Die Kommunistische Partei Chinas behauptet, sie habe Tibet vom Joch des Feudalismus befreit und der Region Wohlstand und Entwicklung gebracht. Barbara Demick setzt dem die anschauliche und nuancierte Schilderung von Eroberung, Unterdrückung, Austausch und Selbstbehauptung entgegen – am Beispiel einer tibetischen Stadt.
Die US-amerikanische Journalistin hat von 2007 bis 2014 das Büro der Los Angeles Times in Peking geleitet und in dieser Zeit die Stadt Ngaba am Rande des tibetischen Hochlands dreimal besucht. Frei arbeiten konnten Journalisten in der Region schon damals nicht. Deshalb sind Demicks Hauptquellen Aussagen von tibetischen Zeitzeugen, die sie im Exil in Indien besucht hat, ergänzt um die verfügbare Fachliteratur.
Der Fall Ngaba ist gut gewählt. In Tibet übten vor der Eroberung durch die Kommunisten lokale Fürsten eine mehr oder weniger lockere Herrschaft aus. Einer dieser Herrscher war in Ngaba der König der Mei. Wie Demick erzählt, suchte er sich nach 1950 mit der KPCh zu arrangieren, bis er 1958 abgesetzt und mit seiner Familie aus Tibet deportiert wurde.
Seine Tochter Gonpo, eine Hauptperson des Buches, wurde in Chinas Kernland zur überzeugten Sozialistin, sprach kaum noch Tibetisch und durfte studieren, bis sie im Laufe der Kulturrevolution (1966–1976) wieder als „schlechtes Element“ galt. Gonpos Eltern kamen aufgrund der Verfolgung um, sie selbst wurde zur Landarbeit nach Xinjiang (Nordwestchina) verschickt. Dort verliebte sie sich in einen Han-Chinesen. Die beiden heirateten, durften 1981 Xinjiang verlassen und ließen sich im ostchinesischen Nanjing nieder. Als die Tibeter ihre Religion und Kultur nach der Unterdrückung während der Kulturrevolution in Grenzen wiederbeleben durften, reiste Gonpo 1989 nach Indien, um den Dalai Lama zu treffen. Just als sie dort war, ereignete sich das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, sodass sie im Exil blieb.
Das Buch steckt voller solch abenteuerlicher Lebensläufe. Ngaba war lange Zeit ein Zentrum von Massenprotesten in Tibet und auch der Selbstverbrennungen von Mönchen – das Leben von einigen schildert Demick. Die Geschichten beleuchten auch die Rolle des Buddhismus, die kulturelle Arroganz vieler Kommunisten und die zwiespältige Lage der Tibeter zwischen der eigenen Kultur und den modernen Errungenschaften, die China bringt.
Demicks Sicht ist insofern einseitig, als unter ihren Zeitzeugen kaum Han-Chinesen sind. Ihre Sympathie gehört den tibetischen Protagonisten. Das trübt aber nicht ihren Blick. So verklärt sie nicht die alte, feudalistische tibetische Gesellschaft und macht klar, dass der Lebensstandard in Tibet seit 1980 tatsächlich gestiegen ist. Nicht wenige Exiltibeter kehren aus diesem Grund aus dem Ausland nach China zurück. Der Journalistin geht es nicht um eindeutige Urteile, sondern um Verständnis für widersprüchliche Vorgänge.
Das Buch ist lebendig erzählt, passagenweise wie ein Roman. Wenn Demick schildert, was Menschen, die schon seit Jahren tot sind, in kritischen Situationen gedacht und gefühlt haben, kann man sich allerdings fragen: Wie kann sie das wissen? Was haben ihr Zeugen berichtet, wo hat sie stark ausgeschmückt?
Die aufwendige Recherche steht aber dafür, dass sie das Wesentliche so genau schildert, wie es noch feststellbar ist. Das packende Buch ist unbedingt empfehlenswert für alle, die die Lage der tibetischen Minderheit in China verstehen wollen. Selbst wer sich nicht besonders für Tibet oder China interessiert, wird es mit Gewinn lesen – und mit Vergnügen.
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