Ein Dach über dem Kopf bei „Bruder Sturm“

Die einen sagen, Fray Tomás ist ein mutiger Mann. Andere finden, er ist schlicht lebensmüde. Der Franziskaner leitet die Migrantenherberge „Die 72“ im südmexikanischen Tenosique. Sein engster Mitarbeiter hat den Druck nicht ausgehalten.

Einer hatte es überlebt. Einer von 73. Als der Kugelhagel auf der abgelegenen Ranch vorbei war, stellte sich der junge Ecuadorianer tot. Tage später schleppte er sich schwer verletzt zu einer Station des mexikanischen Militärs. Trotz Unterstützung der Luftwaffe konnten die Soldaten das Gelände erst nach einem mehrstündigen Feuergefecht einnehmen. Das war vor vier Jahren.
Die Migranten waren ohne Papiere auf dem Weg in die USA, als Mitglieder des mächtigen Drogenkartells Los Zetas sie entführten. Die Mittel- und Südamerikaner weigerten sich, Wegzoll für das Passieren des Zeta-Territoriums zu zahlen. Deshalb wurden sie umgebracht.

Seitdem trägt die Migrantenherberge im südmexikanischen Tenosique den Namen „Die 72“. Und ihr Leiter, Fray Tomás, kämpft mit seinen inneren Dämonen. „Natürlich habe ich Angst, wenn mich eine Drohung erreicht“, sagt der 40-Jährige. „Dann kann ich nicht einschlafen und lausche angespannt jedem Geräusch auf dem Dach. Angst zu haben ist natürlich, aber ich glaube, dass die Kraft etwas Neues aufzubauen, stärker ist.“ 

Im vergangenen Jahr zwangen eben jene Zetas zwei Migranten, Fray Tomás eine Botschaft zu überbringen: „Sagt dem Pater, dass wir seinen Kopf wollen.“ Die Drohungen gegen ihn und sein Team werden mündlich ausgesprochen, sie kommen per Telefon und E-Mail. „Absender sind die Kartelle, aber auch das Militär und die Polizei“, sagt Fray Tomás. Sein engster Mitarbeiter tauchte für einige Monate in den USA unter, weil er um sein Leben fürchtete.

Fray Tomás ist im Dauereinsatz. Auf dem gut 10.000 Quadratmeter großen Gelände der Migrantenherberge ist er überall zu finden. Wenn er nicht gerade Lebensmittel einkauft, erklärt er den Arbeitern, wie er sich den künftigen Schlafsaal vorstellt. Den freiwilligen Helfern stellt er die strengen Regeln in der Herberge vor – „Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit und keine Drogen!“ Und vor der Essensausgabe fordert er die etwa 300 Migranten auf, sich gegenseitig zu unterstützen auf ihrem langen Weg in die USA: „Spart euch das Geld für die Schlepper und investiert es lieber in ein Hotelzimmer mit Frühstück.“ Und zwischendurch beantwortet er  – etwas einsilbig – die Fragen der zahlreichen Journalisten.

Ein Ort ohne Grenzen für die Flüchtlinge

Eine Matratze auf dem Steinboden, dreimal am Tag Reis mit Bohnen, eine medizinische Grundversorgung und ein wenig Beistand. Das Angebot in Tenosique ist einfach – und ein Segen für die Migranten. Denn sie sind seit vielen Tagen unterwegs, ohne Schutz und Bleibe, sie haben Grenzen ohne Papiere passiert, immer auf der Hut vor Polizisten und Kartellmitgliedern. Hier in der Herberge, die im Bundesstaat Tabasco an einer Güterzugstrecke in Richtung Norden liegt, sind sie Menschen, keine Illegalen oder Kriminellen. „Die Herberge ist ein Zufluchtsort“, sagt Fray Tomás in seiner kurzen Pause, „und es ist ein Ort ohne Grenzen, ein autonomes Gebiet inmitten des mexikanischen Territoriums.“

Dass Nächstenliebe gleichermaßen Motiv und Instrument sein muss, um politische Zustände zu ändern – diese Einschätzung macht Fray Tomás so prominent im eingeschüchterten Mexiko dieser Tage. Und genau deshalb lebt er so gefährlich und riskiert jeden Tag aufs Neue sein Leben. Seine Reden haben ihm den Namen „Bruder Sturm“ eingebracht. Ein treffender Name? Fray Tomás überlegt nicht lange. „Ich will für niemand ein Sturm sein. Doch wenn die Menschenrechte gebrochen werden, wenn getötet wird, dann dürfen wir nicht schweigen“, sagt er. Die Migrationspolitik Mexikos und der USA verurteilt er als „todbringend“. Die Regierungen setzten auf Repressionen und Abschottung, „statt für den dringend benötigten Schutz der Migranten auf ihrem Weg in den Norden zu sorgen.“

Fray Tomás sieht ein bisschen aus wie aus der Zeit gefallen. Sein Körper steckt in einer zu großen braunen Kutte der Franziskaner, die von einem weißen Strick über dem Bauch zusammengerafft wird, er trägt einfache Sandalen aus Leder. Doch seine Predigt im ökumenischen Gottesdienst ist höchst aktuell. „Ihr Migranten geht den wahren Kreuzweg“, sagt Fray Tomás. „Ihr flieht vor der Gewalt, weil ihr zur Todesstrafe im eigenen Land verdammt seid. Eure Regierungen haben euch verraten, auch weil sie gut von euren Geldsendungen aus den USA leben.“ Ist das noch ein politischer Gottesdienst oder schon ein christlicher Aufruf zum Ungehorsam? Der Andrang ist so groß, dass nicht alle Besucherinnen und Besucher in die Kirche hineinpassen, die nachts zum Schlafsaal wird.

"Die mexikanischen Behörden sind selbst in die Entführungen verstrickt"

Geboren wird Tomás González Castillo 1973 in Mexiko. Als er auf der Oberschule Mitglieder des Franziskaner-Ordens kennenlernt, verändert das sein Leben. Der 18-Jährige ist fasziniert von ihrem asketischen Leben und ihrem Einsatz am Rand der Gesellschaft. Aus Tomás González wird Fray Tomás, ein Franziskanermönch. Er arbeitet in verschiedenen Städten, bis er im Jahr 2010 die Leitung einer Gemeinde in Tenosique übernimmt. Mit der an die Kirche angebundene Migrantenherberge zieht er vor die Tore der Stadt: Unterkunft gibt es nun nicht mehr für vereinzelte Reisende, sondern für Dutzende Männer, Frauen und Kinder auf dem Weg nach Norden.

Autoren

Kathrin Zeiske

ist freie Journalistin und berichtet aus Mexiko und Mittelamerika.

Øle Schmidt

arbeitet als freier Journalist in Lateinamerika und Asien.
Fray Tomás’ Verständnis von religiöser Arbeit kollidiert mit der frommen Innerlichkeit vieler Christen in Europa. Das zeigt sich auch, wenn er die staatlichen Autoritäten kritisiert. Vor zwei Jahren kettete er sich an die Absperrgitter der Migrationspolizei, um gegen deren Einsätze auf den Gleisen zu protestieren. Der Hintergrund: Aus Angst vor Abschiebung in ihre Heimatländer springen immer wieder erschrockene Migranten vom Dach der fahrenden Güterzüge, mit denen sie in die USA gelangen wollen, – und verlieren Arme und Beine, wenn sie unter die Räder geraten.

Auch immer mehr Kinder und Jugendliche machen sich auf den Weg in die Vereinigten Staaten. Die Debatte darüber nennt Fray Tomás heuchlerisch. „Um eine humanitäre Katastrophe abzuwenden, schiebt die Regierung Obama die vielen jungen Migranten in ihre Heimatländer ab – mit der zynischen Bitte, dass die Eltern ihre Kinder nicht mehr auf diese mörderische Reise schicken sollen“, sagt er. „Wie wäre es, wenn die Vereinigten Staaten die soziale und wirtschaftliche Entwicklung Mittelamerikas unterstützen würden, statt noch mehr Grenzzäune und Grenzsoldaten zu bezahlen?“

Jedes Jahr „verschwinden“ Tausende Migrantinnen und Migranten auf ihrem Weg in den Norden. Fray Tomás ist sich sicher: „Wenn es dem organisierten Verbrechen gelingt, 20.000 Migranten pro Jahr zu entführen, dann nur mit dem Einverständnis der Autoritäten.“ Die mexikanischen Behörden seien dominiert von Straflosigkeit und Korruption, erklärt er. „Sie unternehmen nichts gegen diese verbrecherische Praxis, sondern scheinen sogar selbst in die Entführungen verstrickt zu sein.“

Eine Aussage, die immer wieder in Mexiko zu hören ist, wenn auch nicht öffentlich. Umso wichtiger sind Auszeichnungen wie der Gilberto-Bosques-Menschenrechtspreis, den die Französische und die Deutsche Botschaft in Mexiko im September 2013 gemeinsam an Fray Tomás verliehen haben. Diese Art von Öffentlichkeit könnte ihm das Leben retten.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2014: Früchte des Bodens
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