Die islamistische Sekte Boko Haram hält seit fünf Jahren mit einer zuvor nicht gekannten Gewaltorgie den Norden Nigerias in Atem. Zwei Publikationen widmen sich auf höchst unterschiedliche Weise diesem Phänomen.
Der von Abdul Raufu Mustapha herausgegebene Sammelband ist ein herausragender Wurf. Wer sich mit zeitgenössischen islamistischen Reformbewegungen in multi-religiösen und multi-ethnischen Gesellschaften auseinandersetzt, findet hier ausgezeichnete Analysen. Sie werden in größere Zusammenhänge eingeordnet, die weit über Boko Haram hinausreichen. Die Mehrdimensionalität der Ansätze – historisch, sozio-ökonomisch, politisch und sozio-kulturell – vermittelt dem Leser ein komplexes, aber in sich stimmiges Bild.
Es gelingt den fünf Autoren, die Vielfalt des Islam in Nigeria verständlich darzustellen. Sie ziehen eine stringente Linie von der Reformbewegung Usman Dan Fodios (1754 -1817) über den geistigen Brandstifter Abubakar Gumi (1922–1992) bis in die terroristisch geprägte Gegenwart und arbeiten dabei auch die Rolle des schwachen säkularen Staates heraus. Der vermochte es weder zu Kolonialzeiten noch danach, die miteinander konkurrierenden islamischen Bewegungen hinreichend in das jeweilige politische System zu integrieren.
So erzeugten insbesondere die mit harten Bandagen geführten theologischen und politischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden großen Sufi-Orden Tijaniya-Ibrahimiya und Qadiriya-Nasiriya sowie das Aufkommen salafistischer Gruppierungen wie Yan Izala als Antwort auf die gescheiterte Modernisierung Nordnigerias regelmäßig Krisen und Konflikte, die das Land nachhaltig prägen. Die Wurzeln dieser Gegensätze liegen bereits in der ersten Reformbewegung Usman Dan Fodios begründet, die im Dschihad und dann im Kalifat von Sokoto münden, wie Murray Last in seinem Beitrag belegt. Seine Analysen, wie islamische Bewegungen entstehen und sich entwickeln, liefern zentrale Erkenntnisse über fatale Wirkungsketten: wenn Ausgrenzung, basierend auf einem absoluten Wahrheitsanspruch, zum Programm entartet und theologisch begründete Gewaltorgien und Kontrollverlust hervorbringt.
Der Band räumt außerdem mit dem Mythos auf, Koranschulen seien das Rekrutierungsfeld für Boko Haram. Darüber hinaus werden erfolgversprechende Strategien diskutiert, wie die Bewegung zerschlagen werden könnte. Nötig sei, so Herausgeber Mustapha, eine radikale, für die Moderne kompatible islamische Gegendoktrin zu formulieren und durchzusetzen, deren Kern Glaubwürdigkeit und Legitimität spiegelt. Sie müsse aus der Mitte einer aufgeklärten muslimischen Gesellschaft kommen, um eine Wiederkehr extremistischer Gruppen zu verhindern.
Das gerade auf Deutsch erschienene Buch von Mike Smith hingegen verspricht im Titel viel und hält wenig. Dem Autor, der mehrere Jahre für die französische Nachrichtenagentur AFP aus Nigeria berichtete, gelingt es nicht, im Rahmen der islamischen Geschichte des Landes zumindest ansatzweise hinter die Fassaden von Boko Haram zu blicken. Ihm fehlt das nötige Rüstzeug, die angegebenen guten Quellen zur Geschichte des Islam seit dem Dschihad Usman Dan Fodios richtig zu lesen, einzuordnen und zu interpretieren. Smith vermag es leider auch nicht, den Zugang zu seinen kompetenten Gesprächspartnern und sein Netz von Informanten sinnvoll zu nutzen, um ein klareres Bild des Islamismus, Salafismus und Terrorismus in Nordnigeria zu zeichnen.
Der umfangreiche Text, der auch sprachlich zu wünschen übrig lässt, ergeht sich in einer schier endlosen Aneinanderreihung von Ereignissen, zumeist Terroranschlägen, wobei Ort, Zeit und Opferzahlen recht präzise beschrieben werden. Darüber hinaus füllt Smith den Text mit einer Vielzahl von Auszügen aus Briefen und Dokumenten unterschiedlicher Akteure, darunter der erste britische Generalgouverneur von Nordnigeria, Frederick Lugard (1858-1945). All dies trägt jedoch nicht zum besseren Verständnis der grundlegenden Problematik bei: dass Fragmentierung, Ausgrenzung und politische Instrumentalisierung von Religion irgendwann unweigerlich in Gewalt und im Extremfall in Terrorismus münden.
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