die wirtschaftliche Macht ausüben. Das kommt der neuen politischen Klasse zupass, aber auch den Firmen selbst, denn schwarze Geschäftspartner mit guten Verbindungen in die Politik können Türen zu Entscheidungsträgern in der Regierung öffnen. Und so bleibt das alte Muster bestehen: Beziehungen sind wichtiger als Sachverstand. Erfolg in der Wirtschaft hängt nicht von neuen Ideen und Unternehmen ab, sondern davon, sich in das Bestehende nahtlos einzugliedern.

Auch Gewerkschaften sind von diesem Problem nicht frei. Nach der Einführung der Demokratie wurde das Gewerkschaftswesen für viele Arbeiterführer ein Vehikel für den Aufstieg in die Mittelklasse. Für manche ging es mehr darum, auf der sozialen Leiter nach oben zu klettern, als die Interessen der Arbeiterschaft zu vertreten. Für viele ist es auch ein Weg in das Unternehmensmanagement. Das führt zu Spannungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung, die immer noch die größte organisierte Gruppe in der Gesellschaft ist. Es droht sogar die Spaltung des größten Gewerkschaftsbundes des Landes, Cosatu, der mit dem regierenden ANC verbündet ist. Vorgeblich dreht sich der Streit um das Verhältnis zum ANC. Doch dicht unter der Oberfläche wirken die wirtschaftlichen Interessen von Gewerkschaftsmitgliedern, die um den Aufstieg in die Mittelschicht konkurrieren.

Kriminelle Netzwerke und kommerzielle Interessen

Diese ererbten Muster belasten nun einige Institutionen. Unterlagen, die verschiedene Parteien für Strafverfahren erstellt haben, legen nahe, dass das Finanzamt SARS Opfer einer toxischen Mischung aus kriminellen Netzwerken und kommerziellen Interessen innerhalb wie außerhalb der Regierung geworden ist. Syndikate, die am Zigarettenschmuggel verdienen, verbünden sich mit Personen aus Sicherheitskreisen, um die Steuerbehörde zu schwächen, damit sie nicht wirksam gegen sie ermitteln kann. Auch private Unternehmen spielen eine Rolle. Die beliebte Erklärung, der Staatspräsident schwäche die Behörde, damit seine persönlichen Finanzverhältnisse nicht untersucht werden, verkennt wohl eine komplexe Mischung aus all den genannten Faktoren: Bündnisse zwischen Sicherheitskräften und kriminellen Organisationen sowie Privatunternehmen, die speziellen Zugang zur Regierung suchen.

Das Theater beim Stromversorger Eskom dürfte zeigen, in welchem Ausmaß alte ökonomische Muster bestehen bleiben, nun aber neue Beteiligte einbeziehen. Es gibt Beweise dafür, dass hinter dem Konflikt konkurrierende Bündnisse zwischen hochrangigen Beamten und Unternehmen der Privatwirtschaft stehen. Einzelne Mitarbeiter in Schlüsselpositionen sind möglicherweise bemüht, das Geschäft zum Vorteil einzelner Firmen zu steuern, weil sie sich davon persönliche Vorteile versprechen. Auch hier ist die Einrichtung als solche bedroht, jedoch eher wegen der althergebrachten Formen des Zugangs zu Wohlstand als von Seiten der Regierungspartei und den Präsidenten. Mitglieder des ANC mögen von diesen Absprachen profitieren. Doch die sind viel zu sehr mit der Art und Weise verquickt, wie die Gesellschaft seit vielen Jahren Geschäfte tätigt, als dass sie einem Beteiligten alleine in die Schuhe geschoben werden könnten.

Diese Muster bedrohen das Funktionieren von Institutionen, die die Bürger schützen oder grundlegende Dienste für sie erbringen sollen. Sie höhlen die Demokratie aus, indem sie öffentliche Entscheidungsprozesse privaten Interessen unterwerfen. Aber das ist nichts Neues. Das Problem ist nicht, dass die neuen Institutionen der Demokratie Politikern in die Hand gefallen sind, die sie missbrauchen; es liegt vielmehr darin, dass die Institutionen Schwierigkeiten haben, dem Druck zu widerstehen, den der Club von Insidern auf sie ausübt. Dann ist aber auch die Lösung fragwürdig, die Anhänger der populären Erklärung für das Problem anbieten. Viele bestehen darauf, es könne gelöst werden, wenn Präsident Zuma nicht mehr Präsident ist oder wenn der ANC durch eine andere Regierungspartei ersetzt wird. Die Analyse legt jedoch nahe, dass das Problem auch bestehen bliebe, wenn Zuma ausgetauscht oder der ANC nationale Wahlen verlieren würde. Es würden dann nur andere Personen verantwortlich gemacht.

Kurz- und langfristige Lösungen

Kurzfristig hängen Lösungsansätze davon ab, wie stark öffentlicher Druck – vor allem über die Medien – die Verantwortlichen für die jeweiligen Institutionen dazu bringen kann, diese nach Kräften zu schützen. Ein erster Erfolg ist, dass das Finanzministerium einen Beirat zur Überwachung der Steuer- und Zollbehörde ernannt hat; sein Vorsitzender ist ein weithin respektierter und als politisch unabhängig geltender Richter. Ein weiterer Fortschritt ist vielleicht, dass ein Manager mit Erfahrung in der Leitung einer anderen öffentlichen Körperschaft an die Spitze von Eskom gesetzt wurde. Die südafrikanische Demokratie mag Menschen auf der Graswurzelebene nicht so gut erreichen, wie sie es sollte. Aber sie ist in der Mittel- und Oberschicht lebendig, und das kann den Angriff auf die Institutionen aufhalten oder abbremsen.

Autor

Steven Friedmann

ist Professor für Politikwissenschaft und Leiter des Centre for the Study of Democracy an der Rhodes University in Grahamstown.
Langfristig besteht die Lösung darin, von der Kontrolle durch einen exklusiven Club wegzukommen. Wir sollten uns in Richtung auf eine Wirtschaft und Gesellschaft bewegen, die viel mehr Menschen einbindet und Wohlstand unabhängig von Beziehungen zwischen öffentlichen und privaten Netzwerken verteilt. Das erfordert Reformen, um die Kluft zwischen denen an der Spitze der Gesellschaft und denen ganz unten zu schließen und Chancen für mehr Menschen zu schaffen. Nötig sind auch strengere Kontrollen, um Wohlhabenden die Einflussnahme auf öffentliche Entscheidungen zu erschweren. Ein guter Anfang kann ein Gesetz sein, dass private Spenden an Politiker und politische Parteien offenzulegen sind. Gegenwärtig werden sie gar nicht kontrolliert.

Eine solche Lösung kann keine einzelne Gruppe – Regierung, Wirtschaft, Arbeiterschaft oder andere gesellschaftliche Interessengruppen – vorschreiben. Denn alle brauchen einander. Und weil, die, die das Problem angehen müssten, auch zum exklusiven Club gehören, müssten alle etwas von ihrem Besitzstand aufgeben.

Eine langfristige Lösung erfordert deshalb Verhandlungen, die sich vermutlich über einige Jahre hinziehen und in denen führende Vertreter von Gesellschaft und Wirtschaft Kompromisse finden, die für beide einen neuen Kurs festlegen. Die Kompromisse, die 1994 zur Demokratie geführt haben, waren ein bedeutender Durchbruch, aber einige entscheidende Aufgaben wurden damals nicht bewältigt. Die wichtigste ist, eine wirtschaftliche und soziale Entsprechung für den damals erreichten politischen Kompromiss auszuhandeln. 1994 wurde das politische System für alle geöffnet – jetzt braucht die Wirtschaft dieselbe Kur.

 
 
 
 

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erschienen in Ausgabe 6 / 2015: Indien: Großmacht im Wartestand
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