Atomstrom – mit aller Macht

Indien
Indien setzt auf Kernkraft: Neue Meiler sollen die Energie­versorgung des Landes sichern. Kritik an diesem Kurs wird von der Regierung rabiat unterdrückt. Und westliche Atom­kon­zerne wittern das große Geschäft.

Strom ist in Indien knapp. Immer wieder fällt er aus – wegen Engpässen in der Versorgung und weil das Leitungsnetz marode ist. In vielen ländlichen Regionen und Kleinstädten gibt es Strom nur zu bestimmten Tageszeiten. Vierzig Prozent der indischen Bevölkerung sind nicht ans Stromnetz angeschlossen. Gleichzeitig wächst der Energiebedarf dramatisch, vor allem bei der am westlichen Konsummodell orientierten Mittelschicht, etwa 200 bis 300 Millionen der 1,2 Milliarden Inder.

Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts will die Regierung die Energieproduktion vervierfachen – und die Kernkraft soll dabei eine wichtige Rolle spielen: Bis 2032 sollen nach Regierungsangaben 63.000 Megawatt, bis 2050 sogar 250.000 Megawatt Atomstrom ins indische Netz gespeist werden – mehr als der gesamte Strom, der heute in Indien produziert wird. Derzeit stammen 5000 Megawatt aus Atomkraftwerken, rund drei Prozent der gesamten Stromproduktion.

Der Traum von der zivilen Atomenergie in Indien ist schon viele Jahrzehnte alt. Schon bald nach der Unabhängigkeit wurden die Weichen dafür gestellt. „Im unabhängigen Indien umrankte die Nuklearwissenschaft ein glorreicher Mythos, ihr wurde viel Respekt entgegengebracht“, erklärt Kumar Sundaram, einer der Koordinatoren der indischen Anti-AKW-Bewegung. Indien träumte den Traum von einer postkolonialen Gesellschaft, die sich im Namen der Entwicklung neue Technologien nutzbar macht. „Das führte zu einer Bewunderung für alles, was als wissenschaftlich daher kam und in der westlichen Welt anerkannt war“, sagt Sundaram.

Heute wird die Atomenergie auch als Beitrag zum Klimaschutz gepriesen. So unterstützt das Institut für Energieressourcen TERI in Neu-Delhi den Bau neuer Kraftwerke. Dessen Leiter, Rajendra Pachauri, ist der Vorsitzende des Weltklimarates IPCC und berät den indischen Premierminister in Klimafragen. Bei der Regierung ist dafür Prodipto Gosh zuständig, der zuvor schon für zahlreiche UN-Organisationen, die Weltbank und die Internationale Atomaufsichtsbehörde gearbeitet hat. „Wir müssen hin zu erneuerbaren Energien und Atomstrom“, sagt Gosh, „denn mittlerweile ist klar, dass die Nutzung fossiler Treibstoffe wegen ihrer umweltschädlichen Wirkung begrenzt ist.“

Autor

Dominik Müller

ist freier Journalist.
Die Risiken der Kernkraft redet Gosh klein. „Das sind Auffassungen aus Deutschland und dem alten Europa, die von den Unfällen in Tschernobyl, Harrisburg und Fukushima herrühren“, erklärt der einflussreiche Wissenschaftler. Die Erfahrungen mit der zivilen Atomkraft seit den 1950er Jahren seien doch „insgesamt von Erfolg geprägt“. Wenn man die seitdem generierten Milliarden Megawattstunden zu den Risiken, etwa der Zahl der Unfälle, ins Verhältnis setze, komme die Nuklearenergie besser weg als jede konventionelle Form der Energieerzeugung.

Heute produzieren 20 indische Reaktoren Atomstrom, sieben weitere sind geplant oder befinden sich im Bau. Es handelt sich fast ausschließlich um Schwerwasserreaktoren, die natürliches Uran ohne aufwendige Anreicherungsverfahren als Brennstoff nutzen können. Außerdem wird derzeit ein Brutreaktor errichtet, der mit Hilfe von Thorium Strom herstellen kann. Da Indien selbst nur kleine Uranvorkommen, aber die weltweit größten Thorium-Vorräte hat, will die indische Atombehörde diese Technologie ausbauen.

Die Atomwirtschaft in Indien ist alles andere als ein „offenes Buch“

Indiens Premierminister Manmohan Singh  gibt sich von der Sicherheit des indischen Atomprogramms überzeugt. „Nach Fukushima habe ich eine Prüfung aller Reaktoren angeordnet, und die Ergebnisse können alle auf der Internetseite unseres Atomkonzerns NPCIL nachlesen“, beteuerte Singh im vergangenen Jahr im indischen Unterhaus. „Unsere Sicherheitsmaßnahmen sind ein offenes Buch.“

A. Gopalakrishnan sieht das ganz anders. Dabei gehört auch er zum „nuklearen Establishment“ in Indien: Ende der 1960er Jahre promovierte er in Berkeley, Kalifornien, über Kernenergietechnik und arbeitete anschließend für mehrere US-amerikanische Nuklearinstitute und die US-Atomenergiekommission. Nach seiner Rückkehr wurde er Direktor der indischen Atomregulierungsbehörde. Gopalakrishnan berichtet von schweren Unfällen, die sich in indischen Atomkraftwerken ereignet haben, unter anderem in Narora, das nur 130 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Neu-Delhi liegt. Beinahe wäre es dort 1993 zur Kernschmelze gekommen. „Dann hätten mehrere Zehntausend Menschen evakuiert werden müssen“, sagt Gopalakrishnan. Es gebe zwar entsprechende Pläne, aber „bei dem Zustand unserer Straßen und Eisenbahnen wäre das auch heute noch ein schwieriges Unterfangen“.

Das war nicht der einzige, wohl aber der bisher gefährlichste Unfall in einem indischen Atomkraftwerk. Greenpeace zählt 16 Unfälle auf, bei denen schweres Wasser in die Umwelt gelangte oder es zu Bränden kam und Arbeiter verseucht wurden. Die Umweltorganisation geht zudem von einer großen Dunkelziffer aus.

Denn die Atomwirtschaft in Indien ist alles andere als ein „offenes Buch“, wie der indische Premierminister behauptet. Sie unterliegt größter Geheimhaltung. Und wer Probleme mit dem indischen Atomprogramm aufdeckt, schadet seiner Karriere. Kein Wunder, dass Gopalakrishnan als Vorsitzender der Atomaufsichtsbehörde 1996 keine zweite Amtszeit zugebilligt bekam wie seine Vorgänger. Zu beharrlich hatte er darauf bestanden, die Sicherheitsmängel in indischen Atomanlagen zu beheben und die Studien dazu öffentlich zu machen. Bis heute habe sich an der undurchsichtigen Verwaltungsstruktur der staatlichen Atomwirtschaft nichts geändert, sagt der Atomfachmann.

Als Meilenstein für den Ausbau des indischen Atomprogramms gilt die Unterzeichnung des Nuklearabkommens 2005 zwischen den USA und Indien. Bis dahin war die Lieferung von spaltbarem Material an Indien tabu, weil das Land die Atombombe besitzt und sich bis heute weigert, den Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen. Doch Washington wollte Indien an den Westen binden und neue Absatzmärkte für Atomtechnologie erschließen. Indien wollte seine Energieversorgung ausbauen und endlich anerkannter Partner im Club der Atommächte werden. 

Gopalakrishnan jedoch sieht die indische Öffentlichkeit betrogen. Denn das Nuklearabkommen mit den USA sollte Indien auch Zugang zu einer eigenen Atomindustrie verschaffen – mit Hilfe westlicher Technologien, mit denen allerdings auch kernwaffenfähiges Plutonium produziert werden könnte. Singh habe dem indischen Parlament versprochen, dass nach dem Deal mit den USA die Beschränkungen für den Bau moderner Wiederaufbereitungs- und Anreicherungsanlagen aufgehoben würden. Aber genau das wird nicht passieren. 2011 verabschiedete die Nuclear Suppliers Group (NSG), die Gruppe der Kernmaterial-Lieferländer, ein neues Regelwerk, das den Export dieser Technologien an Länder verbietet, die keine Mitglieder der Gruppe sind.

Das Gelände, auf dem das größte Akw der Welt stehen soll, ist erdbebengefährdet

Trotzdem drängten westliche Konzerne Indien schamlos, ihre Reaktoren zu kaufen, sagt Gopalakrish­nan und nennt den französischen Staatskonzern Areva sowie Westinghouse und General Electric aus den USA. „Sie setzen ihre Hoffnung auf eine freundliche Regierung in Neu-Delhi und auf den indischen Markt.“ Die in der NSG zusammengeschlossenen Lieferländer kalkulierten wie folgt, erklärt Gopalakrishnan: „Wenn wir Indien die Wiederaufbereitungs- und Anreicherungstechnologien verweigern, sind sie auf uns angewiesen. Wir verkaufen ihnen unsere Leichtwasserreaktoren, die  nur mit angereicherten Brennelementen funktionieren. Für deren gesamte Laufzeit muss Indien also die Kernbrennstoffe von diesen Konzernen kaufen.“ Das sind konstante Milliardeneinnahmen über einen Zeitraum von 60 Jahren.
  
Das größte Atomkraftwerk der Welt soll in Jaitapur an der Küste im Bundesstaat Maharashtra entstehen, zwischen dem Urlaubsparadies Goa und der Megametropole Mumbai. Der französische Atomkonzern Areva will hier für den indischen Staatskonzern NPCIL sechs Leichtwasserreaktoren mit einer Leistung von insgesamt 10.000 Megawatt bauen. Das Gelände ist erdbebengefährdet; 1993 kamen bei einem Erdbeben der Stärke 6,3 rund 9000 Menschen ums Leben.

In der Teebude am Dorfplatz von Nate, dem größten Ort in der Nachbarschaft des geplanten Kraftwerks, hängen Anschläge, auf denen in der Regionalsprache Marathi und mit abschreckenden Bildern von mutierten Säuglingen die schlimmsten Auswirkungen der Atomstrahlung dokumentiert sind. Der Wirt trägt ein gelbes T-Shirt, auf dem Rücken das Warnzeichen für Radioaktivität, eingearbeitet eine geballte Faust. Auf der Vorderseite steht auf Englisch: „Nie mehr Tschernobyl, nie mehr Fukushima – gebt Jaitapur auf.“

Das Dorf lebt vom Fischfang. 400 Fischerboote fahren jeden Tag raus auf See. Die Folgen, die der Betrieb des Atomkraftwerkes für die Lebensgrundlage der Einwohner haben wird, blieben in der Umweltverträglichkeitsprüfung unberücksichtigt. „Sie werden ungeheuer viel Meereswasser brauchen, um die Reaktoren zu kühlen“, sagt Amjad Borkar, Präsident der Fischervereinigung in Nate: nach Medienangaben täglich 52 Milliarden Liter. Anschließend, um fünf bis zehn Grad wärmer, soll es wieder zurück ins Meer geleitet werden. Das Atomkraftwerk im nahen Jaitapur würde das Ende der Fischerei in Nate einläuten. Greenpeace weist auf weitere Lücken in dem Prüfbericht hin: Es gebe keinen Plan zur Stilllegung der Reaktoren, der Umgang mit dem Atommüll sei nicht geklärt, es gebe keine Angaben zur Radioaktivität, die beim Normalbetrieb oder bei einem Unfall austreten kann.

Die Ereignisse des 18. April 2011 bildeten bisher den traurigen Höhepunkt im Konflikt zwischen dem indischen Staat und den Atomkraftgegnern in Nate. Nachdem die Polizei beim Versuch, eine Anti-AKW-Demonstration zu verhindern, massenweise Demonstranten festgenommen hatte, kam es zu Auseinandersetzungen. Dorfbewohner wurden durch Schüsse teils schwer verletzt, darunter viele Jugendliche. Der 27-jährige Tabrez Sayekar wurde von drei Polizeikugeln getötet.

Die Konflikte haben zur Gründung der „ersten grünen Partei Indiens“ geführt

Auch Vaishali Patil aus einem Nachbardistrikt hat die staatliche Repression erlebt. Sie ist eine prominente Sprecherin der Bewegung gegen das Atomkraftwerk in Jaitapur und steht deshalb immer wieder unter Hausarrest und Polizeibeobachtung. „Tag und Nacht saßen die Leute vor dem Fernseher und sahen sich die Katastrophe von Fukushima an“, beschreibt Patil die Entstehung der Anti-AKW-Bewegung in Jaitapur. „Sie dachten, jetzt werde die Regierung ihr Atomprogramm überdenken, sie schrieben ein Memorandum, sammelten viele Tausend Unterschriften und übergaben sie dem Premierminister.“ Aber passiert ist nichts: „Die Regierung will dieses Atomkraftwerk mit allen Mitteln bauen“, sagt Patil.

Indien bezeichnet sich gerne als die größte Demokratie der Welt. Aber gerade beim Thema Atomkraft lässt der indische Staat alle demokratischen Spielregeln außer Acht: Patil wurde eingesperrt, zusammen mit mehr als 100 Wissenschaftlern, Schriftstellern, Richtern und einem Admiral. Sie alle befanden sich im April 2011 auf einem friedlichen Protestmarsch nach Jaitapur.

Behörden erklären ganze Regionen zum Sperrgebiet, die nur noch von Anwohnern betreten werden dürfen – nicht nur in Jaitapur, sondern auch in Koodankulam im Bundesstaat Tamil Nadu, wo die Reaktoren des russischen Atomkonzerns Rosatom trotz langjährigen Widerstands Mitte Juli ans Netz gegangen sind. Prominente Atomkraftgegner werden überwacht und abgehört. Mehr als 50.000 Atomkraftgegner sind wegen angeblich „aufrührerischer Aktivitäten“ angeklagt, für die in Indien lebenslange Haftstrafen verhängt werden können.

Trotz alledem hat die deutsche Regierung im Februar 2013 ihre „grundsätzliche Bereitschaft“ signalisiert, einen Antrag von Areva auf eine Exportkreditgarantie zu prüfen. Sollte Berlin den Antrag bewilligen, erhält der Atomkonzern, der in seinen deutschen Niederlassungen mehrere Tausend Menschen beschäftigt, eine mit Steuergeld gedeckte Bürgschaft für das Jaitapur-Projekt.

Patil, die einmal von einer gedungenen Schlägerbande angegriffen wurde, macht dennoch weiter. Notfalls zieht sich die hinduistisch erzogene Mittvierzigerin eine muslimische Burka an, um unerkannt nach Jaitapur zu kommen. Besonderen Mut machen ihr die 2300 Bauern aus Jaitapur. „Es ist das erste Mal in der Geschichte Indiens, dass mehr als 90 Prozent der Bauern, die zwangsenteignet sind, die Kompensationszahlungen verweigern. Das Geld liegt seit mehr als sieben Jahren in den Tresoren der Regierung.“ Die Konflikte um industrielle Großprojekte sowie Atomreaktoren haben auch eine neue Partei hervorgebracht: die Aam Aadmi Partei, die aus Teilen der Anti-Korruptionsbewegung hervorgegangen ist. Sie nennt sich die „erste grüne Partei Indiens“. 

Permalink

Auf dem Blog indien.antiatom.net gibt es aktuelle Informationen zu den Anti-Atomkraft-Bewegungen in Indien. Vom 20. bis 23.Februar 2014 ist ein indischer Aktivist in Deutschland unterwegs. Wendland, Frankfurt am Main und Ludwigsburg bei Stuttgart sind seine Stationen. Genaueres auf dem genannten Blog.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2013: Solidarität: Was Menschen verbindet
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