Der italienisch-amerikanische Regisseur Jonas Carpignano blickt in seinem Drama auf eine süditalienische Kleinstadt im Griff der Mafia. Im Mittelpunkt steht der Romajunge Pio, der sich mit dem Flüchtling Aviya aus Burkina Faso anfreundet und in ein moralisches Dilemma gerät.
Pio ist 14 Jahre alt, lebt in dem Ort Ciambra in Kalabrien und kann es kaum erwarten, erwachsen zu werden. Zwar kann er nicht lesen, aber er flucht, raucht und trinkt bereits wie sein älterer Bruder Cosimo, der unter anderem mit Autodiebstählen für die örtliche Mafia zum Einkommen des Roma-Clans beiträgt. Pio folgt Cosimo auf Schritt und Tritt und lernt dabei, was er braucht, um sich in den Straßen der Siedlung und der nahen Stadt Gioia Tauro durchzuschlagen. Anders als seine rassistischen Familienangehörigen bewegt er sich aber auch souverän in den Zelten der afrikanischen Flüchtlinge und freundet sich dort mit Aviya an. Der junge Mann hortet Waren, die er in zweifelhaften Geschäften erworben hat, um sie per Container zu seiner Schwester und Tochter nach Burkina Faso zu schicken.
Bald darauf nimmt die Polizei Cosimo und den Vater der Brüder fest. Pio schwingt sich zum Familienoberhaupt auf und schafft durch Diebstähle und kleinkriminelle Deals Geld heran. Als er einen Mafiaboss bestiehlt, wird er zur Strafe aus seinem Clan verstoßen. Der inzwischen frei gelassene Cosimo stellt ihm eine Bedingung: Er darf nur zurückkehren, wenn er Aviya verrät.
Das düstere Sozialdrama hat eine ungewöhnliche Vorgeschichte. Der Regisseur Jonas Carpignano, als Sohn eines Italieners und einer Afroamerikanerin in New York geboren, zog nach den rassistischen Unruhen in der süditalienischen Stadt Rosarno im Jahr 2010 in die Region. Dort drehte er angesichts der andauernden Krawalle mit Laiendarstellern den Kurzfilm „A Chijana“, auf dem wiederum sein preisgekrönter erster Spielfilm „Mediterranea“ (2015) beruht. Die beiden Langfilme stützen sich auf Laiendarsteller und wurden an Originalschauplätzen weitgehend mit einer unruhigen Handkamera gefilmt, die nah an den Figuren bleibt und eine authentische Atmosphäre in der Tradition des italienischen Neorealismus erzeugt.
In „Pio“ allerdings durchbricht der Regisseur die sozialrealistische Tristesse mit traumähnlichen Bildfolgen, in denen der Junge seinen Großvater sieht, der in einer stilisierten Vergangenheit über weite Felder reitet. Pios Clan lebt dagegen seit Generationen in einer Art Ghetto. Ohne Aussicht auf Bildung und sozialen Aufstieg bestreiten die Roma ihr Einkommen mit Einbrüchen, Diebstählen und anderen Straftaten wie etwa dem Einschmelzen von Kupferkabeln. Auch ihren Strom zapfen sie illegal. Die lukrativsten Einnahmequellen – Drogenhandel und Prostitution – hat sich die Mafia gesichert.
In diesem trostlosen Milieu, in dem Carabinieri regelmäßig zu Razzien vorfahren, gedeihen Intoleranz und Fremdenhass. Die Clanmitglieder sehen in den mittellosen afrikanischen Flüchtlingen keineswegs Leidensgenossen, sondern beschimpfen sie als minderwertig. Pio bringt ein kleines Licht der Hoffnung in das Elend. Für ihn waren die Afrikaner immer schon da und gehören dazu, sodass er gegenüber Aviya und dessen Kameraden aus Ghana offener ist als seine Vorfahren und sich mühelos zwischen den sozialen Gruppen bewegen kann. In seiner Naivität geht Pio aber einen Schritt zu weit und muss sich zwischen der Solidarität mit dem väterlichen Freund und den Forderungen seiner Sippe entscheiden. Gerade weil Pios Verhalten in dem packenden Drama nicht bewertet wird, liefert die Geschichte dem Publikum jede Menge Denkanstöße für ein eigenes Urteil.
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