In der Hölle hinter Gittern

Der deutsche Pastor Wolfgang Lauer hat einen harten Job: Er betreut Häftlinge in brasilianischen Gefängnissen. Er ist für sie Seelsorger und juristischer Beistand, hält Kontakt zu den Angehörigen und besorgt Kleider oder Essen. Die Ängste eines Gefangenen kennt er aus eigener Erfahrung. Dass die Menschenrechtsverletzungen in den Haftanstalten von der Politik und der Gesellschaft verdrängt werden, macht ihn zornig.

Bei Tropenhitze von über 50 Grad zusammen mit vierzig und mehr Leuten in eine für zwei bis drei Menschen vorgesehene Zelle gepfercht zu werden –das kann sich in Deutschland niemand vorstellen. In Brasilien, Lateinamerikas größter Demokratie und der siebtgrößten Wirtschaftsnation der Welt, gehört es zum Alltag. Das lässt viele Gefangene buchstäblich durchdrehen, depressiv werden – oder verrohen. Sadistische Gewalttaten, Verstümmelungen und Morde sind an der Tagesordnung. Häftlinge verbrennen 25 Mitglieder eines gegnerischen Verbrecherkommandos lebendig in deren Zelle – bei Aufständen werden abgeschlagene Köpfe vor das Anstaltsportal geworfen; die Medien zeigen es.

Autor

Klaus Hart

ist freier Journalist in São Paulo und arbeitet für verschiedene Printmedien und Rundfunksender in Deutschland und in der Schweiz.

Wer sich entschließt, in Brasilien Gefangene zu betreuen, muss aus besonderem Holz geschnitzt sein. Pastor Wolfgang Lauer aus der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover ist es. Seit mehr als zwei Jahren lebt er in der Megacity São Paulo. In seinem Zuständigkeitsbereich, zu dem auch die Nachbarteilstaaten Rio de Janeiro und Minas Gerais gehören, hat er als erster eine Gefangenenseelsorge aufgebaut. Lauer war selbst einmal im Knast, in Simbabwe – aus politischen Gründen. „Ich hatte für den Lutherischen Weltbund gearbeitet“,sagt er. „Da habe ich die Ängste eines Gefangenen kennengelernt.“

Lauer zwängt sich in die am meisten überfüllten Zellen und redet in bestialischem Gestank stundenlang mit den Häftlingen.„Die lassen dann ihre Wut raus. Die können sich nicht duschen, weil nur zweimal am Tag kurz das Wasser angestellt wird. Keine medizinische Versorgung. Da war ein junger Mann mit gebrochenem Bein, unbehandelt, blutunterlaufen, keine Ausnahme. Leute werden sehr krank und sterben, wie die Gefangenen berichten.“ Ratten und große braune Tropen-Kakerlaken, für die Notdurft oft nur Eimer, die Aids-und Tuberkuloserate weit höher als im Landesdurchschnitt– kommt Pastor Lauer, groß und kräftig gebaut, mit den Belastungen zurecht?„Manchmal halte ich es nicht aus und brauche dann auch mal Seelsorge“,räumt er ein. „Aber ich mache das hier gerne, unwichtig, ob die Gefangenen nun Lutheraner sind, Christen oder nicht.“

In Brasilien, einem der bürokratischsten Länder der Erde, kommen auch Geistliche nicht so einfach in eine Haftanstalt hinein. Doch just in São Paulo lebt auch Priester Valdir Silveira, der Leiter der katholischen Gefangenenseelsorge des Landes. „Die Pastoral Carceraria der Katholiken ist die einzige Hoffnung auf Gerechtigkeit für die Gefangenen“,sagt Lauer. Silveiras Mitarbeiter haben Lauers stetig wachsendes Freiwilligenteam ausgebildet, organisieren gemeinsame Häftlingsbesuche und Gefangenengottesdienste.

„Es wird immer noch sehr viel gefoltert“, sagt Petra Pfaller, eine Mitarbeiterin von Silveira, zur Menschenrechtslage unter der Regierung von Dilma Rousseff. Pastor Lauer hat ein Opfer betreut:„Die Polizei hat den Westafrikaner gleich auf dem internationalen Flughafen Guarulhos gefoltert. Er hatte Drogen geschluckt – sie haben ihn fertiggemacht auf unvorstellbar mittelalterliche Weise. Er hatte eine Bibel, ich habe mit ihm gebetet, ihn gesegnet. Der saß im Rollstuhl, konnte nicht einmal liegen, war überall wund, psychisch so gebrochen wie seine Beine, sein ganzer Körper.“

Eine Brücke zur Familie

Seelsorge hat angesichts der Zustände in Brasilien auch viele überraschende Seiten, weit mehr als juristischen Beistand und Gespräche über Gott. „Ich muss denen etwas zu essen kaufen, auch Kleidung besorgen, die Kontakte zu den Familien organisieren, Häftlingspost beantworten“, berichtet Lauer. „Im Hochsicherheitsgefängnis von Avaré sitzt ein Deutscher türkischer Abstammung– für den fahre ich 300 Kilometer, bin wie eine Brücke zu dessen Familie. Das ist alles sehr schwierig.“ Im Frauengefängnis von São Paulo und im Ausländergefängnis von Itai bietet Lauer zusätzlich Gruppentherapien an. Die prekäre Menschenrechtslage in den Gefängnissen wird von vielen Brasilianern verdrängt, doch auch von vielen Deutschen, selbst in der Kirche.„Da kann man nicht Klartext genug reden. Mir geht es auch um Bewusstseinsbildung.“

Als die katholische Gefangenenseelsorge 2011 an das ungesühnte Massaker vor neunzehn Jahren an weit über hundert Häftlingen des Carandiru-Gefängnisses in São Paulo erinnert, spricht Lauer beim Protestgottesdienst ein Gebet; er steht neben Priester Valdir Silveira. Der bremst sich kein bisschen vor den Kameras der größten brasilianischen TV-Anstalten: „Das Massaker von Carandiru geht weiter – an den Slumperipherien Brasiliens, mit Blutbädern auf der Straße, an den Armen. Wir müssen über die Ursachen und die Auftraggeber diskutieren. Warum diese Kriminalisierung der Armut? Gewalt wird zur Repression benutzt, gegen die Schwächsten der Gesellschaft.“

Wie bitte? Selbst der kirchliche Mainstream Europas meldet völlig anderes aus dem als „progressiv“eingestuften Tropenland. 2011 war eine Expertendelegation des UN-Ausschusses gegen Folter nicht bereit, die schlimmsten Polizeigefängnisse São Paulos zu inspizieren und traf sich lediglich mit Autoritäten.„Die UNO tat hier nicht, was sie tun müsste, unsere Kirche ist empört über diese Art von Besuchen. Sie wollten all das nicht sehen– diese überfüllten Zellen, Gewalt aller Art, fehlende medizinische Betreuung, fehlende Resozialisierung. So erhalten UNODelegationen kein reales Bild vom Gefängnissystem“, kritisiert Pastor Lauer.

Immerhin wird sein mutiges Engagement in Brasilien zunehmend wahrgenommen. Selbst die größte, relativ gemäßigte Wunderheiler-Kirche „Assembleia de Deus“ (Gottesversammlung) bittet ihn, beim Aufbau einer Gefangenenseelsorge zu helfen. Dutzende von evangelikalen Geistlichen und noch mehr Freiwillige trainiert er nun in Workshops, formuliert Programme und Projekte.

Die wirtschaftlichen Interessen nicht gefährden

Lauer erinnert an ein bilaterales Abkommen zwischen Deutschland und Brasilien zur gegenseitigen Überstellung von Verurteilten. Deutsche saßen nur einen Teil ihrer Strafe in Brasilien ab, den Rest in Deutschland – das ist gut für die Reintegration und den Kontakt zu Angehörigen. „Das gibt es nicht mehr. Deutsche Richter sagen, dass man in Deutschland verurteilte Brasilianer nicht an ein unrechtes Gerichtswesen ausliefern könne. Denn dort werden die gefoltert, das weiß ja jeder Mensch”, sagt Lauer. „Bloß – die deutsche Regierung setzt sich nicht für ihre eigenen Gefangenen ein – die dürfen dort schmoren.“

Es fällt auf, wie zuständige Regierungsstellen in Berlin und deutsche Politiker bei Besuchen in Brasilien die Menschenrechtslage übergehen. Für Pastor Lauer liegen die Gründe auf der Hand:„Die politischen und die wirtschaftlichen Interessen gehören zusammen. Man gefährdet nicht seine Beziehungen, indem man den Brasilianern den Spiegel vorhält und sagt: Ihr habt hier eine schöne Verfassung und schöne Gesetze, aber warum werden die nicht eingehalten?“

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erschienen in Ausgabe 4 / 2012: China: Alles unter Kontrolle?
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