Nicht reif für die Revolution

Anders als in Tunesien, Ägypten und Libyen hat sich das Volk in Algerien nicht gegen seine Regierung erhoben. Dabei kommt es auch hier seit Jahren immer wieder zu örtlichen Protesten. Doch die Algerier verfolgt noch immer das Trauma des brutalen Bürgerkriegs in den 1990er Jahren. Die Polizei ist erfahren in der Eindämmung von Protesten, und die Regierung hat dank sprudelnder Öleinnahmen in die Sozialsysteme und die wirtschaftliche Entwicklung investiert. Das hat der Opposition den Wind aus den Segeln genommen.

Die Revolten in vielen arabischen Staaten sind vor dem Hintergrund zu verstehen, dass immer mehr junge Menschen auf die Arbeitsmärkte drängen, die Volkswirtschaften aber ihre Erwartungen nicht erfüllen können und die politischen Institutionen ihre Legitimität verloren haben. Die Aufstände wurden ursprünglich von steigenden Preisen für Grundnahrungsmitteln ausgelöst. Das hätte erneut zu Hungerunruhen führen und mit Massenverhaftungen im Rahmen groß angelegter politischer Repression enden können. Aber anders als in der Vergangenheit haben sich die Proteste in den meisten Staaten in eine friedliche Erhebung verwandelt (in Tunesien, Ägypten, Syrien und im Jemen) und in einen Aufstand in Libyen.

In Algerien aber gibt es entgegen aller Erwartungen keinen Aufstand. Zwar gab es hunderte Protestaktionen, aber keine hat eine Massenbewegung hervorgebracht. Die meisten Demonstrationen sind auf einen Sektor beschränkt und fordern nicht den Rücktritt von Präsident Abdelaziz Bouteflika, sondern – Lohnerhöhungen. Während man sich also fragt, wie es den Tunesiern und Ägyptern gelingen konnte, ihre Präsidenten davonzujagen, wundert man sich gleichzeitig über die Unfähigkeit der Algerier, eine friedliche Erhebung zustande zu bringen, die das Land auf die Seite jener Staaten führt, welche sich nun grundlegend ändern.

Aufstände erschüttern Algerien regelmäßig. Aber keiner hat bisher eine Dynamik entfacht, die imstande wäre, die Beschwerden und Klagen in der Gesellschaft zusammenzuführen. Zum Beispiel stieg 2004 der Preis von Butangas in Algerien von 170 auf 300 Dinar, im Januar 2005 brachen die von der Presse so genannten Gasaufstände im Verwaltungsbezirk Djelfa aus. Sie verbreiteten sich ins Zentrums des Landes sowie nach Westen. Seitdem gibt es im Süden Algeriens regelmäßig Aufstände, die von einem Gefühl der Ungerechtigkeit getragen werden: Weshalb wird das einträglichste Exportgut – Öl und Erdgas aus der östlichen Sahara – von „fremden“ Eliten (gemeint sind die aus der Hauptstadt Algier) kontrolliert, verwaltet und verteilt? Zum ersten Mal erhob damals die Bevölkerung Anspruch auf die Kontrolle der wichtigsten Ressource Algeriens und verlangte Rechenschaft über die Ausgaben der Regierung.
Und warum hat die an Energierohstoffen reichste Region Algeriens keine bessere Infrastruktur? Bedenklicherweise ist die offensichtliche Antwort für die Aufständischen: weil sie zum Berber sprechenden Bevölkerungsteil gehören. Die Stadt Berriane ist im Mai 2008 zum Symbol der Auseinandersetzungen zwischen „Arabern“ und „Berbern“ geworden: Auf den Straßen standen sich zwei Gruppen gegenüber, die überzeugt sind, dass es von der Ethnie oder Rasse abhängt, wer die Einnahmen aus dem Ölreichtum einstreicht. Laut einer offiziellen Studie waren 2006 über 177 der insgesamt 1200 Kommunen des ganzen Landes als benachteiligt anzusehen. Elf Prozent davon befinden sich im Norden (an der Küste), 53 Prozent im Hochland und 36 Prozent im Süden des Landes. In diesen Regionen liegt das Haushaltseinkommen zwischen umgerechnet 50 bis 100 Euro pro Monat.

Ausgezehrt vom Bürgerkrieg (1992-1999), hat das Volk nicht die Kraft, sich aufzulehnen. Statt einen Präsidenten zu stürzen, der für die Algerier gar nicht das Sinnbild der Macht darstellt, haben es die Arbeitnehmer vorgezogen, das Umsturzklima in der Region auszunutzen und Lohnerhöhungen auszuhandeln. Im Gegensatz zur Gewerkschaft in Tunesien, die an der Seite der Opposition das Regime von Ben Ali gestürzt hat, haben die algerischen Gewerkschaften ihre Berufsgruppen verteidigt und den Arbeitslosen so eine Möglichkeit zur Mobilisierung vorenthalten.

Zugleich muss man festhalten, dass die Regierung seit 2003 die Hälfte der Steuereinnahmen aus der Ölförderung in die Sozialsysteme gesteckt hat, um die Folgen des wirtschaftlichen Niedergangs und des Sozialabbaus während des niedrigen Ölpreises zwischen 1986 und 2001 zu lindern. Das hat Wirkung gezeigt: Die Armutsquote im gesamten Land ist von 12,1 Prozent im Jahr 2000 auf 4,9 Prozent gefallen. Gleichwohl bleibt das Dasein der Mehrheit prekär. Vier Millionen Menschen – die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung – haben keine soziale Absicherung und arbeiten im informellen Sektor, vor allem im Dienstleistungsbereich, in der Landwirtschaft und im Bauwesen. Eine halbe Million junger Leute verlässt ohne Ausbildung vorzeitig die Schule, weil sie feststellen müssen, dass die Arbeitslosenquote mit dem Bildungsniveau steigt; 17 Prozent der Arbeitslosen haben einen höheren Bildungsabschluss.

Dank des schwindelerregenden Anstiegs des Ölpreises zwischen 2002 und 2008 verfügte die Regierung 2010 über Reserven von 150 Milliarden US-Dollar. 2007 hatten die Exporteinnahmen 56 Milliarden Dollar erreicht, ein Jahr später gab es einen Rekord mit 81 Milliarden Dollar. Nie zuvor in der jüngeren Geschichte des Landes hatte der Staat derart viel Geld zur Verfügung. Das hat es erlaubt, Auslandsschulden abzutragen – sie betrugen 1998 noch gut 30 Milliarden Dollar oder 63 Prozent der Wirtschaftsleistung und 2008 nur noch 4 Milliarden Dollar oder rund 2,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Regierung konnte auch große Infrastruktur-Vorhaben angehen. Und vor allem konnte sie zumindest den Anschein jener nationalen Zusammengehörigkeit neu wecken, die im Bürgerkrieg verloren gegangen war. Das gelang nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Wirtschaftswachstums, unter dem von 1999 bis 2010 das Pro-Kopf-Einkommen von 1600 Dollar auf 4593 Dollar angestiegen und die Arbeitslosigkeit von 30 auf 14 Prozent gesunken ist.
Doch das Trauma des Bürgerkriegs verfolgt die Algerier noch immer. Aus Angst vor einem erneuten Abgleiten in die Gewalt wollen sie sich nicht an politischen Protesten beteiligen. Anders als in Tunesien und Ägypten werden junge Menschen, die demonstrieren, von ihren Eltern nicht mit Sympathie und Verständnis bedacht. Algeriens Machthaber spielen gekonnt mit der Angst der Familien vor einem Rückfall in die Gewalt. Eine zweite Besonderheit Algeriens ist, dass die Leute nicht glauben, der Rücktritt Bouteflikas würde den Beginn der Demokratie einläuten. Proteste zu Beginn der 1990er Jahre hatten erreicht, dass der damalige Präsident Chadli Bendjedid unter Hausarrest gestellt wurde. Dort ist er immer noch, aber Algerien ist nicht demokratisch geworden. Die Algerier glauben, dass der Präsident nur einen Teil der Macht besitzt und es ohne die Armee keine wirkliche Veränderung geben kann. Und die Idee, gegen die Armee zu kämpfen, vertritt seit der Niederlage der islamistischen Guerilla niemand mehr.

Schließlich ist auch die Leidenschaft für die Politik erloschen, die für Algerien bezeichnend war und das Land zwischen 1989 und 1991 zu einem Vorreiter der Demokratisierung gemacht hatte. Der Bürgerkrieg hat die politische Klasse zermalmt. Die Sieger haben ein klientelistisches System errichtet, dessen Sinn nicht darin besteht, Forderungen der Bevölkerung aufzugreifen, sondern Privilegien und Vorrechte zu sichern. Für die Algerier sind die Parteien nutzlos. Die Präsidentschaft Bouteflikas folgt der Logik einer Rückkehr des vom Schicksal auserwählten Mannes, nicht der Schaffung politischer Institutionen, die helfen könnten, Konflikte in der Gesellschaft friedlich zu lösen. Die Menschen haben das sehr wohl verstanden. Sie fordern daher nicht mehr Bouteflikas Rücktritt, sondern eine höhere Beteiligung an den Öleinnahmen.

Zu erkennen sind allerdings Sorgen über den Gesundheitszustand des Präsidenten. Er gilt als krank, geschwächt und verletzbar und scheint ein leichtes Opfer zu sein. Doch das scheint nur so – das Regime, das er repräsentiert, hat einige sehr zuverlässige Trümpfe, um einem demokratischen Tsunami standzuhalten. Zu allererst hat der Innenminister große Erfahrung im Umgang mit Demonstrationen, Aufständen und Revolten. Die Stärke der Polizei beläuft sich auf fast 200.000 Mann, die gut ausgerüstet sind und erhebliche Mittel haben. Die Macht der Generaldirektion für Staatssicherheit (DGSN) ist gewachsen, was für manche Beobachter paradoxerweise den Mord an ihrem Direktor im Februar 2010 erklärt. Unter Bouteflika rivalisiert die DGSN mit der allmächtigen Armee. In Algerien hat also, von kaum jemandem bemerkt, eine Revolution bei den Sicherheitskräften stattgefunden: Die Armee hat das Monopol auf die Zwangs- und Kontrollmittel verloren.

Gegen internationalen Druck ist Algerien – anders als Tunesien und Ägypten – dank seiner Öleinnahmen immun. Die Europäische Union erhält zehn Prozent ihres Erdgases aus Algerien. Diese Einnahmen hängen weder vom Tourismus noch von einem Suezkanal ab. Algerien bekommt auch keine Hilfe, die mit der vergleichbar wäre, die Ägyptens Armee von den USA erhält.

Angesichts dieses soliden Regimes erscheint die Opposition träge und unfähig, eine glaubwürdige Alternative anzubieten. Es ist die Frage, ob die oppositionellen Kräfte in der Lage sind, den Kampf für Demokratie zu ordnen und ihm Struktur zu geben. Sie müssten dafür eine eigenständige und vor allem für Algerien geeignete Vorgehensweise finden. Die bloße Forderung nach dem Rücktritt von Präsident Bouteflika beispielsweise wäre keine Garantie für Demokratie. Bouteflika ist es von 1990 bis 2009 gelungen, die Rückkehr zu einem geordneten Alltag zu bewirken – wenn auch nicht unbedingt die Legitimität der staatlichen Institutionen zu stärken. Sein Wille jedoch, das „eigene Werk“ über 2009 hinweg fortzuführen, ist Grund zur Sorge. Sein überwältigender Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2009 war vorhersehbar (90 Prozent der Stimmen gingen an ihn), denn seine Rivalen hatten weder den Staatsapparat hinter sich noch die Logistik einer großen Volkspartei. Bouteflika möchte die Fiktion des populären Präsidenten nach dem Vorbild von Houari Boumedienne (1965-1978) wiederbeleben. Deshalb ging es bei den Wahlen mehr um die Höhe der Wahlbeteiligung. Offiziell lag sie bei gut 74 Prozent, was Fragen nach der Glaubwürdigkeit aufgeworfen hat.
Mit seinem neuen finanziellen Spielraum lässt Bouteflika den „Boumediennismus“ neu aufleben. Doch Algeriens Wirtschaft würde von einem veritablen Erdbeben erfasst und viele Arbeitsplätze verlieren, wenn der Preis für ein Fass Öl längere Zeit – wie zuletzt Ende 2008 und in der ersten Hälfte 2009 – unter 70 US-Dollar fallen sollte (zur Zeit liegt er bei 110 Dollar). Das Land hat seit 1999 keinen Ausweg aus der Abhängigkeit von Rohstoffexporten gefunden. Zu Recht stand für Bouteflika die nationale Versöhnung nach dem Bürgerkrieg im Vordergrund. Der Präsident hat eine Politik der Amnesie verfolgt, die funktioniert hat: Das Drama des Bürgerkriegs ist tief in der kollektiven Erinnerung vergraben, und es hat sich ein stillschweigendes Übereinkommen gebildet, es nicht wieder hochkommen zu lassen. Die Angst, zur Rechenschaft gezogen zu werden, lähmt die einstigen Vorkämpfer beider Seiten. Diese Wunde ist zugewachsen, ohne dass sie desinfiziert worden wäre.

Doch das Bemühen des Präsidenten, als Retter Algeriens in die Geschichte einzugehen, überdeckt die Unfähigkeit, legitime politische Institutionen aufzubauen. Die vielen Stimmenthaltungen bei Wahlen zeigen, dass die politischen Parteien in den Augen der Wähler nicht fähig sind, die Gesellschaft zu vertreten. Sie erscheinen vielmehr als Instrumente im Dienste eines klientelistischen Systems, das ihnen einen sehr geringen Handlungsspielraum einräumt. Bei den Wahlen 2007 lag die Wahlbeteiligung offiziell bei 35,5 Prozent und war damit eine der niedrigsten seit der Unabhängigkeit 1962. Laut dem ersten Sekretär der „Front der sozialistischen Kräfte“ (FFS) Karim Tabou, der zum Wahlboykott aufgerufen hatte, gingen sogar weniger als 20 Prozent zur Wahl.
Mehr als ein dritter Einbruch des Ölpreises droht also das Fehlen demokratischer Institutionen die Unruhe wachsen zu lassen. Das Risiko ist groß, wie der Soziologe Zoubir Arous 2007 betont hat: „Es gibt keine organisierten Kräfte mehr, die in der Lage wären, friedliche Veränderungen anzuführen. Der Weg ist also frei für Wandel durch Chaos.“ Der Krieg in Libyen hat auf die algerische Bevölkerung abschreckend gewirkt, Marokko ist aber zweifellos eine Hoffnung. Die dort von König Mohammed VI. versprochenen Reformen zwingen Algerien dazu, sich zu verändern: Zwischen der demokratischen tunesischen Revolution und den konstitutionellen Reformen in Marokko kann Algerien nicht lange in trügerischer Ruhe verharren.

Aus dem Französischen von Felix Ehring.


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erschienen in Ausgabe 12 / 2011: Bodenschätze: Reiche Minen, arme Länder
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