Die verlorenen Söhne

Kolumbien
Indigene Guerilleros sollen in den nächsten Monaten in ihre Dörfer im Süden Kolumbiens zurückkehren. Mit offenen Armen werden sie dort nicht empfangen.

Hernán Fajardo sieht aus, wie man sich einen Kaziken vorstellt. Er ist groß, stark, stattlich. Das volle graue Haar hat er nach hinten gekämmt. Über seiner westlichen Arbeitskleidung trägt er eine knielange schwarze Kutte, auf seiner Brust liegt eine Kette aus den Zähnen wilder Tiere. Wer sich mit ihm an seinen groben Holztisch setzt, erfährt, was es bedeutet, wenn Geschichte nicht schriftlich, sondern mündlich weitergegeben wird. Man braucht Zeit. Fajardo erzählt gern; weitschweifig und gespickt mit Details, die bisweilen so fantastisch anmuten, dass man nicht weiß, ob man ihm glauben soll. Er gibt gerne zu, dass er mit seinen 59 Jahren „nur mit Mühe den Namen schreiben“ und allenfalls „sehr langsam lesen“ kann. Und doch ist er der höchste Kazike in einem mehr als 300.000 Hektar großen Schutzgebiet, in dem 9000 Indigenas leben. Eine Schule gibt es nicht.

Hernán Fajardo gehört zum Volk der Awá und außer dieser wohnen noch sechs weitere Ethnien im „Resguardo de Orígen Colonial Gran Jardín de la Sierra“, dem Schutzgebiet „Großer Garten des Gebirges“. Dessen Rechtstitel geht auf die Kolonialzeit zurück und garantiert den dort lebenden indigenen Völkern die politische und wirtschaftliche Kontrolle über das Gebiet. Es liegt im Süden Kolumbiens, in der Provinz Putumayo an der Grenze zu Ecuador. „Die Spanier haben uns 1806 Unabhängigkeit zugestanden“, erzählt der Kazike. „Und die gilt bis ans Ende der Welt, so steht es wörtlich in dem noch erhaltenen Dokument.“ Respektiert wurde das lange nicht. Unterstützt von Menschenrechtsanwälten habe er einen dreißig Jahre währenden Rechtsstreit ausgetragen, bis das Schutzgebiet 2006 staatlich anerkannt wurde, sagt Fajardo. Seither ist er die höchste Autorität, Friedensrichter und zuständig für die Verteilung kollektiver Landtitel an die verschiedenen Ethnien.

Der Kazike traut ihnen nicht über den Weg

Zu seiner Arbeit gehören lange Fußmärsche, die manchmal auch gefährlich sind. Ein paar hundert Meter hinter seinem Haus und den Schafställen beginnen die mit Urwald bestandenen Berge. Ganz hinten im Schutzgebiet, in 2000 Metern Höhe, lebe ein Volk, das fast nackt durch den Dschungel streife und sein Territorium mit Speeren und giftigen Pfeilen gegen Eindringlinge verteidige. Er könne nur gemeinsam mit einem jungen Mann dorthin, der im Stammesgebiet geboren und später weggezogen sei und die spanische Sprache leidlich beherrsche. Der diene ihm als Dolmetscher. Einmal sei ihm dort zum Mittagessen ein über dem Feuer gebratener menschlicher Arm angeboten worden.

Fajardos größte Sorge sind derzeit andere Krieger: Ehemalige Kämpfer der Guerilla der „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens“ (Farc), die nach dem Friedensschluss im vergangenen Jahr in den nächsten Monaten demobilisiert werden und in ihre Heimatgemeinden zurückkehren sollen. Die Provinz Putumayo galt während des gesamten Bürgerkrieges als sogenannte „rote Zone“ – als Gebiet mit ständiger Guerilla-Präsenz und häufigen Gefechten. Rund siebzig Prozent der Guerilleros in Putumayo waren Indigene. Sie haben in den vergangenen Jahren, viele sogar in den letzten Jahrzehnten, kein anderes als das Kriegshandwerk ausgeübt. Fajardo wäre es am liebsten, sie kämen nicht zurück. Er traut ihnen nicht, hält es für möglich, dass sie sich weiterhin mit Waffengewalt das nehmen, was sie zum Leben brauchen. „Aber wenn sie kommen, müssen wir sie aufnehmen“, sagt er. „Sie sind Kinder unserer Völker.“

In seinem Schutzgebiet leben bereits ein paar ehemalige Guerilleros. Pablo Maya zum Beispiel, ein schmaler, jugendlich wirkender Mann mit schwarzen Stoppelhaaren und freundlichem Blick. Der 36-Jährige ist Awá wie der Kazike. Sechzehn Jahre lang war er bei der Farc und kämpfte in der Nachbarprovinz Nariño. 2010 ist er desertiert, hat aber den Idealen der Guerilla bis heute nicht abgeschworen. „Die Farc war eine politisch-militärische Organisation“, sagt er. „Das Militärische ging mir irgendwann gegen den Strich, politisch aber denke ich immer noch wie sie.“

Der Umgang der Guerilla mit der Zivilbevölkerung sei ihm mehr und mehr zuwider gewesen: dass sie Leute, die verdächtigt wurden, die rechten Paramilitärs zu unterstützen, einfach erschoss. „Wenn man die Macht übernehmen will, braucht man die Mehrheit der Bevölkerung auf seiner Seite“, sagt Pablo Maya. „Mit Waffengewalt erntet man immer nur Ablehnung.“ Eines Nachts sei er schließlich heimlich aus dem Guerillalager geflohen. Sein Gewehr habe er zurückgelassen. Trotzdem gilt Maya seinen ehemaligen Genossen seither als Verräter. Und im Krieg wurden Verräter erschossen.

Manche Heimkehrer waren 40 Jahre lang weg

Seit gut sechs Jahren lebt Maya mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn im Schutzgebiet in einer Hütte auf einem Stück Land, das er geerbt hat. Strom gibt es dort nicht, Wasser nur aus einem entfernten Brunnen. Trotzdem ist Maya zufrieden. „Für mich war die Rückkehr ins zivile Leben verhältnismäßig einfach“, sagt er. Die Nachbarn kannten seine Geschichte nicht, er fühlte sich sicher. Und er hat Land, das er bebauen kann. „Viele von denen, die in den nächsten Monaten zurückkommen werden, sind als Jugendliche gegangen. Manche waren dreißig oder vierzig Jahre weg“, erklärt er. „Die haben nicht einmal einen Platz, auf den sie eine Matratze legen könnten. “

Maya will ihnen helfen. Er gehört zu einer Gruppe ehemaliger indigener Farc-Kämpfer, die sich zum Ziel gesetzt haben, den demobilisierten Guerilleros die Rückkehr in ihre Heimatgemeinden zu erleichtern. Denn ihm ist klar: Viele Dorfälteste heißen die ehemaligen Kämpfer ganz und gar nicht willkommen. Eine Haltung wie die des Kaziken Fajardo sei da fast noch verständnisvoll. Das mag damit zusammenhängen, dass Fajardo weiß, warum sich so viele junge Indígenas den Rebellen angeschlossen haben. In dem von ihm verwalteten Schutzgebiet gibt es vor allem zwei Gründe, sich gegen den Staat, die Armee und die mit ihnen verbandelten Paramilitärs aufzulehnen: Erdöl und Koka.

Das Öl hat die Fische getötet

„Erdöl wird hier seit sechzig Jahren gefördert“, sagt Fajardo. Der staatliche Energiekonzern Ecopetrol habe sich das Land um die Ölquellen einfach genommen, mitten im indigenen Schutzgebiet und ohne zu fragen, ob die dort lebenden Völker einverstanden sind. „Ich habe dagegen vor dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof geklagt und vor eineinhalb Jahren Recht bekommen“, sagt Fajardo. Ecopetrol hat kein Recht, hier nach Öl zu bohren. „Konsequenzen hat das Urteil bis heute nicht.“

Der Schotterweg, der vom Städtchen Orito über Hügel und durch Täler zu seinem Haus führt, wird auf der ganzen Strecke von Pipelines begleitet. Wo sie herkommen, sieht man nicht. Die Ölquellen liegen, umzäunt und von Wachleuten geschützt, im Dschungel versteckt. Viele Pipelines rosten, zum Teil sind sie in waghalsigen Konstruktionen über Bäche hinweg oder direkt an Häusern vorbei gebaut. Für die Guerilla waren diese Leitungen ein leichtes Ziel für Sabotageakte – das gehörte zu ihrer Kriegsstrategie. Dass dabei Öl in die Flüsse gelangte und die Fische getötet hat, nahm die Farc billigend in Kauf. „Die Fischerei lohnt sich heute nicht mehr“, sagt Fajardo, und auch das Jagen sei beschwerlich geworden. Die ständigen Helikopterflüge von Ecopetrol hätten das Wild immer tiefer in den Dschungel getrieben. Er hat deshalb begonnen, Schafe zu züchten.

Der zweite wichtige Rohstoff, den es neben Erdöl in Putumayo gibt, ist illegal: Kokasträucher, aus deren Blättern Kokain gewonnen wird. Die Pflanzungen, meist nur wenige Hektar groß, liegen versteckt im Dschungel. Für viele der indigenen Kleinbauern sind Koka-Blätter die wichtigste Einnahmequelle. Ein Hektar bringt umgerechnet rund 1200 Euro Gewinn im Jahr, viel mehr als Mais oder Bananen. Zudem wird die Ernte von den Kokainmafias abgeholt. Früher hat die Farc die Kokabauern besteuert. Und die Paramilitärs waren stets darauf erpicht, die Kontrolle über die Gegend und damit über die Plantagen zu übernehmen. Sie gingen sehr brutal vor. „Wenn die Paramilitärs in ein Dorf kamen, haben sie oft Dutzende von Menschen umgebracht,“ erzählt der Kazike. Und wenn danach die Farc vorbeizog, „hielten sie die Überlebenden für Unterstützer der Paramilitärs“. Die indigenen Völker seien immer zwischen den Fronten zerrieben worden.

Pablo Maya kennt diese Geschichte und versteht die Vorbehalte gegenüber Rückkehrern aus der Guerilla. Er warnt davor, dass die Integration ehemaliger Kämpfer misslingt. „Wenn meine ehemaligen Genossen keine Arbeit und kein stabiles Umfeld finden, werden viele auf das zurückgreifen, was sie können: mit der Waffe in der Hand überleben.“ Er befürchtet, dass frustrierte frühere Guerilleros sich zu neuen Banden zusammenschließen. Manche könnten sogar zu ihren ehemaligen Todfeinden, den Paramilitärs, überlaufen. „Hunger tötet jede Ideologie“, sagt Maya.

Bei Ungehorsam droht die Hirschlederpeitsche

Um es nicht so weit kommen zu lassen, wollen Maya und seine Gruppe, zu der Vertreter aller in Putumayo lebenden indigenen Ethnien gehören, den Demobilisierten bei der Integration helfen. Sie besuchen Kaziken und Dorfälteste, rufen Familienangehörige von ehemaligen Kämpfern zu Gesprächsgruppen zusammen, um sie auf die Rückkehr vorzubereiten. „Wir wissen, wo die Probleme liegen“, sagt er. „Wir haben das alles selbst mitgemacht.“ Schon allein das Schlafen in einem geschlossenen Haus könne nach Jahren im Dschungelcamp Ängste auslösen.

Den ehemaligen Guerilleros müsse man deutlich machen, dass sie sich in ihren alten Gemeinschaften erst einmal bewähren müssten. In den sechs Monaten im Demobilisierungscamp müssten sie vor allem lernen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Tatsächlich sollen in diesen Lagern handwerkliche Ausbildungskurse angeboten werden, für Schreiner etwa oder Automechaniker.

Autor

Toni Keppeler

ist freier Journalist und berichtet für mehrere deutschsprachige Zeitungen und Magazine aus Lateinamerika.
Der Kazike Fajardo will Rückkehrer unter die ständige Beobachtung der Dorfältesten stellen. „Wir werden sie an die ganz kurze Leine nehmen“, sagt er. „Sie müssen sich an unsere Regeln halten.“ Und wenn sie sich etwas zu Schulden kommen lassen, habe man die eigene Gerichtsbarkeit. Er holt eine sechsschwänzige Hirschlederpeitsche von ihrem Platz an der Wand, nimmt sie in die rechte Hand und schlägt sich sanft auf die Fläche der linken. Bei schlimmen Vergehen peitsche man einen Delinquenten jedoch nicht nur aus, sagt er. Man binde ihn für ein paar Tage weit draußen im Dschungel an einen Baum und lasse ihn allein. „Nachts werden sie dann von Geistern gequält, man hört sie schreien.“ Und wenn kein Angehöriger oder Freund ihnen Wasser bringe, würden sie verdursten.

Er erzählt das mit freundlicher Miene. Er weiß, dass er Besucher mit solchen Geschichten erschrecken kann, und genießt das ein bisschen. „Aber die westliche Gerichtsbarkeit mit ihren Gefängnissen ist für uns noch viel schlimmer“, sagt er. Er hofft, dass er die Peitsche nicht von der Wand holen muss. „Wenn die Rückkehrer arbeiten, sind sie willkommen. Wenn sie nur essen wollen, brauchen wir sie nicht.“

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Wie ist es möglich, solchen Schwachsinn zu schreiben? Fajardo ist überhaupt kein Cacique. Er ist ein Betrüger der schlimmsten Art, der Boden für persönlichen Gewinn verkauft, der nicht einmal ihm gehört. Und dann begann er mit der Entwilderung.
Wir – die Ranger der Nationalparks, die Eigentümer des Landes und die Indianer – haben gemeinsam rechtliche Schritte eingeleitet. Schließlich wurde er verhaftet.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2017: Indigene Völker: Eingeboren und ausgegrenzt
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